von Christina Rokoss

Sie lag in der Dunkelheit und lauschte den Geräuschen der Nacht. Auf ihrer Wange konnte sie klebriges Blut fühlen, das längst getrocknet war. Es war ein unangenehmes Gefühl, doch sie wagte es nicht, es wegzuwischen. Ihre Beine waren steif vor Kälte und vor Schmerzen. Wie lange hatte sie schon so hier gelegen? Sie wollte sich anders hinsetzen, wollte, dass sich ihr Körper etwas von dieser verkrampften Stellung erholen konnte, doch sie wagte es nicht sich zu bewegen. Sie hatte keine Ahnung wo er war. Was wenn er ganz in ihrer Nähe war und sie hörte? Dann würde er sie finden und sie wollte sich nicht ausmalen, was dann passieren würde. Ihre Gedanken rasten. Wenn sie ihn doch bloß hören würde. Eine Zeit lang hatte sie ihn draußen gehört, wie er ihren Namen gerufen hatte. Doch dann war es auf einmal totenstill geworden. Ob er gegangen war? Sie wagte es kaum zu hoffen, doch sie wagte es auch nicht, nachzusehen. Vermutlich war es ein Trick. Er wollte sie in Sicherheit wiegen, damit sie ihr Versteck aufgab und hinauskam. Doch den Gefallen würde sie ihm nicht tun. Sie würde hier noch eine ganze zeitlang ausharren können. Auch wenn es unangenehm war. Auch wenn ihr Mund ganz trocken war und sie liebend gerne zum Wasserhahn gegangen wäre, um einen Schluck zu trinken. Überhaupt, der Gedanke darin aufzustehen und zu gehen. Ein wenig hin und her zu laufen, die Beine wieder in Schwung zu bekommen. Doch sie durfte sich nicht dazu hinreißen lassen. Sie musste bis zum Morgen durchhalten. Mindestens bis zum Morgen. Er durfte sie nur nicht vorher finden. Das war alles. Sie musste sich ruhig verhalten und hoffen, dass er sie nicht fand. Und bald, wenn es hell wäre, würde sie vielleicht auch ein geeigneteres Versteck finden können. Einen Ort an dem er sie ganz sicher nicht fand. Ein beruhigender Gedanke. Sie durfte nur nicht den Mut verlieren.

 

„Wow, Thorben, es ist echt toll hier,” rief Marie und sah sich in der kleinen Anlage um. Es war unglaublich. Seine Tante, die er nicht einmal besonders gut kannte, hatte ihm diese kleine Anlage vermacht. Und das, wo er gerade einmal Mitte 20 war. Ein kleiner Bungalowpark, nicht einmal eine Autostunde von Stuttgart entfernt. Direkt an einem kleinen See gelegen, ein idealer Ort, wo sich die Stadtmenschen am Wochenende hin zurückziehen konnten. Man konnte hier angeln, schwimmen gehen, Wanderungen machen und die Kinder liebten es, im Wald zu spielen und auf die Bäume zu klettern. Zehn Bungalows zählte der kleine Park, und eine große Hütte, die als Restaurant diente. Schließlich sollte man sich hier erholen, also war Vollverpflegung inklusive. So jedenfalls sah Thorbens Plan aus. Er wollte den kleinen Park, der jetzt seit mehreren Jahren ungenutzt geblieben war, bis zum nächsten Sommer renovieren und wieder aufleben lassen. Für zehn Bungalows ließen sich gewiss leicht Feriengäste finden und er würde auch sicher jemanden finden, dem er das Kochen anvertrauen könnte. Doch erst einmal mussten die Hütten renoviert werden. „Nein,” korrigierte sich Thorben in Gedanken, „erst einmal wird hier jetzt ein bisschen gefeiert.” Er hatte seine Freunde übers Wochenende eingeladen. Es war Mitte August und noch sehr sommerliches Wetter. Sie würden entweder in ihren Schlafsäcken draußen schlafen, oder wer wollte konnte auch in einen der offen stehenden Bungalows gehen und dort die Nacht verbringen. Verpflegung hatten sie genug dabei und eine kleine Erholung konnten sie alle gut gebrauchen. Keiner seiner Freunde war über den Sommer weg gewesen, sie alle hatten gearbeitet und kaum Freizeit gehabt. Warum also nicht ein schönes Wochenende hier am See verbringen? Isabel hatte sich ihrer Sandalen entledigt und war gemeinsam mit Michael zum Wasser gegangen. „Das ist ja richtig warm,” sagte sie begeistert und nun streckte auch Michael vorsichtig einen Fuß ins Wasser. Thorben lächelte. In Gedanken sah er bereits die Kinder hier schreiend und begeistert hin und herlaufen. Er sah wie sie im Wasser spielten, während ihre Mütter sich in der Sonne bräunten und ihre Väter zusammen saßen und gemütlich rauchten. Die älteren Kinder spielten Fußball und wenn es einmal nicht heiß genug war um ins Wasser zu gehen, gingen sie in den Wald, bauten Baumhäuser und spielten Indianer. Sie konnten einen Staudamm bauen und… Sein Gedankengang wurde unterbrochen, da Carina ihn rief. „Sag mal,” empörte sie sich, „hörst du überhaupt nicht zu? Ich wollte wissen, wohin wir das ganze Gepäck bringen sollen.” Während alle anderen sich mittlerweile unten am See befanden, standen Carina und ihr Bruder Karsten neben den beiden Autos und hielten jeder eine große Kiste. „Ähm, die Vorräte bringen wir am besten hier in die große Hütte,” sagte Thorben schnell und nahm seinerseits einen wesentlich kleineren Korb in die Hand.

Carina warf einen Blick zu ihrem Bruder, der genau wie sie relativ unschlüssig am Wagen stand und das Geschehen am See beobachtete. Sie selber hatte zwar einen Badeanzug dabei und hätte jetzt nichts lieber getan als sich ins Wasser zu stürzen, aber sie zögerte. Zwar machte sie selber auch immer Witze über ihre Figur, die eben nicht Model-Größe war, aber mit den beiden schlanken Mädels ins Wasser zu gehen, war eben doch noch etwas anderes. Zumal sie gerade erst aus Berlin nach Stuttgart gezogen war, und den Freundeskreis ihres Bruders noch nicht besonders gut kannte. Sie zuckte mit den Schultern und griff sich ihre Tasche. Im Laufe des Wochenendes würde sie garantiert genau wie die anderen unbefangen ins Wasser springen. Musste ja nicht gleich das erste sein was sie tat. Nachdem sie sich auch Isabels und Maries Tasche geschnappt hatte, die erstaunlicherweise beide sehr viel schwerer waren als ihre eigene – war sie nicht diejenige, die im Zelthandel einkaufte? – , machte sie sich auf den Weg zu den Bungalows. Sie wollte den Bungalow ausfindig machen, der am vertrauenserweckendsten aussah. Sprich denjenigen, in dem die wenigsten Käfer und Spinnen wohnten, denn sonst würde Marie vermutlich die Nacht im Auto verbringen wollen.

Sie musste sich beruhigen. Wenn sie weiter so zitterte, würde er sie hören. Konnte man Zittern überhaupt hören oder machte sie sich nur selber verrückt? Solange sie nicht anfing mit den Zähnen zu klappern oder so stark anfing zu zittern, dass sie irgendwo gegen knallte, war es doch egal. Oder nicht? Sie musste sich mit irgendetwas ablenken, aber es ging nicht. Sie konnte an nichts anderes denken, außer… Gequält schloss sie die Augen, als wenn so die Bilder, die sie verfolgten, aus ihrem Kopf verschwinden würden.

 

So schlimm, wie Thorben gesagt hatte, war es hier gar nicht. Natürlich, er würde einiges an Renovierungsarbeiten zu erledigen haben, aber so wie er es beschrieben hatte, hatte Marie sich komplett verfallene Hütten vorgestellt, aber die Hütten und die Einrichtung waren in gutem Zustand. Einige der Möbelstücke würden nur gestrichen werden müssen, bevor sie wieder wie neu aussahen. Nachdem sie mit einem alten Lappen den Staub aus dem Schrank gewischt hatte, der sich im Laufe der Jahre unvermeidbar ansammelte, hatte sie sogar ihre Kleidung hineingelegt. Sie hasste es aus dem Koffer zu leben. Auch wenn sie wegen einer Tagung bloß eine Nacht in einem Hotel verbrachte, sie packte immer ihren Koffer aus. Ein Blick in das Badezimmer verriet ihr, dass die Sanitäranlagen tatsächlich zu nichts zu gebrauchen waren. Aber das machte nichts, sie würden ohnehin im See baden, und um ihre Kosmetiksachen abzustellen, war das Waschbecken immer noch gut genug. Den Spiegel brauchte sie bloß einmal überzuwischen und schon würde sie sich sehen können. Alles kein Problem. Gut genug, dachte sie, und ging zurück in das Schlafzimmer, in dem Isabel immer noch auf dem Bett rumhüpfte um den Staub aus der Matratze zu bekommen. Besonders erfolgreich waren ihre Bemühungen nicht, aber sie hatten ja auch extra jede Menge Decken mitgebracht, die man auf die Matratze drauflegen konnte. „Hey Mädels!” Oliver stand vor dem Fenster und winkte ihnen fröhlich zu. Marie, die sich gerade hatte umziehen wollen, zuckte erschrocken zusammen. „Was gibt’s?” wollte sie ungeduldig wissen. „Wir gehen mal ein bisschen Feuerholz sammeln, für ein Lagerfeuer,” erklärte er feierlich. „Das ihr dann mit einem Feuerzeug anzündet oder wie?” grinste Isabel, woraufhin Olli sie leicht beleidigt ansah und dann ging.

Sie saßen an dem Lagefeuer, das die Jungs zunächst ganz feierlich ohne Feuerzeug oder Streichhölzer zum Brennen hatten bringen wollen. Doch letzten Endes hatten sie doch zu den Streichhölzern gegriffen. Im Grunde genommen war das Feuer sowieso komplett unnötig gewesen, aber Marie, Isabel und Carina hatten den Jungs den Spaß nicht nehmen wollen. Sie hatten für den Abend jede Menge Salate gemacht und außerdem Kuchen dabei. Und eigentlich war es viel zu heiß, um auch noch Feuer zu machen, aber die Jungs hatten erklärt, dass sie schließlich ihr Brot rösten wollten, was sie nun auch taten. Während sie dem Brot zusahen, das langsam seine Farbe veränderte, unterhielten sie sich über alle möglichen Dinge. Sebastian hatte das Radio in seinem Auto voll aufgedreht, sodass sie nun von Musik beschallt wurden, während sie genüsslich den Nudelsalat mit dem gerösteten Brot aßen. „Gehen wir gleich noch eine Runde schwimmen?” fragte Michael und sah die anderen an. Sie hatten, abgesehen von Karsten, der ein Buch gelesen hatte, den ganzen Nachmittag damit verbracht im See Wasserball zu spielen und die Haare von den Frauen tropften immer noch, aber wer wusste auch schon, wann sie wieder die Gelegenheit haben würden ins Wasser zu springen? „Ja, aber natürlich, dumme Frage,” entgegnete Isabel daher lächelnd, doch Karsten warf ein: „Ich würde aber gerne auch später noch eine kleine Nachtwanderung machen. Das ist bestimmt lustig hier im Wald.” „Au ja,” die Jungs waren natürlich gleich Feuer und Flamme für diesen Vorschlag, während Marie eher weniger begeistert aussah. Doch natürlich würde auch sie mitkommen. Besser mit den anderen, die wenigstens Taschenlampen dabei hatten, durch den Wald laufen, als hier alleine zu warten. Sie würden vermutlich ohnehin schnell den Spaß verlieren und bald zurückkehren, – das hoffte sie auf jeden Fall. Langsam griff sie nach ihrer Bierflasche und trank sie aus. Auch die anderen schienen mit dem Essen fertig zu sein, denn sie begannen, das Plastikgeschirr in einen großen Müllsack zu räumen und das übrig gebliebene Essen in den großen Bungalow zu bringen. Als sie wieder raus kamen, wollte Marie schon ihr Kleid ausziehen, unter dem sie einen Bikini trug, wurde aber von Thorben zurückgehalten. „Marie, nach dem Essen darf man mindestens eine halbe Stunde lang nicht ins Wasser,” belehrte er sie. „Jaja, und unter Alkoholeinfluss auch nicht und blablabla,” entgegnete Michael, der an diesem Abend schon einiges getrunken hatte, schnappte sich Isabel und rannte mit ihr in Richtung Wasser. Im ersten Augenblick dachte Marie noch, doch er machte ernst und warf sich mit der angezogenen Isabel ins Wasser. Erstaunlicherweise schien diese es ihm kein bisschen übel zu nehmen, denn als sie wieder auftauchte, lachte sie und bespritzte Michael mit Wasser. Schnell entledigte Marie sich jetzt ihrerseits ihres Kleides, um mit den anderen zusammen ebenfalls in den See zu springen. Nur Karsten und Thorben blieben am Ufer zurück.

Thorben blickte sich um. Vor seinem inneren Auge sah er alles genau vor sich. Die frischgestrichenen Bungalows, die Hängematten, die er am Waldrand zwischen den Bäumen aufbauen würde, ein Volleyballnetz, ein Sandkasten für die ganz kleinen Kinder. Seine im Wasser spielenden Freunde wurden zu fremden Urlaubsgästen, die in seiner Vision Wasserball spielten und Karstens Anwesenheit nahm er gar nicht mehr wahr. Es würde alles so schön werden und er konnte es kaum abwarten mit den genauen Planungen zu beginnen. Natürlich würde er eine Hypothek aufnehmen müssen, aber auch das spielte keine Rolle. Er würde den besten Architekten der Stadt aussuchen, sich unzählige Vorschläge anhören, bevor er sich für den besten entschied. Und dann bereits im nächsten Sommer würden sich die Menschen darum reißen, hier ihren Urlaub zu verbringen. Vielleicht würde er sogar noch ein paar Bungalows mehr bauen lassen, aber nicht zu viele, schließlich sollten sie hier die Ruhe finden, die sie in ihrem Alltag vermissten. Thorben merkte vor lauter Ideen gar nicht, wie es langsam dunkler wurde und auch nicht, wie das Feuer langsam erlosch. In seinen Gedanken war es immer noch helllichter Tag und ein Kind kam gerade weinend aus dem Wasser, weil sein Ball von einer Windböe fortgeblasen worden war. Er selber gab dem Kind ein Eis und es beruhigte sich schnell wieder. Zufrieden lächelte und warf einen Blick zu dem Kind, das vor seinem inneren Auge gerade mit seinem Vater einen Drachen steigen ließ.

