von Johannes Horak

Es war spät geworden in dieser Nacht. Es hatte viel zu besprechen gegeben, obwohl alle einer Meinung waren. Er wüde wohl gleich bis morgen am Institut bleiben, aber zuvor wollte er noch einen Spaziergang machen, einfach um den Kopf etwas frei zu bekommen, und vielleicht sogar an etwas anderes denken zu können.

Bald schon hatte er zwischen sich und das Hauptgebäude einen Hügel gebracht. Von hier aus schlug er einen Weg zwischen zwei Feldern ein, den er bei Tag oft zurücklegte. Die Nacht heute war mondlos, und alles Licht kam von den Sternen. Es überzog die Landschaft mit einem silbrigen Schleier, und unter ihm, so schien es, waren tiefschwarze Schatten zum Leben erwacht. Als die Felder endeten, ging er noch ein Stück die Baumgruppe zu seiner Linken entlang, bis das Gelände leicht abschüssig wurde, und sich anstatt kultivierter Felder ungebändigtes Gras vor ihm befand.

Er blickte in den Himmel. Unzählige Sterne über ihm, jeder für sich einzigartig. Wie klein doch alles wurde beim Anblick dieser Unendlichkeit. Wie bedeutungslos Dinge wurden, die seinen Herzschlag sonst so erbarmungslos in die Höhe schnellen ließen.

“Sieben Minuten vor Mitternacht”, dachte er.

Der kühle Wind einer warmen Sommernacht spielte mit seinem Haar, und ein Geruch von Regen lag in der Luft obwohl nirgends am Himmelszelt eine Wolke zu sehen war. Vorsichtig setzte er sich, mit jeder Faser seines Körpers darauf
bedacht, nur ja kein Geräusch zu verursachen. Er genoss das sanfte Rascheln des Grases, als der Wind darüber strich, und das leise Plätschern eines Baches der hier irgendwo in der Nähe vorbeifloss.

Er brauchte eigentlich nichts anderes zu tun als zu warten. Die Welt würde ihren Lauf nehmen, unwichtig was er tat, oder wie er sich entschied. Seine Erfahrung schien ihm dies für die letzten Jahre zu bestätigen. Er wünschte sich, dass dem nicht so wäre, aber wer hörte schon gern auf warnende Worte? Er selbst war keine Ausnahme. Zumindest in seinen jungen Jahren hatte er selten ein offenes Ohr für derlei Dinge gehabt.

Aber heute war es anders.

Eine alte Idee war wieder in Mode gekommen. Brot und Spiele. Wer will schon von Problemen hören wenn doch das Leben scheinbar so unbeschwert gelebt werden kann. Andere sind da, um sie zu lösen, sich den Kopf darüber zu zerbrechen. Ja, die Verantwortung immer schön weiterschieben, nur nicht selbst für etwas Rechenschaft schuldig sein. Man war fast versucht zu glauben, alles drehte sich im Kreis. Alle hundert Jahre kommen wir am selben Punkt an. Danach geloben wir Besserung und starten in die nächste Runde.

Wenn er so darüber nachdachte, schien ihm wirklich alles hoffnungslos.

Nein, wenn dem so wäre, dann wäre ihr Projekt hinfällig, und das durfte nicht passieren. Wenn dann war jetzt der beste Zeitpunkt überhaupt, um aus diesem Zyklus von Aufschwung und Niedergang auszubrechen.

“Sieben Minuten vor Mitternacht…”, ging es ihm erneut durch den Kopf.

Lang schien es her zu sein. Aber jetzt wäre selbst dies eine bessere Uhrzeit. Wenn er nur daran dachte, wie schnell es so spät geworden war. Von einem Augenblick auf den anderen, so schien es ihm. Vor fünfzehn, vielleicht zwanzig Jahren hatte keiner seiner Kollegen geglaubt, dass sie je in diese Situation kommen würden, und doch war es so weit. Die Entscheidung, die sie zu treffen hatten, war im Prinzip schon gefallen, aber das schwierige war, damit an die Öffentlichkeit zu treten. Sie konnten nur hoffen, dass dadurch viele wachgerüttelt wurden, dass endlich etwas geschah, das dem Irsinn der im Gange war Einhalt gebot.

Aber Brot und Spiele hatten ihre Wirkung getan.

Er lächelte. Es galt zum Teil ihm selbst, zum Teil der Welt im Allgemeinen. Wenn er erstmal anfing nur mehr das Schlechte zu sehen, gab es nicht mehr viel, das das Leben schön machte. Wie schnell man doch in einem Strudel voll Selbstmitleid versank, und begann mit allem und jedem zu hadern.

