von Astrid Hoff

Es war wie auf den meisten Sylvesterpartys: Viele Leute, wenig Platz und eine gestresste Gastgeberin – in diesem Fall meine Freundin Sabrina -, die von einer Begrüßung zur nächsten rannte. Ich saß allein auf einer Couch und wünschte mir, ich wäre Zuhause geblieben.

„Anna?”

Desinteressiert wandte ich mich der Stimme zu, die mich angesprochen hatte. Schon wieder jemand, der mich mit seiner nervenden Anwesenheit in den Wahnsinn treiben wollte? Doch als ich die Person sah, die zu der Stimme gehörte, riss ich überrascht die Augen auf. „Michael?” – Zu sagen, ich wäre überrascht gewesen, ihn zu sehen, wäre untertrieben gewesen. Michael und ich hatten vergangenen Sommer an derselben Schule Abitur gemacht. Aber dass er Sabrina kennen sollte, war mir neu.

„Carsten ist mein Bruder”, erklärte Michael, als hätte er meine Gedanken gelesen hatte, und lächelte. Mir ging ein Licht auf. Carsten war Sabrinas neuer Freund. Seit Wochen schon schwärmte sie mir von ihm die Ohren voll. Doch selbst wenn Michael sich uneingeladen auf diese Party geschlichen hätte: Ich musste zugeben, dass ich mich freute, ihn zu sehen.

„Und, was machst du so?”, fragte Michael die Standardfrage und setzte sich zu mir.

„Ich studiere Medizin”, antwortete ich und versuchte mich stolz anzuhören. Es gelang nicht ganz.

„Wow”, kam es trotzdem bewundernd von Michael. „Ich hab in der Schreinerei meines Vaters als Praktikant angefangen.”

„Echt?”, fragte ich ehrlich überrascht. Michael und ich hatten in der Schule im Latein-Leistungkurs nebeneinander gesessen und soweit ich wusste hatte er immer von einer Karriere als Rechtsanwalt geträumt.

Michael lächelte, doch es wirkte irgendwie gezwungen. „Hab meine Pläne eben geändert.” Damit stand er auf und mischte sich wieder unter die Gäste.

Erst nach dem Feuerwerk um Mitternacht fand ich Michael wieder. Ich hatte ihm seinen seltsamen Abgang verziehen, vielleicht auch, weil ich mich einfach nach ein bisschen netter Gesellschaft sehnte. Er saß auf derselben Couch, auf der er mich das erste Mal gefunden hatte und schien, genau wie ich, nicht mehr ganz nüchtern zu sein.

„Anna”, rief er, als er mich sah. „Weißt du, was für ein Glück du hast?”

Ich verstand nicht, was er meinte.

„Du darfst studieren”, klärte er mich auf. „Deine Eltern unterstützen dich. Du wirst einmal in deinem Traumjob arbeiten. Während ich…” Er stockte, griff nach seinem Sektglas und trank einen Schluck. „Während ich mein Leben lang Handwerker sein werde.”

„Was hast du gegen Handwerker?”, fragte ich, auf einmal gereizt. „Nur weil man nicht so viel verdient? Ich für meinen Teil wurde zehnmal lieber als Automechanikerin auf Sparflamme leben, als so ein spießiges Medizinstudium zu machen!” Auf meine Explosion hin folgte ein Moment der Stille. Schließlich stellte Michael eine Frage. Die Frage, die ich mir schon tausendmal gestellt hatte.

„Warum machst du dann keine Ausbildung?”

Ich zuckte mit den Achseln. „Warum studierst du nicht, wenn du Handwerker sein so  hasst?”

Michael lachte bitter auf. „Wie denn? Um Jura zu studieren ist mein Abi nicht gut genug, außerdem habe ich kein Geld. Und meine Eltern würden ausrasten”, fügte er hinzu.

Wir sahen uns an und mussten plötzlich lachen.

„Was für eine Ironie”, meinte ich glucksend. „Du musst Schreiner werden und meine Eltern wollen mich unbedingt zur Ärztin machen. Und wir lassen uns das gefallen.”

„Ja, warum eigentlich?”, fragte Michael, von einer Sekunde auf die andere wieder ernst. „Ich sag dir was.” Mit feierlicher Miene nahm er zwei Gläser Sekt und reichte mir eins davon. „Wir schließen einen Pakt: Heute in einem Jahr treffen wir uns wieder. Hier, bei Sabrinas Party. Und bis dahin haben wir beide das Leben, das wir uns wünschen.”

Ich starrte ihn an, doch ich hatte durch den Alkohol Probleme, meinen Blick zu fokussieren. „Einverstanden.”

Dann stießen wir an und tranken.

Ich schmiss mein Studium nicht hin und ich ging auch nicht zu Sabrinas Silvester-Party im nächsten Jahr.

Stattdessen lebte ich mein Leben so, wie es geplant gewesen war. Und je mehr Zeit verging, desto stolzer war ich auf mich selbst, die richtige, weil vernünftigere Entscheidung getroffen zu haben.

Es dauerte sieben Jahre, bis ich Michael wieder sah. Irgendwie hatte sich das Studium für mich noch zäher gestaltet als erwartet und ich studierte immer noch. Immerhin hatte ich endlich das letzte Semester erreicht.

Michael und ich trafen uns zufällig auf der Straße, einfach so. Er lud mich auf einen Kaffee ein und wir plauderten über dies und das, nur nicht über jene Sylvesternacht vor sieben Jahren. Wir waren schon dabei, uns zu verabschieden, da platze es aus Michael heraus: „Ich hab Jura studiert, Anna!”

Ich starrte ihn an und hoffte, mich verhört zu haben. „Was?”, flüsterte ich verwirrt.

„Ja, damals nach der Party, weißt du nicht mehr? Ich hab bei meinem Vater aufgehört und erstmal Zivildienst gemacht und noch zwei Wartesemester eingeschoben. Und dann wurde ich an der Uni zugelassen! Jetzt hab ich mein erstes Staatsexamen hinter mir und hab grade als Referendar angefangen! Bald bin ich Anwalt!”

„Und deine Eltern?”, stammelte ich. Es fühlte sich an, als versuchte mein Magen, meine Speiseröhre hochzusteigen.

„Die haben mich erstmal rausgeschmissen, in der Hoffnung, dass ich wieder zu Vernunft kommen würde”, lachte er. „Aber schließlich haben sie sich damit abgefunden. Mein Vater hat sich einen neuen Praktikant gesucht und heute erzählt er bei jeder Gelegenheit, dass sein Sohn Anwalt wird.”

Ich dachte an all die KFZ-Bücher und Automagazine, die bei mir zu Hause rum lagen. An das Interesse und die Sehnsucht, die ich spürte wann immer irgendwo das Thema Autos aufkam. Und die Lustlosigkeit, die ich empfand, wenn ich ein Medizinfachbuch in die Hand nehmen musste. Warum hatte ich mich sieben Jahre selbst betrogen, anstatt meinen Mut zusammen zu nehmen und den Sprung ins kalte Wasser zu wagen? Wäre es wirklich schlimmer gewesen, als wenig angesehene Automechanikerin mit niedrigem Einkommen zu leben, als ein Fach zu studieren und später auszuüben, welches mich anwiderte?

Es war an diesem Tag, dass mir klar wurde, wie falsch ich all die Jahre gelegen hatte. Dass es nicht Vernunft gewesen war, die mich das Studium hatte weiterführen lassen. Die mich, im Gegensatz zu Michael, davon abgehalten hatte, mein Leben zu leben. Sondern Feigheit.


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