Sie waren aus dem Wasser gekommen, hatten sich abgetrocknet und trockene Klamotten angezogen. Thorben saß immer noch verträumt an der mittlerweile schon komplett erloschenen Feuerstelle. Karsten, der daneben saß, sah irgendwie gelangweilt und missmutig aus. Es war Vollmond, sodass man auch ohne Lampen gut sehen konnte. Trotzdem hatten die Jungs ihre Taschenlampen geholt, was sich als gute Idee herausstellte. Denn kaum hatten sie Thorben aus seinen Gedanken gerissen und waren alle gemeinsam ein Stück in den Wald hineingegangen, umfing sie schwarze, dunkle Nacht. Nur ein paar Meter im Wald hinein, war es bereits so dunkel, dass man die Hand vor Augen nicht sehen konnte. Die Baumkronen bildeten eine Wand gegen das Mondlicht und die Jungs stellten schnell und stolz ihre Taschenlampen an. Marie fühlte sich unwohl. Sie hasste Dunkelheit, und dann noch Dunkelheit in einem Wald. Vielleicht hätte sie doch besser im Bungalow bleiben sollen, um dort auf die anderen zu warten. „Wohin genau wollen wir denn jetzt gehen?” fragte sie und stellte dabei erstaunt fest, dass ihre Stimme leicht zittrig klang. „Ach, wir gehen einfach mal ein bisschen auf dem Hauptweg entlang, irgendwo werden wir schon hinkommen,” sagte Olli leichthin und marschierte los. Die anderen folgten ihm schnell und Marie bemühte sich, nicht die Letzte zu sein. Um keinen Preis wollte sie auch noch hier im Wald verloren gehen. So liefen sie eine Zeit lang durch die Nacht, die Jungs grölten irgendwelche Lieder,- ihnen schien das Ganze offensichtlich einen großen Spaß zu machen. Plötzlich blieb Oliver stehen. Sie hatten eine große Lichtung erreicht und das Mondlicht kam durch die Bäume hindurch. Marie sah sich um. Waren sie nicht viel mehr gewesen? Sie drehte sich um, doch Karsten, Carina und Sebastian, die die ganze Zeit hinter ihr gewesen waren, waren nicht mehr da. Auch Isabel, die sie vorne bei Michael vermutet hatte, fehlte. Dies schien auch Thorben aufgefallen zu sein. Erschrocken sah er Marie an und fragte: „Wo sind die anderen?”

Isabel sah auf. Wo waren die anderen? Sie hatte doch bloß kurz ihren Schuh neu gebunden, da sie dauernd über den Schnürsenkel gestolpert war. Und jetzt stand sie hier, mutterseelenallein mitten im Wald. Warum hatten sie nicht auf sie gewartet? Sie hatte doch noch zu Michael gesagt, dass sie sich kurz den Schuh binden würde. Hatte er sie nicht gehört? Rechts von ihr konnte sie plötzlich ein Leuchten ausmachen, im Glauben daran, dass es die Taschenlampe einer der Jungen war, ging sie vorsichtig auf den Punkt zu. Doch bei näherem Hinsehen stellte sie fest, dass es bloß ein paar Glühwürmchen in der Nacht waren. „Haha, sehr witzig,” rief sie laut, „ich weiß, dass ihr euch hier irgendwo versteckt.” Aber taten sie das wirklich? Wollten ihre Freunde ihr etwa auf so gemeine Art einfach nur Angst einjagen? Wirklich glauben konnte sie das nicht. Spätestens jetzt wäre auf jeden Fall Marie, die sich selber im Wald fürchtete, herausgekommen. Doch sie kam nicht. Isabel war den Tränen nahe. Ein Gefühl der Panik stieg in ihr auf. Es ließ sich nicht unterdrücken, schnürte ihr in gewisser Weise die Kehle zu. Sie schluckte schwer, um den Kloß aus ihrem Hals zu vertreiben, doch es gelang ihr nicht. Sie wollte rufen, doch auch das ging nicht. Es war wie in einem Alptraum, in dem man in einer Gefahrensituation unfähig ist zu schreien. Aber selbst wenn sie schrie, würden die anderen sie hören? Wie weit waren sie inzwischen gelaufen und wann würden sie ihr Verschwinden bemerken? Isabel spürte, wie ihr Tränen die Wangen hinunterliefen. Ungeduldig wischte sie sie weg. Das brachte doch jetzt auch nichts. Sie musste sich zusammenreißen, musste versuchen die Orientierung wiederzuerlangen, und den Weg zu den Bungalows auch ohne die Taschenlampen der Jungs wiederzufinden. Wie weit waren sie in den Wald hineingegangen? Etwa eine Viertelstunde? Sie wusste es nicht mehr, jedenfalls nicht genau. In der Ferne schrie eine Eule und erst jetzt wurden Isabel die Geräusche des Waldes bewusst. Unter dem Gegröle der Jungs hatte man kaum etwas gehört, aber plötzlich waren da so viele Geräusche. Irgendwo links von ihr raschelte etwas im Gebüsch. Unfähig sich zu bewegen stand Isabel da und lauschte den Geräuschen. Es waren vermutlich bloß irgendwelche kleineren Tiere, Eichhörnchen oder ähnliches, oder der Wind, der durch die Büsche glitt. Dennoch, es machte ihr Angst und sie wünschte sich, sie wäre nie stehen geblieben um ihren Schnürsenkel zuzubinden.

„BUH!” schrie Sebastian und sprang von dem Baum, auf dem er gesessen hatte, hinunter, direkt Marie und Michael vor die Füße. Marie schrie erschrocken und entsetzt zugleich auf, doch als sie erkannte, dass es nur Sebastian war, verwandelte sich ihre Angst in Wut: „Spinnst du?” schrie sie ihn wütend an, was Sebastian seinerseits dazu veranlasste sie erschrocken anzusehen: „Beruhig dich mal wieder, das war doch nur ein Spaß!” „Ein Spaß?” Marie wurde immer wütender, „das nennst du einen Spaß? Wir machen uns wer weiß was für Sorgen um euch, und ihr hockt hier in irgendwelchen Bäumen rum und findet das lustig?” Ihr? Sebastian runzelte die Stirn, wieso ihr? „Wo sind die anderen?” fragte Michael etwas ruhiger nach, doch man konnte auch seiner Stimme anhören, dass er das Ganze nicht besonders witzig fand. „Welche anderen denn?” fragte Sebastian verwirrt nach. Er sah, dass Olli und Thorben langsam näher kam und erst jetzt fiel ihm auf, dass Karsten, Carina und Isabel fehlten. Nein, eigentlich fehlten nur Isabel und Carina stellte er fest, als er jetzt sah, wie ein blendendes Licht von links auf sie zukam. Das konnte nur Karsten mit seiner Taschenlampe sein. Doch wo waren die Mädels? „Hey,” rief Karsten aufgeregt, „ich habe dort hinten einen Fuchsbau entdeckt!” Er kam langsam näher und strahlte in die Runde, dann erblasste er leicht: „Wo ist Carina?” fragte er besorgt, offensichtlich ohne Isabels Verschwinden zu bemerken. „Wir dachten sie und Isabel wären bei dir,” antwortete Marie, die die Angst in ihrer Stimme immer weniger verbergen konnte. Karsten sah sie mit großen Augen an und schüttelte leicht den Kopf. Sebastian nahm seine Taschenlampe und leuchtete in alle möglichen Richtungen. Wo konnten die beiden bloß sein? Hoffentlich waren sie wenigstens zusammen, denn so hatten sie zwar immer noch keine Taschenlampen, aber waren immerhin nicht alleine. Sebastian wollte sich nicht ausmalen, was alles passieren würde, wenn die Beiden nicht zusammen waren, und voller Panik immer tiefer in den Wald liefen. „Isabel! Carina! brüllte er so laut wie er konnte und die anderen taten es ihm nach. Marie, die als Einzige keine Taschenlampe hatte, blieb eng bei Michael, voller Angst um ihre Freundinnen und davor, selber verloren zu gehen.

Mittlerweile hatten sich Isabels Augen einigermaßen an die Dunkelheit gewöhnt, doch sie konnte immer noch nicht besonders viel erkennen, lediglich die Dinge, die sich in ihrer unmittelbaren Umgebung befanden. Sie überlegte, was sie tun sollte. Eigentlich wollte sie nichts mehr als zurück zu den Bungalows zu kommen. Aber was wenn sie sich verlief? War es nicht sinnvoller auf dem Weg zu bleiben, auf dem sie gelaufen waren? Wie weit war sie, als sie auf das Licht der Glühwürmchen zugelaufen war, von dem Weg abgekommen? Plötzlich meinte sie in der Ferne jemanden ihren Namen rufen zu hören. Hatte sie sich das nur eingebildet oder rief tatsächlich jemand nach ihr. Angestrengt lauschte sie in die Dunkelheit und hoffte, dass sie das Rufen noch einmal hören würde. Und da war es wieder. Näher. Marie, die ihren Namen rief. Und plötzlich fand auch sie ihre Stimme wieder und fing erleichtert an, ihrerseits den Namen ihrer besten Freundin zu rufen. Kurz darauf sah sie das Licht einer Taschenlampe, das sich langsam auf sie zu bewegte. Erst jetzt bemerkte sie, dass ihr Tränen der Erleichterung über die Wange rannen. Sie lief auf ihre Freunde zu, stolperte leicht, rannte weiter und fiel schließlich Marie in die Arme, die sie ebenso erleichtert an sich drückte. Doch der nächste Schreck, folgte fast in der gleichen Sekunde, als Michael fragte: „Wo ist Carina?” Isabel löste sich von Marie und sah ihn erschrocken an. „Ihr wart nicht zusammen?” fragte Michael und Isabel schüttelte den Kopf. „Mist,” murmelte Michael und leuchtete erneut mit seiner Taschenlampe in den Wald. „Vielleicht haben die anderen sie ja schon gefunden,” sagte Marie. Sie waren alle in verschiedene Richtungen gegangen, da sie gehofft hatten Isabel und Carina so schneller zu finden. Michael, Marie und Isabel standen ganz eng beieinander. Was sollten sie jetzt tun? Vielleicht hatten die anderen Carina ja schon längst gefunden und waren bereits auf dem Weg zurück zu den Bungalows. In diesem Wald funktionierten die Handys schließlich nicht, woher sollten sie also wissen, ob die anderen nicht vielleicht schon längst wieder im Warmen saßen und auf sie warteten? Marie sprach den Gedanken aus und fügte noch hinzu: „Ich würde jetzt wirklich gerne zurück gehen. Dieser Wald macht mir Angst. Und vielleicht hat Carina ja auch den Weg zurück alleine gefunden. Dann wäre es nicht schlecht, wenn jemand da ist, wenn sie zurückkommt.” „Ja,” stimmte Michael zu, „ich denke, du hast Recht. Aber dieses Mal fassen wir uns alle ganz fest an der Hand und lassen uns nicht los. Okay?”

„Carina! Carina!” Karsten brüllte wie ein Besessener den Namen seiner Schwester. Auch Thorben rief hin und wieder ihren Namen und den von Isabel. Aber im Grunde genommen war das unsinnig. Zwei Mädchen alleine im Wald. Sie würden wahrscheinlich irgendwo stehen und lauthals schreien, so laut, dass man es schon aus Kilometerentfernung hören könnte. Das ließ nur zwei Schlussfolgerungen zu. Entweder hatten die anderen die Beiden schon gefunden, oder sie waren so weit von ihnen entfernt, dass sie sie nie finden würden. Wäre es nicht sinnvoller zurückzukehren? Thorben kam ein anderer Gedanke: So etwas dürfte in Zukunft nicht noch einmal passieren. Wie gefährlich war es bloß, wenn ein kleines Kind in diesem Wald verloren ging? Er würde sich etwas überlegen müssen, um das zu verhindern, denn sonst würde sein schöner neuer Bungalowpark ganz schnell wieder geschlossen werden. Er kannte sich in diesem Wald schließlich überhaupt nicht aus. Was, wenn es irgendwo einen See oder einen Bach gab, in den ein Kind im Dunkeln fallen würde und dann ertrank? Nein, da musste er unbedingt eine geeignete Vorsorge treffen. Einen Zaun im Wald ziehen? Würde das Sinn machen? „Au!” Erschrocken schrie Thorben auf, denn Karsten hatte ihn in die Seite geboxt. „Ich hoffe, du bist mit deinen Gedanken bei meiner Schwester und der Frage wie wir sie finden können,” sagte er und sah Thorben von der Seite an.