Ein Geräusch ließ ihn aus seinen Gedanken aufschrecken. Er hatte gar nicht gehört, dass sie näher gekommen war, und nun saß sie bereits neben ihm.

“Denkst du auch darüber nach?”, fragte sie ihn sanft. Ihm entging nicht die Melancholie, die in ihrer wohltönenden Stimme mitschwang.

Es war kaum mehr als ein Flüstern, als er antwortete: “So wie jeder von uns, nehme ich an.”

Sie blieb stumm neben ihm sitzen. Als ein kühler Wind aufkam, zog sie ihre Beine an ihren Oberkörper heran, und schlang ihre Arme darum. Mit auf den Knien abgestützten Kopf starrte sie ihn wortlos an.

Eine Zeit lang saßen sie so da und schwiegen sich gegenseitig an. Die Blätter der Laubbäume raschelten und alles wirkte friedlich. Nichts störte in diesem Moment die Harmonie, alles war in Einklang miteinander. Er strich mit seiner Hand über das kühle Gras, fühlte die feuchte Erde aus der es erwuchs. Viel zu selten hatte er sich bisher Zeit für so einfache Dinge genommen.

“Wusstest du, dass es mit sieben vor Zwölf begann?”, hörte er sie leise vor sich hin sagen, mehr Feststellung denn Frage.

“Sie dachten damals schon sie stünden knapp davor, und heute überlegen wir, ob wir nicht besser einen Sekundenzeiger einführen sollten.”

Unwillkürlich musste er lächeln. Es war einfach so viel Wahrheit in ihren Worten, und der darin versteckte Sarkasmus brachte seine Gedanken genau auf den Punkt.

“Man gewöhnt sich an alles”, entgegnete er knapp.

Es kam ihm in den Sinn, dass sein Tonfall etwas schärfer gewesen war als beabsichtigt. Aber er versuchte nicht, sich zu korrigieren, sie würde es verstehen. Sie alle waren gereizt und verwirrt. Kein Wunder bei den Nachrichten, die sie zu
überbringen hatten. Und irgendwie konnte er es immer noch nicht fassen. War es wirklich so spät geworden?

Mehr zu sich selbst als zu ihm gewandt fuhr sie fort: “Vielleicht liegt es auch am Namen. Klingt doch reichlich plump und antiquiert.”

“Der Name sollte nicht wichtig sein, wenn dahinter die Wahrscheinlichkeit eines Atomkrieges steckt.”

Sie nickte nur.

Keiner brauchte dem anderen etwas zu erklären, beide waren sich dessen bewusst. Aber trotzdem darüber zu sprechen, bewahrte sie davor, über die Zukunft nachzudenken.

“Ein seltsames Gefühl…”, dachte er. “Plötzlich vor etwas Angst zu haben, das uns bisher noch nie bekümmert hat.”

Aber im selben Moment wurde ihm bewusst, dass sein Gedanke nicht richtig war. Kaum jemand lebte, ohne sich vor dem nächsten Tag zu sorgen. Der Unterschied nun aber war, dass die Angst, die er jetzt verspürte, weit über alltägliche Sorgen hinaus ging. Es fiel ihm sogar schwer, sich vorzustellen, wie groß das Ausmaß der Bedrohung tatsächlich war.

Er räusperte sich und begann zu sprechen: “Auch wenn ‘Weltuntergangsuhr’ nicht sehr klangvoll ist, die Botschaft, die sie
bringt, ist eine schreckliche.” Und nach einer kurzen Pause stellte er schließlich die Frage, deren Antwort sie beide kannten, bisher aber unausgesprochen gelassen hatten: “Wir werden sie auf eine Minute vor Zwölf stellen, oder?”

“Falls es nicht schon zu spät ist”, antwortete sie.

Noch ein Mal blickte er in den Nachthimmel. Morgen würde die Welt von ihrem Gremium, bestehend aus Wissenschaftlern, erfahren, wie nahe die Menschheit am Abgrund stand. So nah wie nie zuvor seit der Einführung der Uhr.

Kaum jemand wusste, mit welcher Zeit die Uhr begonnen hatte, und noch weniger wussten, dass sie vor zwanzig Jahren noch siebzehn vor Zwölf angezeigt hatte. Aber jedem war klar, zu welcher Zeit ihre Aufgabe enden würde.


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