Von Jamie Müller-Obier

Wer bist du, dass du berechtigt bist zu hören? Wer bist du, dass du sehen darfst? Wer bist du, dass du mich ansehen darfst? Du, mit deinem Blick, der Bände spricht, und deinen Händen, die du gegen die Sonne hältst, damit du mich mit kaltem und doch faszinierendem Blick betrachten kannst; mein Bild gefangen auf deiner Netzhaut, gefroren in deinem Geist.

Du, der du nur schaust und deinen Kopf dabei so weit neigst, dass sich dir ein neuer Betrachtungswinkel bietet. Vor deinen Augen bin ich schutzlos, nackt und unbeholfen.

„Du bist mein“, hörst du aus dem Mund deines Betrachters. Doch du kannst nichts darauf erwidern. Deine Lippen bleiben verschlossen, deine Augen halten sich an der Schwerelose fest, die du erfunden hast, um nicht in den unendlichen Raum der Tiefe abzurutschen.

Du möchtest etwas, sagen – eines von den sieben Dingen, die du nur einmal über deine Lippen bringen möchtest. Du bewegst sie, doch es kommt kein Ton.

Dein Gegenüber säuselt ein paar beruhigende Töne, als hättest du etwas gesagt was dich aufregt und fährt mit seinem Finger langsam nach oben und legt ihn dir auf deine Lippen, die immer noch leicht geöffnet sind.

Eines von den sieben Dingen ist ganz bestimmt, dass er so verharren sollte. Du wünschst dir nichts sehnlicher als einen Eiskristall den du gefrieren und tauen könntest, wann immer es dir lieb ist. Deine Gedanken versuchen das Gefühl des Fingers auf deinen Lippen in den Eiskristall zu gefrieren, doch wie jedes Mal sank der Finger wieder ab.

Alles was blieb bist du, mit leicht geöffnetem Mund und Augen die sehnsuchtsvoll versuchen, deinen Beobachter zu erhaschen.
Sieben Eiskristalle wünschst du dir, für jedes der Dinge, die du gerne sagen würdest.

Du bist gefangen in dir selbst und ein stummer Schrei ist alles was dir bleibt. Doch er versiegt in der Erde, bevor ihn jemand zur Kenntnis nehmen kann.

Dein Betrachter lässt immer noch nicht von dir ab. Er fixiert dich und nagelt dich mit seinen stahlblauen Augen in der Luft fest.

„Bist du mein?“

Du schaust auf den Boden, leicht beschämt und doch verzückt. Im Rausch der Worte, im Rausch der sieben Dinge, die dir auf den Lippen liegen und doch niemand der kommt und sie dir nimmt. Der zweite Eiskristall der Sieben rinnt dir als Träne über deine Wange. Doch niemand kommt und wischt sie weg. Augen, die nicht verstehen und dich trotzdem so durchdringend ansehen, schauen weiter auf dich herab. Der Schmerz, den dir keiner nimmt. Niemand der dich erlöst. Du, in deiner tintengefärbten Welt, wer bist du?

Dein Betrachter macht einen leisen Schritt auf dich zu – der Aufprall seines Fußes lässt dein Inneres erzittern. Alle Geräusche klar und rein, so klar, dass du Angst bekommst.

Sie kriecht vom Dielenboden an dein Bein und zieht sich zu dir hoch bis zu deinem Hals. Du merkst wie es dir eng wird, doch auszubrechen ist unmöglich. Du legst dir deine Gedanken zurecht. Deine Augen sprechen zu deinem Gegenüber. Es ist der dritte Kristall – er soll dich festhalten und nie mehr loslassen. Nur einmal das Gefühl. Das Gefühl von Wärme und Geborgenheit. Du frierst.

Augen, die das nicht wahrnehmen. Augen, die auf deine Lippen fixiert sind, auf deine Augen. Vielleicht auch auf deine Haare. Du weißt es nicht, kannst es nicht wissen. Der bittersüße Duft von Unverständnis und Gefangenschaft, der sich in deiner Nase breit macht, ätzend wie Säure. Der vierte Eiskristall, der Geruch dieses Unverständnisses, zum Tauen, damit jeder riechen könnte, was du riechst. Jeder hat das Recht auf deine Empfindungen, auch die, die dir den Atem lähmen.

Dein Betrachter, wie ein Künstler dein Portrait festhaltend, ohne Zeit und Raum. In die Luft gepinselt und doch nicht zum Verkauf bereit, weil die Farbe nie trocknet.

Deine Kehle ist rau, du schluckst. Er sieht dich an. Deine Augen füllen sich mit Tränen. Tränen, die dir nicht zustehen, die du nicht weinen darfst.

Das Vierte der Dinge, die du sagen möchtest – wende deinen Blick niemals ab von mir. Steh mir bei. Gib mir Halt. Lass nicht zu, dass der Eiskristall zerschmettert, nur weil du dich von mir abgewandt hast. Weil dein Blick mich nicht mehr hält und dein leiser Atem nicht mehr für mich singt.

Du senkst den Blick. Dein Betrachter hebt mit einer sanften Handbewegung dein Kinn wieder in die für ihn bestimmte Position, in der du ihm gefällst.

„Schau mich an, du bist doch mein?“

Dein Kinn ruht auf seiner Hand, mit den Fingern über deine Wangen streichend.

Der fünfte Kristall. Deine Augen flehen zu deinem Betrachter. Gib mir Odem, gib mir etwas von deinem Lebenssaft. Gib mir Freude, Glück und Hoffnung. Niemals war dein Atem weniger für mich als eine gute Mahlzeit, etwas das mich ernährte, wenn ich nicht gewillt war zu essen.

Dein Betrachter nimmt dich mit leichter Hand an den Schultern, wiegt dich hin und her. Die Kraft in der Ruhe des Sinns. Du verfällst der Melancholie deines periodischen Schwungs. Deine Gedanken singen über das Sechste der Dinge, die du deinem Betrachter gern sagen würdest.

Tanz mit mir. Nimm meine Hand und raube mir die Sinne. Lass mich leicht wie eine Elfe über das nasse Gras tanzen, aber folge mir und lass mich nicht allein.

„Du bist mein, nicht wahr?“

Dein Betrachter legt seine Hand an deinen Hinterkopf und legt wieder seinen Finger auf deinen Lippen ab. Sein Blick, unbestechlich und voll Feuer. Er hat alles von dir, alles besitzt er, doch nur deine Stimme nicht, die niemand hörte außer vielleicht du selbst, vielleicht in deiner Phantasie.

Er küsst dich auf deine Lippen. „Sag es, sag, dass du mein bist!“

Du brichst unter seinen sanften Händen zusammen, zu sanft um dich zu halten. Der siebte Eiskristall zerbricht in tausend Teile. Du badest im Fluss der ewigen Tränen. Das Siebte der Dinge, die du sagen wolltest, begräbt nun alle anderen. Du liegst am Boden und versucht die Splitter der Kristalle aufzulesen, aber was bleibt sind bloß zerrüttete Eindrücke und gebrochene Gefühle.

Du hattest nie das Vorrecht, die Macht der Stimme zu gebrauchen. Niemals konntest du deine Zuneigung durch Worte ausdrücken.

Deine Lippen bewegen sich, man hätte lesen können wie du sagst, ich bin dein; bevor du dich hinlegtest, um zu dem zu werden was deine Stimme war.


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