Michael ging mit der Taschenlampe voran, dicht gefolgt von Marie, und Isabel bildete die Nachhut. „Du bist dir aber schon sicher, dass du den Weg kennst?” fragte Isabel besorgt von hinten. Sie war mehr als froh, dass ihre Freunde sie gefunden hatten, machte sich aber auch gleichzeitig große Sorgen um Carina. Hoffentlich hatten die anderen sie wirklich gefunden. Der Gedanke, dass sie womöglich hier alleine in diesem dunklen Wald herumgeisterte machte sie ganz krank. Gerade, weil sie selber wusste, wie es war, alleine in der Dunkelheit zu stehen und alle möglichen Geräusche zu hören, die teilweise gar nicht da waren. Jetzt wo sie hier mit Marie und Michael entlang ging, waren die einzigen Geräusche, die sie wirklich bewusst wahrnahm, das Heulen mehrerer Eulen. Als sie alleine gewesen war, hatte sie sich eingebildet, alle möglichen Tiere zu hören, die sie jede Sekunde würden angreifen können. Dass Carina jetzt womöglich das Gleiche durchmachte, machte ihr Angst. „Keine Sorge, ich kenne den Weg, wir müssten in ein paar Minuten zurück sein,” rief Michael ihr zu und Marie drückte beruhigend ihre Hand ein wenig fester. Ein Blick nach vorne zeigte ihr, dass Michael recht gehabt hatte. Sie konnte schon im Licht der Taschenlampe in der Ferne einen Bungalow ausmachen. Erleichtert atmete sie auf, auch Marie schien sich merklich zu entspannen. Dann blieb Michael plötzlich stehen. Marie, die so froh war, endlich aus dem Wald herauszukommen lief direkt gegen ihn. „Was ist los?” fragte Isabel erschrocken. „Ich weiß nicht,” murmelte Michael, kniff die Augen enger zusammen und richtete das Licht der Taschenlampe auf einen der Bäume, die den Weg säumten. Isabels Augen weiteten sich entsetzt, als sie sah, weswegen Michael stehen geblieben war. Das konnte doch nur eine Sinnestäuschung sein, oder? Sie kniff die Augen zusammen, und öffnete sie wieder, doch das Bild war immer noch das gleiche. Marie, die bisher stumm und still neben ihr gestanden hatte, ließ plötzlich ihre Hand los und fing laut an zu schreien. Das schien Michael aus seiner Erstarrung herauszureißen, denn er rannte auf einmal los und schrie: „Kommt schnell, vielleicht ist es noch nicht zu spät!” Auch Isabel riss sich nun zusammen und lief los, während Marie noch immer an der selber Stelle schreiend stand. „Guck ob du irgendwo ein Messer oder etwas anderes zum Schneiden findest,” wies Michael Isabel an, die sogleich weiter in Richtung Bungalowanlage lief. Währenddessen versuchte Michael, Carina, die leblos mit einem Strick um den Hals an dem Baum baumelte, soweit abzustützen, dass sich der Strick nicht noch weiter um ihren Hals ziehen konnte. Isabel rannte in den Bungalow, in den sie die Lebensmittel gebracht hatten, und öffnete die beiden Kisten, denn sie wusste, dass in einer von ihnen ein scharfes Brotmesser war. Sie fand es, griff danach und war schon wieder aus dem Weg nach draußen, zu Michael, der unter Carinas Gewicht zusammenzubrechen drohte, und wohl nicht mehr sehr lange so würde stehen bleiben können. Maries Schreie hallten unvermindert weiter durch den Wald, doch Isabel wusste, dass sie sich jetzt nicht darum kümmern durfte. Schnell stellte sie den Stuhl auf, der umgekippt auf dem Waldboden lag, stellte sich darauf und begann, das Tau, das an einem starken Ast befestigt war, durchzuschneiden. Endlich löste es sich, und Michael fiel mit Carina zusammen auf den Boden. Er rappelte sich schnell wieder auf, und begann das Tau um Carinas Hals zu lösen. Isabel warf das Messer weg und hockte sich neben ihn, doch als sie so dasaß und in Carinas kalte, blaue Augen sah, wusste sie, dass es bereits zu spät war. Carinas Gesicht war ganz blau, und die Zunge hing ebenfalls blau aus ihrem Mund. „Michael,…” flüsterte Isabel entsetzt, doch auch er schien bereits begriffen zu haben, dass es zu spät war und sie nichts mehr für ihre Freundin würden tun können. Mit einer schnellen Bewegung drückte er Carinas Augen zu und stand auf. In dem Augenblick hörten sie eine vertraute Stimme hinter sich. „Was ist hier los?” fragte Karsten, der neben der schreienden Marie aufgetaucht war, Thorben hinter sich im Schlepptau.

Isabel stand langsam auf, sie hatte gar nicht daran gedacht, dass Carinas Bruder auch noch hier irgendwo war. Was sollte sie jetzt sagen? Sie warf Michael einen verzweifelten Blick zu, doch auch er schien nicht wirklich zu wissen, wie er reagieren sollte, was er sagen sollte, nicht einmal wo er hingucken sollte. Gab es für das Geschehene überhaupt die passenden Worte? Isabel wusste es nicht, und so tat sie das Einzige, was sie tun konnte: Sie machte einen Schritt zur Seite und gab so den Blick auf die Tote frei. Sie sah wie Thorben den Mund zu einem lautlosen Schrei öffnete, sah wie Karsten ganz blass im Gesicht wurde und nur immer wieder ein Wort flüsterte: „Nein.” Erst als er losrannte, sich auf Carina stürzte, sie umarmte und immer wieder nur „Nein” flüsterte, merkte sie, wie ihr lautlose Tränen über die Wangen rannen. Michael machte einen Schritt auf sie zu und schloss sie in den Arm und jetzt fing Isabel wirklich an zu weinen. Sie merkte nicht, dass Marie aufgehört hatte, zu schreien und sie bekam auch nicht mit, dass Karsten seine tote Schwester aufgehoben hatte und mit ihr in Richtung Bungalows lief. Erst als Thorben rief: „Hey, Karsten, was tust du da?” löste sie sich langsam von Michael und sah mit tränenverschwommenen Augen nach Karsten. Dieser drehte sich um und Isabel wusste, dass sich das Bild, das sich ihr nun bot für immer in ihrem Kopf festbrennen würde. Es sah aus der Ferne und in der Dunkelheit fast so aus, als würde es nicht um Menschen, sondern um zwei Bären handeln, von denen der eine den anderen auf den Armen trug. Irgendwie hatte das Bild etwas Komisches an sich, etwas Bizarres. Karsten, der große Riese, von dem man denken konnte, dass ihn nichts aus der Fassung würde bringen können, stand dort, das Gesicht von Tränen überströmt, seine tote Schwester im Arm und sagte verzweifelt: „Ich bringe sie ins Krankenhaus. Ich weiß, dass es noch nicht zu spät ist, sie ist nicht tot.” „Karsten!” rief Isabel, in der Hoffnung ihn aufhalten zu können, doch er hatte sich bereits wieder umgedreht und schien sie nicht zu hören. Isabel wollte hinter ihm herrennen, ihn aufhalten, ihn nicht alleine wegfahren lassen, doch Michael hielt sie fest und flüsterte: „Lass ihn!” „Aber,…” Isabel schwieg. Sie wollte Michael sagen, dass sie Karsten jetzt nicht alleine lassen durften, dass er nicht mit dem irrsinnigen Gedanken, seine Schwester noch retten zu können, losrasen durfte, dass er womöglich einen Unfall bauen würde, doch kein Ton kam von ihren Lippen, und so schwieg sie und sah hilflos zu, wie Karsten Carina auf die Rückbank seines Wagens legte, noch eine Decke über ihren kalten Körper breitete, sich dann selber ans Steuer setzte und davon raste. Er hatte sich nicht einmal die Zeit genommen, sich anzuschnallen, geschweige denn die Lichter des Wagens anzuschalten, er war einfach so losgefahren und Isabel erwartete fast im nächsten Augenblick zu hören, wie sein Wagen gegen den nächsten Baum krachte, doch bereits nach wenigen Augenblicken legte sich eine bedrückende Stille über den ganzen Wald.

„Verdammt noch mal, wo sind wir?” fragte Oliver zum wiederholten Male und warf Sebastian einen fragenden Blick zu, doch dieser zuckte nur mit den Schultern und richtete das Licht seiner Taschenlampe in eine Höhle. „Man, Basti,” rief Oliver aufgebracht, „Isabel und Carina werden sich bestimmt nicht in einer Höhle versteckt haben!” „Ich suche nach den Füchsen, von denen Karsten erzählt hat,” entgegnete Sebastian. Wenn sie schon hier wie die Bescheuerten durch den Wald rannten, wollte er wenigstens auch ein bisschen was sehen. Etwas anderes als Bäume und Büsche. Er war froh, dass es wenigstens warm war und sie ihre Taschenlampen dabei hatten. Warum hatte er ausgerechnet mit Oliver, der genauso wenig Orientierungssinn wie er selber hatte, gehen müssen? Wirklich eine ganz ausgezeichnete Idee, so würden sie hier nie aus diesem Wald herauskommen. Sebastian spürte wie eine leichte Wut auf Isabel und Carina in ihm aufstieg. Warum waren sie verloren gegangen? Vermutlich hatten sie sich mal wieder über ein spannendes Thema, wie Make-up unterhalten, nicht auf den Weg geachtet, waren immer langsamer geworden und plötzlich waren sie weg gewesen. Ganz toll. Doch Sebastian wusste, dass er mit seiner Wut nur seine eigene Sorge überspielte. „Sebastian?” sagte Oliver plötzlich. „Was ist?” fragte Sebastian und ging näher zu ihm hin. „Hör mal, da schreit doch wer, oder nicht?” Sebastian blieb stehen und lauschte angestrengt in die Dunkelheit. Tatsächlich, irgendwo in der Ferne konnte man ein langanhaltendes Schreien hören. Aber kam es von einem Menschen oder war es nur eine Eule? Während er noch darüber nachdachte, erlosch plötzlich das Licht seiner Taschenlampe. Die Batterie hatte ihren Geist aufgegeben. Ein Blick auf Olivers Lampe verriet ihm, dass auch diese zu schwächeln anfing. Wenn sie jetzt noch ohne Licht da standen, würden sie garantiert nie wieder aus diesem Wald herauskommen.

Sie hatte sich gerade überlegt, ihr Versteck aufzugeben und woanders hin zu laufen, als sie in der Ferne das Donnern hörte. Ein Gewitter kam auf. Nichts Ungewöhnliches für eine Nacht im August, aber warum musste es ausgerechnet jetzt passieren? Bis jetzt schien er davon ausgegangen zu sein, dass sie in den Wald gerannt war und sich dort versteckt hielt. War sie ja zunächst auch, doch sie war in der Dunkelheit mehrmals gestürzt, hatte sich den Kopf aufgeschlagen, Arme und Beine an Dornenbüschen zerkratzt und ihn immer irgendwo hinter sich gehört oder es sich auf jeden Fall eingebildet. Außerdem hatte sie es nicht gewagt zu weit in den Wald zu fliehen, aus Angst in der Dunkelheit komplett die Orientierung zu verlieren. Und jetzt lag sie hier, in dem Bungalow, hinter dem Sofa verborgen. Super Versteck, dachte sie ironisch. Sobald er den Bungalow betrat, würde er sie sofort entdecken. Deshalb hatte sie beschlossen, doch wieder in den Wald zu fliehen. Aber jetzt im Regen in den Wald? Vor allem bei Gewitter? Allein der Gedanke machte ihr Angst. Genauso wie der Gedanke hier zu liegen ihr Angst machte. Wahrscheinlich hatte er sie ohnehin gesehen, als sie den Schutz des Waldes verlassen hatte und zurück in den Bungalow gelaufen war. Sobald sie den Bungalow verließ, würde sie vermutlich in seinen Armen landen. Aber vielleicht auch nicht. Dann würde ihr das Gewitter doch in gewisser Weise zu Gute kommen. Denn jetzt hatte sie vor der kleinsten Bewegung Angst, da sie meinte, er würde sie hören. Aber im Donnergrollen konnte er sie doch nicht hören, oder? Andererseits würde sie ihn genauso wenig hören, wenn er den Bungalow betreten sollte. Trotzdem, als der Donner das nächste mal durch die Nacht grollte, dicht gefolgt von einem hellen Blitz, streckte sie die schmerzenden Beine aus, um ihre verkrampften Glieder zu entlasten. Im ersten Moment tat es höllisch weh, doch dann überkam sie ein Gefühl der Erleichterung.

„Ich will nach Hause fahren. Jetzt sofort. Ich bleibe keine Sekunde länger hier,” sagte Marie und sah die anderen ernst an. Am liebsten wäre sie direkt mit Karsten gefahren, doch wer wusste schon wie weit er mit seinem rasanten Fahrstil überhaupt gekommen war? Aber sie hatten ja noch ein zweites Auto da und sie wollte nur weg von hier. Am besten sofort. Dabei war es ihr auch egal wo Sebastian und Oliver waren. Sie musste hier weg. Leider sahen die anderen das anders: „Marie,” sagte Michael so ruhig wie möglich, „wir können nicht einfach abhauen und Basti und Olli ihrem Schicksal überlassen.” „Doch, können wir,” entgegnete Marie stur. Warum verstand sie keiner? „Wir passen doch sowieso nicht alle in das Auto. Wir schreiben den Beiden einen Zettel oder Thorben bleibt halt hier, während du Isabel und mich nach Hause bringst, dann kommst du zurück und holst die anderen ab.” War das so schwer? „Selbst, wenn ich dem Ganzen zustimmen würde,” antwortete Michael, „du vergisst, dass wir mit Sebastians Auto hier sind und wir den Schlüssel nicht haben.” Marie schloss entsetzt die Augen. Da hatte sie wirklich nicht dran gedacht. Doch dann fiel ihr etwas ein: Sie hatten doch den ganzen Tag Musik gehört, der Schlüssel müsste also eigentlich noch im Zündschloss stecken, oder hatte Sebastian ihn abgezogen? Sie glaubte es nicht und kurz nachgucken zu gehen, würde auch nicht schaden. Das sagte sie ihren Freunden, während sie schon aufstand. Marie sah Michael erwartungsvoll an, der stumm seufzte und schließlich meinte: „Na schön, sehen wir nach.” Marie wusste, dass er es nicht ihr zu Liebe tat, sondern wegen Isabel. Sie wollten Beide hier weg, das konnte sie an dem Gesicht ihrer besten Freundin sehen, doch im Gegensatz zu ihr, schien Isabel sich nicht zu trauen, das auch auszusprechen. Sie erreichten Sebastians kleinen Audi und Michael leuchtete mit seiner Taschenlampe hinein. Tatsächlich, der Schlüssel steckte im Schloss. Erleichtert atmete Marie auf und auch Isabel schien sich deutlich zu entspannen. Erwartungsvoll sahen sie Michael an, würde er sie jetzt wirklich nach Hause bringen? „Kann ich meine Sachen holen?” fragte sie vorsichtig und als Michael ergeben nickte, war sie schon auf dem Weg zu dem Bungalow.

Dunkelheit umfing sie von allen Seiten. Auch Olivers Taschenlampe hatte plötzlich ihren Geist aufgegeben und nun standen sie hier irgendwo im Wald und konnten kaum die Hand vor Augen sehen. „Ähm, Basti?” fragte Oliver in die Dunkelheit, in dem plötzlichen Glauben, dass Sebastian nicht mehr da war, dass er selber hier ganz alleine stand, nur von dunklen Bäumen umgeben, die wenn sie sich bewegten aussahen wie Monster. Zu seinem großen Erstaunen, antwortete Sebastian jedoch, und seine Stimme klang ebenso zittrig, wie Oliver sich fühlte. „Was machen wir denn jetzt?” fragte Sebastian. Oliver zuckte mit den Schultern, ohne daran zu denken, dass Sebastian das in der Dunkelheit nicht sehen konnte, und dachte angestrengt nach. Er musste sich in etwa daran erinnern, aus welcher Richtung sie gekommen waren. Aber wie sollten sie sich in der Dunkelheit orientieren? Es war ja nicht so, dass er gar nicht auf den Weg geachtet hatte. Er hatte sich markante Stellen gemerkt, um hinterher wenigstens einen kleinen Orientierungspunkt zu haben. Aber er würde weder den komplett mit Moos zugewachsenen Baum, noch den Busch, der irgendwie ausgesehen hatte, wie eine Katze in der Dunkelheit wieder erkennen. Erneut atmete Oliver tief durch, dann schlug er vor: „Hier herumzustehen macht wenig Sinn. Wir wissen nicht, wie weit wir schon in diesem Wald sind. Früher oder später werden wir schon hier herauskommen. Ich schlage vor, dass wir uns in süd-östlicher Richtung halten.” „Wieso süd-östliche Richtung ?” wollte Sebastian wissen, froh darüber, dass eine Entscheidung getroffen worden war. „Na, weil aus dieser Richtung das Schreien gekommen ist,” entgegnete Oliver selbstsicher. In Wirklichkeit hatte er keine Ahnung. Es hätte genauso gut nord-westliche Richtung sein können oder irgendetwas anderes. Er wusste nur, dass es von irgendwo links von ihm gekommen war, und in diese Richtung würden sie jetzt, die Namen der anderen rufend, gehen. Irgendwann würden sie schon an einen Orientierungspunkt kommen.

„Bitte, sag, dass das nicht wahr ist,” rief Marie aufgebracht und schlug verzweifelt die Hände über dem Kopf zusammen. Isabel, nahm sie beruhigend in den Arm und drückte sie fest an sich. Marie schluckte, es durfte einfach nicht wahr sein. „Probier es bitte noch einmal,” bat sie Michael. Dieser schüttelte ungeduldig den Kopf, er wusste, dass es keinen Sinn hatte, drehte aber Marie zu Liebe noch einmal den Schlüssel im Zündschloss. Nichts. Der Wagen wollte nicht anspringen und sie alle wussten ganz genau woran es lag: Sie hatten den ganzen Nachmittag über das Autoradio Musik gehört und es geschafft, die Batterie des Wagens leer zu bekommen. Das war auch eigentlich nicht besonders schlimm, hätten sie einen zweiten Wagen, aber mit dem war Karsten ja überstürzt abgefahren und hatte sie hier zurückgelassen. „Gehen wir zurück zu Thorben,” sagte Michael leise und widerwillig stiegen Isabel und Marie wieder aus.

Thorben konnte an den Gesichtern der Dreien ablesen, dass etwas nicht stimmte. Schnell hatte auch er erfahren, dass sie mit dem Auto nirgendwo würden hinfahren können. Die Batterie war vollkommen aufgebraucht. Das würde vermutlich bedeuten, dass sie am nächsten Tag einen mehr als langen Fußmarsch vor sich hatten. Aber das war egal, sie hatten ohnehin ein anderes Problem, als die Frage, wie sie am nächsten Tag wieder aus dem Wald herauskommen würden: Sebastian und Oliver. Wie lange waren die Beiden jetzt schon im Wald? Es musste eine ganze Weile sein. Thorben bezweifelte, dass die beiden immer noch nach Isabel und Carina suchten. Nein, da musste etwas passiert sein, dessen war er sich sicher. Hatten sie im Wald die Orientierung verloren und fanden jetzt nicht mehr zurück? Oder hatte sich einer von ihnen verletzt und konnte nicht weiterlaufen? Wie dem auch sei, sie mussten nach den Beiden suchen. Vermutlich würde es sie auch alle von ihren traurigen Gedanken ablenken. Er sah die anderen, die unschlüssig herum standen ernst an: „Ich weiß ja nicht, was ihr dazu meint, aber ich denke wir sollten nach Sebastian und Oliver suchen. Dass die Beiden immer noch im Wald sind, das kommt mir irgendwie komisch vor. Da muss etwas passiert sein.” „Sag doch so was nicht,” flüsterte Marie entsetzt und sah Thorben erschrocken an. „Ich meinte doch nur, dass sie sich verlaufen haben oder so etwas,” antwortete Thorben beruhigend. „Ich will trotzdem nicht zurück in den Wald,” sagte Marie leise. „Okay,” schaltete Michael sich ein, „Thorben und ich gehen los und ihr Beide bleibt hier, ja?” Marie sah Isabel fragend an. Diese zuckte jedoch nur teilnahmslos mit den Schultern. Sie wollte weder zurück in den Wald, in die Dunkelheit, noch wollte sie mit Marie alleine hier bleiben. Blieb die Frage was das kleinere Übel war.

Der Regen war stärker geworden. Er trommelte jetzt unablässig auf das Dach des Bungalows. Sie konnte keine Geräusche mehr wahrnehmen, außer dem Trommeln des Wassers. Ihre einzige Hoffnung war, dass auch er den Regen vermied und irgendwo in einem der anderen Bungalows saß und wartete bis der Regen aufhörte. Doch wenn das Gegenteil der Fall war? Dann würde er den Bungalow betreten, ohne dass sie es mitbekam. Er wäre einfach plötzlich da und auch wenn es jetzt schon unwahrscheinlich war, dass sie ihm entkommen konnte, wenn sie nicht darauf vorbereitet war, wäre es so gut wie unmöglich. Sie fühlte sich so furchtbar müde, und wünschte sich plötzlich, einfach nur schlafen zu können. Das Geräusch des prasselnden Regens, das so monoton klang, verstärkte das Gefühl, dass sie jede Sekunde würde einschlafen können, nur noch mehr. Doch das durfte auf gar keinen Fall passieren, sie musste wach bleiben, sie musste!

„Oh Gott sei Dank,” rief Sebastian. Die Erleichterung war ihm deutlich ins Gesicht geschrieben. „Ist alles in Ordnung mit euch Beiden?” fragte Michael, der jetzt näher gekommen war und die Beiden von oben bis unten betrachtete. Ihre Klamotten waren ziemlich zerrissen und sie hatten einige Schrammen an den Armen und im Gesicht, aber nichts wirklich schlimmes. „Jaja, alles bestens,” sagte Oliver und erzählte schnell, was mit ihren Taschenlampen passiert war. „Was ist denn mit Isabel und Carina?” wollte Sebastian wissen, nachdem Olli geendet hatte. Thorben und Michael warfen sich unsichere Blicke zu. Sebastian stutzte. Was war los? Es war doch nicht etwa was passiert, oder doch? „Was ist?” fragte er nach und sah die Beiden eindringlich an. Auch Oliver machte jetzt einen betretenen Gesichtsausdruck. „Ähm, also,…” Michael zögerte, – wie sagte man so etwas? „Carina ist tot,” sagte er deshalb einfach, denn lange um den heißen Brei herum zu reden, machte es vermutlich für alle nur noch schlimmer. „Was?” Sebastian und Oliver sahen ihn fassungslos an. Das war doch ein Scherz, oder? Doch Michael sah nicht so aus, als würde er Witze machen. Dann erzählte er stockend, was vorgefallen war.

Isabel war aufgesprungen, als sie die Stimmen der Jungs hörte, die sich langsam auf sie zu bewegten. Mittlerweile waren auch Thorbens und Michaels Taschenlampe sehr schwach, aber immerhin hatten sie durchgehalten. „Ist bei euch auch alles in Ordnung?” fragte Michael und blickte Isabel an. Sie nickte stumm, was hätte sie auch sagen sollen? „Den Umständen entsprechend”, war die dümmste Floskel, die ihr einfiel. „Okay,” sagte Michael und gemeinsam gingen sie zu Marie, die noch immer an der erloschenen Feuerstelle saß. „Wir sollten uns hinlegen, und versuchen ein bisschen zu schlafen,” schlug Thorben vor. „Schlafen?” Marie lachte leise und traurig auf. „Als wenn ich Schlaf finden würde, ich sehe ständig nur dieses Bild vor mir, und…” sie brach mitten im Satz ab. Verständnisvoll nickend sagte Thorben: „Ich weiß. Uns geht es nicht anders. Aber wir haben morgen einen langen Weg vor uns. Der Wagen springt nicht mehr an und wir werden die ganze Strecke bis in die nächstgrößere Stadt zu Fuß zurücklegen müssen, wenn wir nicht hier bleiben wollen.” Darüber schien Marie sich noch gar keine Gedanken gemacht zu haben, – entsetzt sah sie Thorben an: „Du willst durch diesen dunklen Wald zurücklaufen?” „Tagsüber ist es nicht so dunkel,” entgegnete Thorben, aber Isabel wusste, dass das nicht stimmte. Während der ganzen Fahrt hatten sie das Licht des Wagens angehabt. Natürlich, es war tagsüber nicht so dunkel wie in der Nacht, aber streckenweise ließen die Bäume wirklich so gut wie gar kein Tageslicht durch. Auch ihr widerstrebte der Gedanke, die ganze Strecke zu Fuß zurücklegen zu müssen. Andererseits, was blieb ihnen für eine andere Wahl? Karsten würde frühestens in ein paar Tagen auffallen, dass sie nicht von ihrem Wochenendausflug zurückgekehrt waren. Bis dahin konnte noch eine ganze Weile vergehen, und die wollte sie nicht hier in diesem Wald verbringen. Nicht unter diesen Umständen. Nicht ständig den Baum vor Augen, an dem Carina… Sie wollte nicht mehr daran denken. Der schreckliche Anblick, sollte aus ihrem Kopf raus, aber genau wie Marie wusste auch sie, dass sie heute Nacht nichts anderes sehen würde als dieses Bild. Trotzdem: Sie fühlte sich unendlich müde. „Ich denke, Thorben hat Recht, wir sollten uns etwas ausruhen,” sagte sie deshalb und stand auf.

Sebastian hatte in dieser Nacht kaum ein Auge zugemacht, andererseits hatte er auch keine großen Ambitionen aufzustehen. Gemeinsam mit Michael hatte er die Nacht in dem zweiten Schlafzimmer des Bungalows verbracht, während Oliver und Thorben im Wohnzimmer geschlafen hatten. Ob Marie und Isabel auch nur eine Sekunde geschlafen hatten? Vermutlich waren sie letztendlich doch eingeschlafen, so blass wie sie gestern ausgesehen hatten. Michael neben ihm schien zu schlafen und auch aus den anderen Zimmern war bisher noch kein Laut gedrungen. Vielleicht lagen die anderen genau wie er schlaflos im Bett, und dachten, dass alles besser war, als aufzustehen und sich Gedanken darüber zu machen, was gestern geschehen war. Einfach nur hier zu liegen war irgendwie einfacher. Wie viel Uhr war es eigentlich? Vielleicht sollte er doch besser aufstehen. Immerhin wollten sie heute den ganzen Weg bis in die nächstgrößere Stadt zu Fuß zurücklegen. Da wäre es nicht verkehrt, sich früh auf den Weg zu machen. Seufzend schwang Sebastian sich aus dem Bett und schlurfte langsam ins Badezimmer. Ein Blick in den Spiegel verriet ihm, dass er tatsächlich nicht besonders gut aussah. Er brauchte dringend eine kalte Dusche, um sich ein wenig zu erfrischen. Oder ein Bad im See. Das war eigentlich noch die bessere Idee. Jetzt eine Runde in dem kühlen Wasser zu schwimmen, wäre genau das Richtige. Schnell ging er zurück in das Schlafzimmer um sich seine Badehose zu schnappen, und stellte erstaunt fest, dass es bereits 10 Uhr war. Eigentlich sollte er die anderen wecken, aber er beschloss sie noch so lange schlafen zu lassen, bis er seine Schwimmrunde beendet hatte. Schnell schlüpfte er in seine Badehose und ging dann leise durch das Wohnzimmer, in dem Thorben und Oliver friedlich schliefen.

Als Marie aufwachte, kam es ihr so vor als hätte sie nicht eine Sekunde lang geschlafen, dabei hatte sie immerhin fast vier Stunden mit unruhigen Träumen verbracht. Leicht drehte sie sich um und warf einen Blick auf die schlafende Isabel, die neben ihr lag. Nachdem sie heute Nacht stundenlang wach gelegen hatten, ohne miteinander zu reden, aber mit dem untrüglichen Bewusstsein, dass auch die andere schlaflos da lag, war Isabel irgendwann zu Marie ins Bett gekommen und kurz darauf mussten sie beide eingeschlafen sein. Sie wagte es nicht, sich zu bewegen, aus Angst, die Freundin aufzuwecken. Also blieb sie ruhig liegen und starrte an die Decke. Die Motivation aufzustehen war ohnehin nur sehr gering. Natürlich, sie wollte nichts mehr als hier weg zu kommen, aber in ihrem augenblicklichen Zustand fühlte sie sich einfach nicht in der Lage, den ganzen Weg durch den dunklen Wald zurückzulegen. Sie schloss die Augen und dämmerte so eine Weile vor sich hin. Es war irgendwie angenehm. Man dachte nicht wirklich an etwas, sondern lag einfach nur so da. Keine unwillkommenen Bilder schossen einem in den Kopf, alles war so still und friedlich. Wenn es so war, wenn man starb, war es irgendwie kein beängstigender Gedanke mehr, zu sterben. Erschrocken riss Marie die Augen auf. Warum dachte sie ans Sterben? Und plötzlich war das Bild der toten Carina doch wieder in ihrem Kopf.

Die Bäume standen still da. Es war ein friedlicher Morgen und Sebastian genoss die Stille, die von dem See und der Natur um ihn herum ausging. Was gab es Schöneres? Doch an einem dieser Bäume war gestern jemand gestorben. Er wusste nicht an welchem, und es war ihm im Grunde genommen auch egal. Sebastian seufzte und vertrieb die trüben Gedanken. An einem so schönen Tag sollte man eigentlich nicht an so etwas denken. Vorsichtig streckte er einen Zeh in das Wasser. Es war angenehm kalt. Im Laufe des Tages würde es sich vermutlich durch die Sonne ziemlich aufwärmen, so wie es auch gestern der Fall gewesen war, doch jetzt war es wirklich eine angenehme Abkühlung. Langsam ging er hinein, bis ihm das kalte Wasser bis zur Brust reichte. Dann begann er auf den See hinaus zu schwimmen.

War sie etwa doch eingeschlafen? Sie wusste es nicht. Sie wusste nur, dass sie sich furchtbar müde und erschöpft fühlte, dass die Schürfwunden an ihren Armen schmerzten, dass sie ihre Beine kaum noch fühlen konnte und dass es aufgehört hatte zu regnen. Es hatte aufgehört zu regnen. Der Regen hatte ihr Angst gemacht, aber gleichzeitig hatte sie sich durch ihn seltsam beschützt gefühlt. Jetzt war er weg und eine merkwürdige Stille lag über allem. Kein Laut war zu hören, nicht einmal das Heulen einer Eule. Das war wahrscheinlich nichts ungewöhnliches, auch die Tiere versteckten sich im Gewitter und trotzdem machte es ihr Angst. Es war eine Stille, die deutlich machte, dass etwas kam. Es lag einfach in der Luft. Irgendetwas würde bald passieren.

Sie hatte Isabel nicht geweckt, stellte Marie froh fest, als sie über ihre Freundin hinweg geklettert war und nun auf dem staubigen Teppichboden stand. Leise ging sie zu ihrer Tasche und nahm ein paar frische Klamotten heraus. Wenn sie Glück hatte, schliefen auch die anderen alle noch und sie konnte in Ruhe hinunter zum See gehen und sich waschen, etwas sauberes anziehen und die morgendliche Stille ganz für sich alleine genießen. Doch ein Blick in das andere Schlafzimmer verriet ihr, dass sie Pech hatte, denn auch Sebastian war bereits auf. „Vermutlich ist er im See schwimmen gegangen,” dachte sie. Leise durchquerte sie das Wohnzimmer und trat hinaus auf die kleine Terrasse des Bungalows. Tief atmete sie die klare, frische Morgenluft ein. In der Ferne konnte Marie ein paar Vögel fröhlich zwitschern hören und sie lauschte einige Minuten lang ihrem Lied. Wie gerne würde sie sich jetzt mit einem Buch in der Hand hier niederlassen und es sich einfach gemütlich machen. Im Grunde genommen würde sie ja wirklich gerne hier bleiben, denn es war in der Tat wunderschön hier. Aber andererseits war dort hinten am Waldrand der Baum, an dem Carina… Und schon wieder war der Gedanke da. Der Gedanke, den sie die ganze Zeit erfolgreich verdrängt hatte, war plötzlich wieder da. Und plötzlich war es mit der Stille und dem Frieden vorbei. Das alles wirkte nicht mehr beruhigend auf sie, sondern eher bedrohlich. Warum war es eigentlich so still hier? Eigentlich müsste sie doch Sebastian irgendwo hören. Er war doch immer laut und immer zu hören. Doch jetzt war alles so still. Hoffentlich war Sebastian nicht wieder in den Wald gelaufen und erneut verschwunden. Marie zuckte mit den Schultern. Irgendwie fühlte sie sich traurig und deprimiert. Langsam ging sie hinunter zum See.

Sebastian war in etwa bis zur Mitte des Sees hinausgeschwommen. Stehen konnte er hier nicht mehr, aber das war auch kein Problem. Er war ein guter Schwimmer, hatte eine zeitlang sogar mal beim DLRG als Rettungsschwimmer geholfen, und konnte problemlos lange Strecken zurücklegen. Er warf einen Blick zu dem Bungalow in dem sie geschlafen hatten. Er war zwar fast ganz durch die Bäume verdeckt, aber die Terrasse konnte er gut einsehen und insbesondere Marie die dort stand und verträumt in der Gegend herum guckte. Er winkte ihr zu, doch offensichtlich sah sie ihn nicht, denn sie zeigte keinerlei Reaktion. Sebastian ließ die Hand wieder sinken, als ihn plötzlich etwas am Fuß striff. Erreichte er etwa bereits wieder den Boden? Das konnte doch nicht sein, oder? Das Ufer war noch etwa 100 Meter entfernt, da würde er doch jetzt noch keinen Boden berühren können. Vermutlich war es nur ein Fisch gewesen. Hier musste es ziemlich viele Fische geben, schließlich war der See komplett unberührt. Komisch, dass sie gestern keinen gesehen hatten. Erneut fühlte Sebastian etwas an seinem Fuß. Mit einer ungeduldigen Bewegung vertrieb er es, was auch immer es war. Doch dann schlang sich das Etwas plötzlich feste um seinen Fuß und zog ihn in die Tiefe. Sebastian wollte noch aufschreien, doch der Schrei wurde bereits durch das Wasser erstickt, das in seinen Mund eindrang. Entsetzt schluckte er das kalte Wasser und begann heftig mit den Füßen zu strampeln, um sich irgendwie loszumachen. Es fühlte sich fast an, als würde ihn eine Hand in die Tiefe ziehen. War das Michael oder Thorben, die ihm einen Streich spielen wollten? Sebastian bezweifelte es, riss aber dennoch die Augen auf und versuchte etwas zu erkennen. Doch das Wasser war ziemlich schlammig, sodass er nur einen schwarzen Schatten unter sich erkennen konnte. Dann war sein Fuß plötzlich wieder frei. Nach Luft schnappend und prustend tauchte Sebastian auf und atmete heftig die frische Luft ein. Er sah, wie Marie jetzt langsam Richtung See ging, wollte sie rufen, doch im selben Augenblick wurde er erneut am Fuß gegriffen und in die Tiefe des Sees gezogen. Seine Gedanken drehten sich im Kreis. Wer oder was war das und warum tat es das? Doch das war nicht das Hauptproblem. Viel wichtiger war die Frage, wie er sich befreien konnte. Während er heftig strampelte, versuchte er mit den Händen irgendwie an seinen Fuß zu kommen, um sich aus der Umklammerung zu befreien, doch es gelang ihm nicht. Sebastian merkte, wie ihm die Sauerstoff ausging und wurde panisch. Er öffnete den Mund, wie um nach Luft zu schnappen, doch alles was in seine Lungen gelangte war das schmutzige Seewasser. Marie musste doch eigentlich sehen, dass etwas nicht stimmte oder etwa nicht? Vielleicht müsste er noch heftiger strampeln, damit sie die Bewegung des Wassers sah. Doch er merkte, wie ihn seine Kräfte langsam verließen. Ein letztes Mal bäumte er sich auf, versuchte seinen Fuß zu befreien, doch es gelang ihm nicht und während die letzte Energie aus seinem Körper wich, fragte er sich plötzlich, ob Carina tatsächlich Selbstmord begangen hatte.

Isabel riss erschrocken die Augen auf. Nein, sie hatte das Schreien nicht geträumt, es war tatsächlich da. Und endlich erkannte sie auch, von wem es stammte: Marie. Seufzend schloss sie die Augen. Was war denn wieder los? Hatte ihre beste Freundin etwa eine Kakerlake oder eine Spinne entdeckt? Sie wünschte sich, dass Marie aufhörte, doch das Schreien hielt an. Irgendwo in dem Bungalow sprangen Leute herum, und rannten nach draußen, dennoch wurde es nicht still. Es war genauso wie gestern Abend, als sie Carina gefunden hatten. Isabel fuhr aus dem Bett hoch. Schnell sprang sie auf, zog sich ihren Rock vom Vortag über und schlüpfte in ihre Sandalen. Dann rannte sie los, durch das Wohnzimmer über die Terrasse und den kurzen Weg hinüber zum See. Sie sah, dass Oliver und Michael voll angezogen im Wasser waren. Marie stand am Ufer des Sees, einen unbestimmten Punkt fixierend, und schrie. Isabel rannte auf sie zu und rief: „Marie, was ist denn los?” Ihre Freundin sah sie an, doch irgendwie war ihr Blick leer, als wenn sie Isabel gar nicht wahrnehmen würde. Dann hob sie den Arm und deutete auf den Punkt im See, den sie gerade so angestarrt hatte. Isabel wandte den Blick und dann sah sie es auch. Ein lebloser Körper, der auf der Wasseroberfläche lag, das Gesicht im Wasser. „Oh mein Gott, bitte nicht,” flüsterte Isabel heiser und sah entsetzt zu, wie Oliver und Michael auf den See hinausschwammen. Sie waren noch ein ganzes Stück von dem Körper entfernt. Wer war die Person, die so leblos im See trieb? Sie kniff die Augen zusammen, konnte jedoch nichts erkennen, die Entfernung war einfach zu groß. Für eine Sekunde schloss sie die Augen, dann trat sie auf Marie zu und nahm sie in die Arme, damit endlich das Schreien aufhörte. Und es funktionierte. Hemmungslos fing Marie an, an ihrer Schulter zu weinen. „Es ist Sebastian,” flüsterte sie leise. Isabel schluckte. Das war fast unmöglich. Sebastian war beim DLRG gewesen, hatte als Rettungsschwimmer einige Menschenleben gerettet, wie sollte er in einem so ruhigen Gewässer, in dem es keinerlei Strömungen gab, ertrinken? Es konnte nicht sein, und es durfte nicht sein. Nicht Sebastian, mit dem sie so lange befreundet gewesen waren. Isabel spürte, dass sie weinte. Ihr Shirt war bereits von Maries Tränen ganz nass und nun kamen noch die Tränen dazu, die über ihre Wange liefen. Doch nichts von dem spielte eine Rolle.

Es war tatsächlich Sebastian, wie Marie gesagt hatte. Michael und Oliver waren nur noch wenige Meter von der leblosen Person entfernt, und man konnte sie jetzt ganz deutlich erkennen. Endlich hatten sie ihn erreicht und drehten ihn schnell auf die andere Seite, um sein Gesicht aus dem Wasser zu bekommen. Als er das aufgedunsene Gesicht seines Freundes sah, drehte sich Michael der Magen um. Sebastian war tot, das war ohne Zweifel zu erkennen. Wie hatte das passieren können, wo Sebastian doch so ein guter Schwimmer war? „Oh mein Gott,” sagte Oliver leise. Er wirkte ehrlich geschockt, – so hatte Michael ihn noch nie gesehen. „Wir müssen ihn ans Ufer bringen,” murmelte er. Im Gegenteil zu Sebastian war Michael kein besonders guter Schwimmer. „Bist du verrückt? Willst du ihn ernsthaft zu Marie und Isabel bringen? Willst du wirklich, dass sie ihn so sehen?” Michael schwieg. Er wollte sich kaum vorstellen, wie die Beiden reagieren würden, wenn sie Sebastian sahen. Doch was blieb ihnen anderes übrig? Sie konnten ihn doch nicht einfach hier so im See treiben lassen. Das sagte er Oliver, der ihm zustimmte. „Ja, uns bleibt wohl keine andere Wahl, schleppen wir ihn an den See!”

Auch Thorben war von Maries Schreien wach geworden, allerdings später als die anderen. Er hatte einen sehr tiefen Schlaf und war so in seinen Träumen versunken, dass er das Geschrei zunächst als Teil seines Traums gesehen hatte. Erst jetzt merkte er, dass er sich das Ganze nicht eingebildet hatte, nein, das Schreien war Realität, irgendetwas war passiert. Thorben sah gerade noch, wie Isabel durch die Terrassentür verschwand, dann richtete er sich schnell auf, um ihr hinterherzulaufen. Ein leichtes Schwindelgefühl überkam ihn, wie immer wenn er zu schnell aufgestanden war. Er schloss die Augen, um sein Gleichgewicht wiederzugewinnen, und hörte plötzlich Schritte hinter sich. Scheinbar war noch jemand erst jetzt aufgewacht. Doch bevor er sich umdrehen konnte, spürte er plötzlich wie ein schwerer Gegenstand gegen seinen Kopf schlug und bewusstlos sank er zu Boden.

Sie standen zu viert um ihn herum und starrten auf ihn herab. Er war tot, und sie wussten es. Sie hatten nicht einmal versucht, ihn wiederzubeleben, denn sie wussten, dass es sinnlos wäre. Marie konnte durch ihre Tränen kaum etwas sehen. Wahrscheinlich war es auch besser so. Sie war unfähig sich zu bewegen, unfähig etwas zu sagen, unfähig zu denken. Sie wusste nur, dass sie weg von hier wollte. Plötzlich fiel ihr auf, dass Thorben fehlte, doch dann verschwand der Gedanke direkt wieder aus ihrem Kopf und ein anderer trat an seine Stelle: Sebastian ist tot. Warum? Warum war das passiert? Wie hatte es überhaupt passieren können? Das Wasser des Sees schien so still zu sein, so friedlich. Hatte er vielleicht einen Krampf bekommen? Aber dann hätte er doch sicher um Hilfe gerufen, oder etwa nicht? Plötzlich und völlig unerwartet kam ein anderer Gedanke: Hatte er um Hilfe gerufen und sie hatte es nicht gehört? War das möglich? Stöhnend schloss sie die Augen. Sie hatte keine Schuld. Es war ein furchtbarer Unfall gewesen. Vielleicht war Sebastian schon Stunden bevor sie aufgestanden war, nach draußen gegangen und im See ertrunken. Woher sollte sie das wissen? Sie alle waren keine Pathologen, konnten den Todeszeitpunkt sowieso nicht bestimmen. Und es war ja auch egal. Sebastian war tot. Einer ihrer besten Freunde war gestorben, – ertrunken. Irgendwo in ihrem Hinterkopf pochte noch immer die Frage, wo Thorben war, doch sie verdrängte sie.

Er war auf einen Stuhl gefesselt worden. Irgendwo, in einem der anderen Bungalows, saß Thorben auf einem Stuhl, geknebelt, sodass er nicht um Hilfe rufen konnte. Was war passiert? Er wusste nur, dass er extreme Kopfschmerzen hatte. Ihm fiel ein, dass Marie geschrieen hatte. Das hatte ihn aufgeweckt. Doch als er aufgestanden war, war ihm plötzlich schwindelig geworden. Hatte er das Bewusstsein verloren und war auf den Boden geknallt? Dann erinnerte sich daran, dass er plötzlich einen schweren Schlag auf den Hinterkopf bekommen hatte. Irgendjemand hatte ihn niedergeschlagen. Aber wer, und warum? Doch sicher nicht, um ihn hier, in dem schmutzigen Bungalow an einen Stuhl gefesselt sitzen zu lassen. Erst hatte er gedacht, dass seine Freunde sich einen kleinen Scherz mit ihm erlaubt hatten. Aber das war natürlich unmöglich. Sie hätten ihn doch nie niedergeschlagen, schon gar nicht, nach dem, was gestern mit Carina passiert war. Und offensichtlich war ja noch etwas geschehen, sonst hätte Marie kaum angefangen so zu schreien. Thorben hörte, wie sich die Tür zu dem Bungalow öffnete, und sich langsam Schritte näherten. Dann sprach eine Stimme zu ihm: „Na, bist du wieder wach?” Er wusste ganz genau, wem diese Stimme gehörte, doch wegen dem Knebel in seinem Mund, konnte er nichts entgegnen.

Michael war zurück in ihren Bungalow gegangen, auf der Suche nach Thorben. Doch er war nicht da. Wo konnte er bloß stecken? Als er, durch Maries Schreie geweckt, nach draußen gestürmt war, hatte Thorben doch noch auf dem Sofa gelegen und fest geschlafen, oder etwa nicht? Doch jetzt war er nicht mehr da. Wo konnte er hingegangen sein? Es war fast unmöglich, dass er von dem ganzen Trubel nichts mitbekommen hatte. Wo mochte er also stecken? Michael spürte wie Wut in ihm aufstieg. Marie und Isabel waren völlig fertig mit den Nerven, wollten nur noch hier weg, und ihm und Oliver ging es auch nicht viel besser. Ungeduldig warf er einen Blick auf die Uhr. Es war mittlerweile halb zwölf. Wenn sie nicht bald hier wegkamen, würden sie heute nicht mehr wegkommen. Schließlich hatten sie keine Batterien mehr für ihre Taschenlampen und wenn er etwas noch weniger wollte, als hier zu bleiben, dann war das im Dunkeln im Wald zu stehen. Und er war sich sicher, dass die anderen es genauso sehen würden. Michael warf einen Blick aus dem Fenster. Er konnte Oliver nicht entdecken, aber Isabel und Marie standen immer noch an der Stelle am See, an der sie den toten Sebastian abgelegt hatten und hielten sich an den Händen fest. Sie machten einen völlig verstörten Eindruck und plötzlich hatte Michael Angst, dass eine von Beiden durchdrehen würde. Sie mussten dringend hier weg. Michael beschloss, zu Oliver zu gehen, der irgendwo draußen sein musste, und mit ihm gemeinsam nach Thorben zu suchen. Doch als er auf die Terrasse trat und sich umblickte, konnte er auch Oliver nirgendwo entdecken. Michael wurde immer wütender. Oliver wusste doch, dass sie zurück laufen wollten, wo also war er jetzt hingegangen? Seufzend ging er zu Isabel und Marie und fragte leise: „Seid ihr okay? Ich meine, einigermaßen?” Was er eigentlich meinte war: Seid ihr so weit stabil, dass ihr nicht in der nächsten Sekunde total hysterisch werdet? Isabel schien ihn verstanden zu haben, denn sie entgegnete: „Uns geht es nicht besonders gut, aber wir werden nicht gleich behaupten, dass hier alles verflucht ist oder so.” Michael lächelte leicht, obwohl ihm nicht danach zumute war, doch dann sagte Marie still: „Ich bin mir da nicht so sicher.” „Marie,…” flüsterte Isabel, wurde jedoch unterbrochen: „Ich meine es ernst. Sebastian ist …war… ein guter Schwimmer. Der ertrinkt doch nicht einfach so.”

Wenn sie gewusst hätten, dass sie mit dieser Aussage recht gehabt hatte. Irgendetwas stimmte nicht. Natürlich war der Ort nicht verflucht, aber dennoch: Etwas stimmte nicht. Jetzt wusste sie, dass es tatsächlich so war. Doch die Erkenntnis war zu spät gekommen.

Nach etwa einer halben Stunde war Oliver wieder aufgetaucht. Isabel war nicht bewusst gewesen, dass sie so lange dort gestanden hatten und sich bemüht hatten, Marie davon zu überzeugen, dass der Ort nicht verflucht war oder gar sie selber verflucht waren. Natürlich war auch ihr und Michael klar, dass Sebastian nicht einfach so ertrunken war. Aber mittlerweile waren sie der festen Überzeugung, dass er tatsächlich einen Krampf im Wasser gehabt hatte und es nicht mehr ans rettende Ufer zurückgeschafft hatte. Und davon überzeugten sie auch Marie. Dann tauchte plötzlich Oliver wieder neben ihnen auf und Michael fragte in einem scharfen Tonfall nach, wo er gewesen war, doch Oliver, der, wie Isabel bemerkte, sehr blass war, entgegnete nur: „Im Wald.” „Bist du dabei Thorben begegnet?” fragte Michael nach, doch Oliver schüttelte den Kopf. Langsam wurde Isabel nervös. Erst gerade hatte sie über eine halbe Stunde auf Marie eingeredet, versucht sie davon zu überzeugen, dass es keine Flüche gab und dann verschwand auch noch Thorben auf so mysteriöse Weise. Doch dafür musste es eine Erklärung geben. Es musste, auch wenn ihr im Augenblick keine passende einfiel. Auf jeden Fall würden sie ihn suchen müssen.

Er konnte seine Freunde draußen hören, wie sie umherliefen und seinen Namen riefen, nach ihm suchten. Doch der Knebel in seinem Mund vermied es, dass er antworten konnte. Die Stimmen waren kurz näher gekommen, entfernten sich jedoch rasch wieder. Dann kamen sie erneut näher, bevor sie endgültig im Wald verschwanden. „Die wären wir los,” sagte die Stimme hinter ihm, und er kam zurück und setzte sich Thorben gegenüber auf einen Stuhl und sah ihn lange und nachdenklich an. „Sie werden dich jetzt eine ganze Zeit lang im Wald suchen. Aber ich werde ihnen helfen dich zu finden. Und bevor sie realisiert haben, was passiert ist, wird der nächste von ihnen sterben.” Er lachte auf und Thorben musste schwer schlucken, was mit dem Knebel im Mund gar nicht so einfach war. „Willst du wissen, was ich mit Carina und Sebastian gemacht habe?” fragte er. Thorben nickte heftig. Wenn er ihn lange genug am Reden hielt, würden seine Freunde ihm vielleicht doch noch zu Hilfe kommen können. Er musste nur einen Weg finden, um irgendwie auf sich aufmerksam zu machen. Wenn er es irgendwie schaffen könnte, die alte Lampe, die auf dem kleinen Tisch hinter ihm stand, umzuschmeißen,… Dann stutze er plötzlich? Hatte er gerade Sebastian gesagt? Sebastian war tot? Entsetzt hörte er den Schilderungen zu, erfuhr wie er Sebastian hinunter zum See gefolgt war. Erfuhr, dass er die ganze Zeit über das alles hier geplant hatte, dass er eine Taucherausrüstung dabei hatte und während Sebastian in die Mitte des Sees geschwommen war, er ihm gefolgt war und auf halbem Weg auf ihn gewartet hatte. Dann hatte er den nichts ahnenden Sebastian hinunter in die Tiefe des Sees gezogen, und ihn nach etwa zwei Minuten wieder los gelassen, damit er noch einmal Luft holen konnte, um ihn dann endgültig ertrinken zu lassen. Wie war es wohl zu ertrinken? Thorben konnte es sich nicht vorstellen. Andererseits wusste er auch nicht, was ihm für ein Schicksal blühte. Vielleicht war es sehr viel schlimmer, als „nur” zu ertrinken. „Sie glauben tatsächlich, dass Sebastian ertrunken ist. Da siehst du mal, wie wichtig ihnen ihre angeblich besten Freunde sind! Sie wissen nicht einmal, dass Sebastian ein super Schwimmer war. Sie halten es für einen verdammten Unfall!” Fassungslos schüttelte er den Kopf. Es schien als hätte er mehr zu sich selbst gesprochen und würde sich erst jetzt wieder Thorbens Anwesenheit bewusst werden. Er sah ihn an und sagte: „Carinas Tod war natürlich auch kein Selbstmord. Als wenn sie sich umbringen würde. Völlig an den Haaren herbei gezogen. Auf jeden Fall,” und jetzt lächelte er verträumt, „werden sie bei deinem Tod nicht denken, dass es ein Selbstmord war!” Thorben sah ihn entsetzt an. Was deutete er damit bloß an? Wollte er ihn etwa aufschlitzen und seine Eingeweide draußen verteilen oder etwas anderes in der Art? Aber so etwas würde er doch nicht tun. Oder? Plötzlich war er ihm ganz nahe gekommen und flüsterte ihm ins Ohr: „Willst du wissen, was ich mit dir vorhabe?” Thorben zuckte zusammen. Wollte er wirklich wissen, was dieser … Psycho … mit ihm vorhatte? Doch er hatte keine Möglichkeit, der Antwort zu entkommen, so sehr er es auch wollte, denn er hatte bereits seinen Mund geöffnet und es ihn wissen lassen. Thorben wurde kalkweiß im Gesicht und als er das sah, fing er an zu lachen, ein lautes, diabolisches, fast schon unmenschliches Lachen. Dann wandte er sich ab und verließ das Zimmer. Thorben spürte, wie ihm Tränen über das Gesicht liefen und dann musste er voller Entsetzen feststellen, dass sich aus lauter Angst seine Blase entleert hatte. Von sich selber angewidert, versuchte er sich wieder zu fangen, doch es gelang ihm nicht, die nackte Angst stand ihm ins Gesicht geschrieben, und als er in das Zimmer zurückkehrte, und sah, was passiert war, fing er nur noch mehr an zu lachen und Thorben bekam es nur noch mehr mit der Angst zu tun. „Na, kleiner Thorben, womit soll ich beginnen?” fragte er und wetzte lachend die beiden Messer, die er in den Händen hielt. Thorbens Augen weiteten sich angstvoll und er wünschte sich, dass er das Bewusstsein möglichst bald verlor, denn die Angst vor den Schmerzen die kommen würden, war vermutlich um einiges schlimmer, als die Schmerzen an sich. Sein Peiniger lachte erneut auf, dann trat er mit einer schnellen Bewegung auf Thorben zu und riss ihm den Knebel aus dem Mund, doch bevor Thorben sich so weit gefangen hatte, dass er nach Hilfe hätte schreien können, wurde ihm bereits der Mund aufgerissen und mit einer einzigen schnellen Bewegung schnitt er ihm die Zunge ab. Als Thorben dann endlich versuchte zu schreien, war das einzige, was aus seinem Mund kam, ein Schwall von Blut. Entsetzt sah er zu, wie er seine abgeschnittene Zunge einfach achtlos auf den Boden warf, wie sie noch eigenständig ein wenig herum zucke, bevor sie zum Liegen kam. Dann holte er erneut aus und schlug ihm mit einer ebenso schnellen Bewegung das rechte Ohr ab. Vor Schmerzen und durch den plötzlichen Blutsverlust, verlor er endgültig das Bewusstsein. Er merkte nicht mehr, wie ihm auch noch das andere Ohr abgeschnitten wurde und als er mit einem Löffel begann, Thorben die Augen aus den Höhlen zu reißen, war er bereits tot. Sein Peiniger stand auf, sah glücklich in die toten Augen seines Opfers und nahm sie an sich, um sie so zu drapieren, dass sie das erste wären, was die anderen entdeckten, wenn sie den Bungalow betraten. Bei dem Gedanken an die Schreie der beiden Frauen musste er wieder lachen. Er konnte es kaum abwarten, doch jetzt musste er zunächst einmal von hier verschwinden.

Vom Waldrand aus konnte er alles genau beobachten. In freudiger Erwartung grinsend beobachtete er, wie Isabel, Marie und Michael sich auf den Weg zu dem Bungalow machten, in dem sie eine freudige Überraschung erwartete. Er hatte alles so perfekt geplant und war unglaublich stolz auf sich. Bisher war alles mehr als glatt gelaufen. Er hatte Carinas Tod als Selbstmord und Sebastians Tod als Unfall aussehen lassen, damit die anderen nicht bereits nach dem ersten Todesfall die Flucht ergriffen. Dann hätte er die anderen nämlich nicht schnappen können. Aber so war es ein Kinderspiel gewesen, Thorben alleine aufzufinden und umzubringen. Wenn er gewollt hätte, wären sie bereits alle tot. Aber das wollte er nicht. Das war zu einfach. Er wollte sie leiden lassen, wollte sich an ihrer Angst und ihrer Panik weiden. Es gefiel ihm. Er bedauerte, dass er Thorben als erstes die Zunge abgeschnitten hatte, und nicht bei den Ohren begonnen hatte. Wie gerne hätte er seine Schreie gehört, den Schmerz und das Entsetzen. Aber die Gefahr der Entdeckung war zu groß gewesen. Er wollte nicht entdeckt werden, durfte nicht entdeckt werden. Nicht, bevor sie alle das bekommen hatten, was sie verdienten. Er lächelte. Sie waren jetzt nur noch wenige Meter von dem Bungalow entfernt. Er konnte es kaum erwarten zu sehen, wie sie die Tür aufmachten und wie ihnen dann als erstes Thorbens kalte, tote Augen anstarren würden, die er schön auf einem kleinen Tisch postiert hatte. Diese Augen, die ihn mit unverhohlenem Entsetzen, aber auch einem Ausdruck von Ekel angesehen hatten, während Thorben starb. „Oh ja, er hatte Angst vor mir, ihr alle werdet Angst vor mir haben,” dachte er. Dabei waren die Hinweise so deutlich. Bei Carina, genauso wie bei Sebastian. Und jetzt. Einen deutlicheren Hinweis hätte er ihnen gar nicht geben können. Falls sie sich überhaupt die Leiche ansehen würden, müssten sie es sofort erkennen. Aber Isabel und Marie würden vermutlich sobald sie die Augen sahen, schreiend weglaufen. Inständig hoffte er, dass Michael weitergehen würde. Er hatte doch alles so schön arrangiert. Thorben war jetzt alle drei Affen in einer Person. Er hörte nichts. Er sah nichts. Und er konnte nicht mehr sprechen. Erregung packte ihn, als er sah, wie Isabel dicht gefolgt von Michael und Marie, die wenigen Stufen zur Terrasse hinauflief. Er musste sich die Hand vor den Mund pressen, um nicht laut loszulachen.

 

Die Welt um sie herum schien sich zu drehen. Das konnte nicht wahr sein, es durfte nicht wahr sein, doch sie wusste, dass es so war. Isabel hatte nur einen kleinen Blick in den Bungalow geworfen, doch der hatte bereits gereicht. Thorbens Augen, aus ihren Höhlen herausgerissen hatten sie, von einem Tisch aus, angestarrt. Sie spürte wie erneut ein Gefühl der Übelkeit in ihr aufstieg und übergab sich ein zweites Mal. Marie stand hinter ihr. Michael hatte es geschafft, sie davon abzuhalten ebenfalls in den Bungalow zu blicken und das war auch besser so. Langsam stand Isabel auf, und ging, gefolgt von der schweigenden Marie zurück zum See. Sie brauchte kaltes Wasser, doch auch das würde die Sache nicht viel besser machen. Sie wusste plötzlich, dass es kein Fluch war, wie Marie zunächst vermutet hatte. Aber die Wahrheit war auch nicht sehr viel besser. Irgendein Psycho trieb sich hier im Wald herum, und hatte vermutlich auch Sebastian umgebracht. Ob er auch für Carinas Tod verantwortlich war? Wenn, dann müssten die Ärzte doch bald feststellen, dass sie keinen Selbstmord begangen hatten. Und dann würde man sich um sie sorgen, und sie retten kommen, oder etwa nicht? Hatte Karsten es überhaupt bis in die nächste Stadt geschafft oder hatte der Irre auch ihn vorher umgebracht? Isabels Gedanken rasten. Sie fühlte sich wie in einem schlechten Horror-Film, in dem nach und nach alle umgebracht wurden, und sie war mitten drin. Doch das war kein Film, das hier war die Realität. In den Filmen wurden die Leute ja auch immer von irgendeinem Freund umgebracht, der sich unauffällig im Hintergrund hielt, und dann im richtigen Augenblick zuschlug. Der Gedanke traf sie wie ein Schlag. Wo war eigentlich Oliver? Wo war er heute Morgen gewesen, als er behauptete er wäre im Wald gewesen. Überhaupt, was tat man eine halbe Stunde im Wald? Und was hatte er getan, während sie nach Thorben suchten? Er hatte vorgegeben im Wald suchen zu wollen, aber wo war er nun tatsächlich? War er etwa derjenige,… Aber das konnte nicht sein. Nein, wie gesagt, es war irgendein Psycho, der aus einer Anstalt entkommen war und jetzt im Wald sein Unwesen trieb. Doch die plötzliche Angst blieb. Isabel sah auf, und merkte wie Marie sie ansah, bevor sie leise fragte: „Isabel, was… Was ist denn los? Was war in diesem Bungalow?” Isabel stöhnte auf. Schon wieder dieses Bild, diese Augen, die sie irgendwie vorwurfsvoll anstarrten. Sie unterdrückte den Würgereiz und murmelte nur: „Es ist Thorben.” Sie wollte Marie die grausigen Details ersparen. Sie sah, dass Michael blass und langsam auf sie zutrat. Während sie weggerannt war, war er in den Bungalow hineingegangen um nach Thorben zu sehen, und offensichtlich hatte er ihn auch gefunden. Dafür sprach jedenfalls sein trauriger, leicht angewiderter Blick. „Geht’s wieder?” fragte er sanft und nahm Isabel in die Arme. Sie nickte und spürte, wie Tränen in ihr aufstiegen, doch sie unterdrückte sie, erst einmal musste sie erfahren, was mit Thorben passiert war. „Setzt euch mal,” sagte Michael, immer noch in diesem sanften Tonfall und gehorsam setzten Isabel und Marie sich auf den Boden. Er hatte wohl vermeiden wollen, dass sie umkippten oder ähnliches. Einen Moment zögerte er noch, dann berichtete er schließlich den Beiden, in was für einem Zustand er Thorben aufgefunden hatte, die abgeschnittene Zunge auf dem Boden liegend und daneben die Ohren. „Die drei Affen,” murmelte Marie, wie zu sich selbst. Isabel, der schon wieder schlecht war, hatte ihr kaum zugehört, doch Michael fragte interessiert nach: „Was?” Marie sah ihn erstaunt an, und wiederholte: „Die drei Affen. Sie sehen nichts, hören nichts und sagen nichts.” Michael runzelte leicht die Stirn, und auch Isabel blickte Marie interessiert an: Sollte dies alles vielleicht doch nur ein komischer Zufall sein? War es möglich, dass Carinas Tod ein Selbstmord, Sebastians Tod ein Unfall und Thorbens Tod ein Mord war? Wollte irgendjemand verhindern, dass Thorben etwas sagte? Hatte Thorben etwas gesehen, wovon sein Mörder auf keinen Fall wollte, dass er es ausplauderte? Ein Teil in Isabel wollte, dass dies die Lösung war. Sie wollte nicht in Gefahr sein, wollte nicht von einem Verrückten gejagt werden, wollte nicht dass einem ihrer Freunde auch noch etwas passierte, dass sie alle auf grausigste Art sterben mussten. Sie wollte, dass das alles nur ein dummer Zufall war, dass sie mit Marie, Michael und Oliver am nächsten Tag unbehelligt in die Stadt zurückkehren könnte. Doch ein Teil von ihr wusste, dass es nicht so sein würde. Als sie aufblickte, entdeckte sie Oliver, der langsam vom Waldrand aus, auf sie zugeschlendert kam, und erneut drängte sich ihr die Frage auf, wo er gewesen war. Schnell sprang sie auf, und auch Marie und Michael erhoben sich. „Und, irgendein Zeichen von Thorben?” fragte Oliver, nachdem er die kleine Gruppe erreicht hatte und sah in die Runde. „Wo bist du gewesen?” fragte Isabel scharf und sah Oliver unverwandt an. Dieser zog die Stirn kraus und entgegnete mit einem fragenden Unterton: „Im Wald? Auf der Suche nach Thorben? Wieso, was ist denn los?” „Und wo warst du heute morgen, zu dem Zeitpunkt, wo Thorben verschwunden ist?” hakte sie nach, den Blick nicht von ihm nehmend. Oliver antwortete nicht, doch Michael wollte verwunden wissen: „Isabel, was soll das denn jetzt?” da fing sie an zu weinen und entgegnete: „Thorben ist ermordet worden, und der einzige, der als er verschwunden ist, nicht da war, war Olli. Und der einzige, von dem wir nicht wissen, wo er die letzte Stunde war, ist auch Olli.” Oliver sah Isabel erschüttert an, dann rief er plötzlich: „Du spinnst wohl!”, holte aus und versetzte Isabel eine Ohrfeige. Erschrocken schrie sie auf und hielt sich die schmerzende Wange, jetzt wirklich weinend. „Hast du noch alle Tassen im Schrank?” brüllte Michael und wollte sich Oliver vorknüpfen, doch der riss sich los und schrie: „Ich lasse mich doch nicht als Mörder abstempeln! Sie -,” er deutete auf Isabel, „ist ja völlig hysterisch.” Isabel, die mittlerweile in Maries Armen lag, und weinte sah ihn nicht an, doch er fügte noch hinzu: „Es war ja nicht feste, und Isabel, es tut mir leid, aber es musste sein.” Isabel sagte nichts, doch sie wusste, dass er Recht hatte. Sie hatte die Kontrolle verloren, hätte ihn nicht beschuldigen dürfen. Wenn sie sich jetzt gegenseitig misstrauten, waren sie wirklich alle in Gefahr. Sie mussten zusammenhalten, durften sich nicht durch solche Vorwürfe, für die es ja nicht einmal einen Beweis gab, auseinander bringen lassen. Es war keiner von ihnen gewesen. Warum auch? Weder Carina, noch Sebastian, noch Thorben hatten einem von ihnen irgendetwas getan. Es gab einfach keinen Grund sie umzubringen. Und Oliver kannte Carina ja nicht einmal besonders gut. Warum sollte er jemanden umbringen, den er nicht einmal kannte? Nein, es war irgendein Wahnsinniger gewesen, der sich, vor der Polizei im Wald versteckte. Vielleicht hatte er sich sogar in einem der Bungalows häuslich niedergelassen und sah sie jetzt als Bedrohung an und hatte Angst vor Entdeckung. Oder Thorben hatte ihn sogar entdeckt, was auch das Zeichen mit den drei Affen erklären würde. Ja, das würde es sein. Sie müssten einfach nur von hier verschwinden, am besten sofort, dann würde er sie in Ruhe lassen. Oder er würde sie verfolgen, weil er befürchtete, dass sie direkt die Polizei holen würden, was ja auch nahe lag. Am wichtigsten aber war wirklich, dass sie zusammenhielten und auch zusammenblieben. Keiner durfte mehr alleine irgendwohin gehen und am nächsten Morgen würden sie direkt in die Stadt zurücklaufen und alles würde wieder gut werden. Isabel holte einmal tief Luft und brachte schließlich ein leises „Mir tut es leid,” hervor. Oliver kam zu ihr und nahm sie in die Arme, und damit war zu mindestens das wieder geklärt.

Hatte sie sich womöglich in dem Bungalow versteckt, in dem Thorben…? Sie wusste es nicht und wollte es auch irgendwie nicht wissen. Es war alles so dunkel gewesen und irgendwie hatte sie vollkommen die Orientierung verloren. Sie war einfach in irgendeinen der Bungalows gestürzt und hatte sich hinter dem Sofa versteckt, in blinder Panik. Der Gedanke, dass Thorben hier vielleicht immer noch irgendwo saß, ließ das altbekannte Gefühl von Übelkeit in ihr aufsteigen. Aber sie wusste, dass sie sich zusammenreißen musste. Sie war bestimmt nicht ausgerechnet in den Bungalow geflohen, in dem er Thorben umgebracht hatte. Doch wer konnte das schon wissen? Im Grunde genommen sahen die Bungalows doch alle gleich aus. Sie schloss die Augen und versuchte an etwas anderes zu denken.

 

Sie hatten sich zu viert in den großen Bungalow zurückgezogen, um zu beratschlagen, was nun zu tun war. Marie wollte weg. Sie wollte nicht eine Sekunde länger hier, in diesem Park bleiben, denn jetzt war sie immer mehr der Meinung, dass der Ort verflucht war. Und wenn schon nicht verflucht, dann trieb sich auf jeden Fall ein Verrückter hier herum, der sie umbringen wollte. Aber warum? Sie hatten doch niemandem etwas getan. „Ich denke wirklich, dass Thorben vielleicht etwas beobachtet hat und deshalb umgebracht wurde,” sagte Oliver jetzt. „Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass hier irgendjemand herumläuft und irgendwelche Leute umbringt. Das mit Sebastian war einfach ein tragischer Unfall und Carina, na ja, wer kann schon wissen, was in ihrem Kopf vor sich ging?” Entschieden schüttelte Michael den Kopf: „Nein, Olli, das glaube ich einfach nicht. Das kann doch kein Zufall sein. Drei Tote in weniger als einem Tag.” „Eure blöde Diskussion führt doch zu nichts,” mischte Marie sich aufgebracht ein, „können wir nicht einfach mal überlegen, was wir jetzt tun sollen? Ich will hier weg.” Isabel, die sich genau wie Marie aus der Diskussion herausgehalten hatte, nickte bei diesen Worten leicht mit dem Kopf. „Marie,” sagte Michael jetzt ruhig, „wir können nichts tun. Du hast Recht: Wir wissen nicht, was hier vor sich geht. Sei es, dass Olli Recht hat, oder dass ich Recht habe. Auf jeden Fall ist es zu gefährlich, sich jetzt hinaus zu wagen.” Marie wusste, dass es stimmte. Sie hatten mittlerweile nach 16 Uhr und in weniger als zwei Stunden würde es im Wald stockdunkel werden. Sie hatten keine funktionsfähigen Taschenlampen mehr und selbst wenn sie immer auf der Hauptstraße blieben, es war einfach zu gefährlich. Wie leicht könnte jemand stolpern und sich sonst was brechen und dann würden sie wirklich ziemlich dumm da stehen. „Aber was ist, wenn du Recht hast?” fragte sie leise und sah Michael ernst an, „was ist, wenn sich tatsächlich ein Psycho hier herumtreibt, der uns alle umbringen will? Wenn wir hier bleiben, dann sind wir doch eine leichte Beute für ihn.” „Nein,” Michael schüttelte den Kopf. „Er wird nicht einfach hier reinplatzen und uns erschießen oder so, das hätte er schon viel früher machen können. Wenn dann wird er abwarten wollen, bis er einen von uns alleine erwischt. Und das,” sagte er leise, „darf einfach nicht passieren.” „Ja,” stimmte Oliver zu, „wenn wir einfach hier zusammen in dem Bungalow bleiben, dann kann uns nichts passieren. Morgen früh, sobald es hell wird, machen wir uns dann gemeinsam auf den Weg.” „Wenigstens stimmen wir in dem Punkt überein,” entgegnete Michael und lächelte etwas.

Er würde nur abwarten müssen. Sie hatten nun erkannt, dass Carina und Sebastian nicht zufällig gestorben waren. Gut, das hatte er gewollt. Er wollte, dass sie sich vor Angst fast in die Hose machten. Früher oder später würde er schon den nächsten von ihnen erwischen, alleine erwischen. Und wenn er bis morgen früh würde warten müssen. Spätestens, wenn sie morgen losliefen, wäre seine Chance gekommen. Er lächelte immer noch daran denkend, wie sie ausgesehen hatten, als sie Thorben gesehen hatten. Vermutlich dachten sie, dass er sich für sie genau das Gleiche ausgedacht hätte. Aber das war ja albern. Viel zu einfach. Und langweilig. Nein, nein, er hatte sich für alle etwas besonders ausgedacht, etwas, was passte. Er musste nur aufpassen, dass er sich nicht verriet. Auf jeden Fall so lange nicht, bis nur noch einer von ihnen übrig war. Er lächelte. Ja, er hatte Zeit. Er würde warten können.

 

Michael lief auf und ab. Oliver beobachtete ihn schweigend, ohne etwas zu sagen, aber es machte ihn nervös. Konnte er sich nicht einfach hinsetzen und ruhig sein, so wie sie anderen es taten? Er, Isabel und Marie saßen schon seit einer ganzen Zeit einfach so da und starrten vor sich hin. Am Anfang hatte Michael auch bei ihnen gesessen, aber jetzt lief er unruhig hin und her, warf einen Blick durch die zugezogenen Gardinen nach draußen, überprüfte, ob die Tür tatsächlich gut verschlossen war. Sie hatten einige Stühle und Tische vor die Tür geschoben und sichergestellt, dass die Fenster sicher verriegelt waren. Sie wollten darauf vorbereitet sein, wenn der Wahnsinnige, wenn er denn existierte, kam. Das bezweifelte Oliver zwar immer noch, aber wenn es die anderen beruhigte, sollte es ihm nur Recht sein. Überhaupt, wenn es hier wirklich einen Verrückten gab, dann hatten sie sich doch im Grunde genommen selber ausgetrickst. Der Typ bräuchte nur das Haus in Flammen zu setzen und sie würden durch ihre aufgebauten Barrikaden nicht mehr herauskommen. „Michael, jetzt setz dich doch bitte wieder hin, du machst mich ganz nervös,” sagte Isabel endlich und sprach damit das aus, was sie alle dachten. „Entschuldigung,” murmelte Michael und setzte sich neben sie. Unruhig fing er jetzt an, mit dem rechten Bein auf und ab zu wippen. Oliver rollte genervt mit den Augen und auch Isabel schien selbst diese Bewegung auf den Geist zu gehen. Sanft legte sie eine Hand auf Michaels Bein, um es still zu halten. „Was ist denn los?” wollte sie leise wissen und sah Michael fragend an. Gequält antwortete dieser: „Ich müsste eigentlich mal auf Toilette.” Erstaunt sah Oliver ihn an: Sie hatten ausgemacht, dass sie die ganze Zeit zusammen bleiben würden, aber an so etwas hatten sie natürlich nicht gedacht. Sie würden ja wohl kaum alle zusammen auf die Toilette gehen können. Mal ganz davon abgesehen, dass es den großen Unbekannten nicht gab. „Ich würde sagen, wir inspizieren die Toilette gemeinsam,” schlug Oliver vor, „und wenn keiner da ist, kannst du einfach drauf gehen. Ich meine, wenn es hier wirklich jemanden geben sollte, dann bekommt er uns sowieso und ob er dich jetzt durchs Toilettenfenster erschießt oder durch die Fenster hier ist dann auch egal.” Oliver sah, wie Isabel erschauderte, aber sie sagte nichts. „Gut,” sagte Michael und stand langsam auf. Man sah ihm deutlich an, dass er Angst hatte. Deshalb sprang auch er schnell auf und ging vor in Richtung Badezimmer, dicht gefolgt von Michael. Er stieß die Tür auf und stellte fest, dass sich hier niemand würde verstecken können. Dennnoch öffneten sie die Duschkabine, schauten in alle Schränke, waren sie auch noch so klein und sahen sogar unter dem umgedrehten Wäschekorb nach. Wie zu erwarten war, war niemand da und so verließ Oliver das Badezimmer wieder und ließ Michael alleine zurück. Nach kurzer Zeit war dieser wieder bei ihnen und setzte sich wesentlich entspannter neben Isabel auf den Boden.

Das Badezimmer war die Lösung. Jetzt, wo sie es durchsucht hatten, würden auch die anderen es alleine benutzen. Gut. Schließlich hatte er sich eine gewisse Reihenfolge zurecht gelegt, wie sie sterben sollten. Er würde nur abwarten müssen, bis sein nächstes Opfer auf die Toilette ging. Er konnte es kaum erwarten. Es war an der Zeit, dass wieder jemand starb.

Marie bewegte leicht ihre steifen Beine hin und her. Die Stimmung war irgendwie furchtbar. Keiner sagte etwas, alle hingen nur trübe ihren Gedanken nach. Aber ihr selber war ja auch nicht danach zumute zu reden. Obwohl, irgendwie wünschte sie sich, dass die anderen irgendetwas Beruhigendes sagen würden, aber Oliver war scheinbar der Einzige, der wirklich daran glaubte, dass ihnen nichts drohte. Langsam stand dieser jetzt auf und verkündete leichthin, dass er auch mal auf die Toilette gehen würde. Michael nickte leicht, während Isabel kaum aufsah. Marie beobachtete, wie Oliver auf die Toilette ging und die Tür hinter sich schloss. Sie lauschte den aus dem Badezimmer kommenden Geräuschen. Ein Reißverschluss, plätscherndes  Wasser, nichts Ungewöhnliches. Doch dann war es plötzlich verdächtig still und Marie hatte ein komisches Gefühl. „Oliver? Ist alles in Ordnung?” fragte sie leicht ängstlich. Michael sah sie erstaunt an. „Er ist doch gerade mal eine Minute weg,” sagte er kopfschüttelnd. „Und warum antwortet er nicht?” rief Marie panisch und sprang auf. In diesem Augenblick hörten sie einen lauten Knall und einen markerschütternden Schrei, es war eindeutig, dass es Oliver war, der schrie. Auch Michael und Isabel sprangen jetzt auf. Marie sah, dass Isabel kalkweiß war und sich angstvoll an die Wand drückte. Auch sie selber war unsicher, wollte nicht in das Badezimmer gehen, wollte nicht sehen, was womöglich passiert war, allerdings: Vielleicht war es noch nicht zu spät. Vielleicht würden sie Oliver retten können oder würden wenigstens noch herausfinden können, wer ihnen allen das antat. Sie sah, dass auch Michael für den Bruchteil einer Sekunde zögerte, doch als er sich jetzt in Richtung Badezimmer aufmachte, ging die Tür zu diesem bereits auf und Oliver stand in der Tür.

Marie schrie. Mal wieder. Isabel hatte bloß die Augen geschlossen, und stöhnte leise. Sie konnte den Anblick nicht ertragen und hatte das Gefühl, jede Sekunde das Bewusstsein zu verlieren. Michael lief währenddessen panisch zu ihren Vorräten, riss alle Wasserflaschen auf und schüttete sie eine nach der anderen über den lichterloh in Flammen stehenden Oliver. Als das Wasser leer war, bediente er sich an der Cola und den anderen Softdrinks. Doch es brachte alles nichts. Nach kurzer Zeit brach Oliver bewusstlos zusammen und setzte damit den Holzfußboden des Bungalows in Flammen. „Wir müssen raus hier,” rief Michael und drängte sowohl Isabel als auch Marie in Richtung Tür. Schnell stieß er die ganzen Tische und Stühle zur Seite. Das Holz des Bungalows war so trocken, dass sich das Feuer in rasanter Zeit ausbreitete. Bereits nach kurzer Zeit war alles von Rauch erfüllt, doch dann stieß Michael endlich die Tür auf und zog Isabel und Marie mit sich nach draußen an die frische Luft. Es war ihr egal. Fast wünschte Isabel sich, sie selber wäre auch in den Flammen umgekommen. Der Anblick des in Flammen stehenden Olivers war noch schlimmer als alles andere. Sie hatte, nachdem sie Thorben gefunden hatten, gedacht, es könnte noch schlimmer nicht werden. Aber es wurde immer schlimmer. Es war ein Alptraum und sie wünschte, sie würde endlich aus ihm erwachen. Doch das tat sie nicht. Ungläubig starrte sie auf den in Flammen stehenden Bungalow. In dem Moment, wo sie Oliver gesehen hatte, hatte sie gewusst, dass sie ihm nicht würden zu Hilfe kommen können. Selbst wenn sie das Feuer hätten ersticken können, er wäre nach kurzem an seinen schweren Brandverletzungen gestorben. Isabel wollte sich nicht vorstellen, was für Schmerzen er hatte erdulden müssen. Er war bei lebendigem Leib angezündet worden. Genauso hatte es allen Frauen damals gehen müssen, als sie als Hexen verbrannt worden waren. Und genau das Gleiche hatte man Oliver jetzt auch angetan. Er war wie eine Hexe auf dem Scheiterhaufen einfach so verbrannt worden. Wer tat so etwas? Wer konnte einem so etwas Grausames antun? Immer noch fassungslos starrte Isabel auf den Bungalow, dessen Holzdach jetzt in sich zusammenbrach. Sie wünschte sich wirklich, sie wäre auch dort drin und jetzt tot. Sie wollte nicht daran denken, was dieser Verrückte mit ihr vorhatte. Warum tat er ihnen allen so etwas an? Ihr war nicht mehr schlecht, sie hatte nur noch Angst. Und sie wünschte sich, Marie würde endlich mit ihrem Schreien aufhören. Es tat ihr in den Ohren weh, aber Isabel befürchtete, dass wenn Marie mit dem Schreien aufhören würde, sie stattdessen wieder Olivers Schrei hörte. Diesen einzigen, furchtbaren Schrei, der ihr durch den ganzen Körper gegangen war. Der Schrei in ihrem Ohr, die Bilder vor ihren Augen. Sie schlug die Hände vors Gesicht und fing hemmungslos an zu weinen.

Das hatte er wirklich super hinbekommen. Er konnte wirklich stolz auf sich sein. Alle dachten immer, er wäre dumm, aber wenn er irgendetwas nicht war, dann war das dumm. Oh nein, er war sogar ziemlich intelligent, um nicht zu sagen genial. Ja, genial war das richtige Wort. Er hatte einfach ein wenig Benzin in das kleine Badezimmer gegossen. Das Fenster hatte er völlig leise und geräuschlos aufbrechen können. Ein Kinderspiel. Schließlich hatte er das eine ganze Zeit lang geübt gehabt und jetzt war er fast schon so gut wie ein professioneller Einbrecher. Vielleicht sollte er das zu seinem Hauptberuf machen. Immerhin war er da wirklich gut drin. Oh ja, er würde geräuschlos in die Wohnungen anderer Leute einbrechen, und wenn sie zu Hause waren, würde er sie einfach umlegen. Es war so einfach. Und niemand würde ihm auf die Schliche kommen. Oh ja, er würde professioneller Einbrecher werden. Oder Auftragskiller. So unschuldig wie er aussah, wäre er bestimmt der perfekte Auftragskiller. Und es machte ihm so viel Spaß. Menschen, in die Augen sehen zu können, während sie starben. Sie anzusehen und das Entsetzen in ihren Augen zu entdecken, versetzte ihn in eine nie gekannte Erregung. Es war wirklich faszinierend. Der Tod faszinierte ihn. Und es gab so viele verschiedene Arten, wie man Menschen umbringen konnte. Er bedauerte es ernsthaft, dass er an diesem Wochenende nicht dazu würde kommen können, es alles auszuprobieren. Aber ja, die Sache mit Oliver war genial gewesen. Und wie nicht anders zu erwarten war, hatte niemand etwas gehört. Er hatte das Fenster aufgebrochen und Benzin im Zimmer verschüttet. Überall. Und dann hatte er einen selbstgebauten Silvesterknaller in der ausgetrockneten Toilette angebracht, befestigt an einer langen, fast durchsichtigen Schnur, die aus dem Fenster nach draußen führte. Und während Oliver auf der Toilette saß, hatte er seelenruhig die Zündschnur angemacht. Die Schnur, die eine ganze Weile mit dem Benzin getränkt worden war, setzte direkt den ganzen Boden in Flammen und bevor Oliver hatte reagieren können, war der Knaller explodiert und hatte sein Shirt in Flammen gesetzt. Die Flammen vom Boden hatten in Windeseile seine Schuhe und dann seine Hose in Brand gesetzt. Und noch bevor Oliver die Tür erreicht hatte, stand er lichterloh in Flammen. Vielleicht hätte er es schaffen können. Doch in seiner blinden Panik war Oliver noch erst unter die Dusche gesprungen, deren Wasser schon vor Jahren abgeschaltet worden war. Und es waren auch keine Handtücher oder ähnliche Dinge vorhanden gewesen, mit denen man die Flammen hätte ersticken können. Und als er dann endlich bei den anderen gewesen war, war es bereits zu spät gewesen. Selbst wenn sie es geschafft hätten, die Flammen zu löschen, er wäre nach kurzer Zeit an seinen Brandverletzungen gestorben. Er lächelte. Oh ja, er hatte gute Arbeit geleistet. Und ein mehr als deutliches Zeichen gesetzt. Ob sie es verstanden hatten? Es war wirklich so klar. Und so einfach. Doch manche Menschen waren einfach so dumm und so blind und verstanden es einfach nicht. Es war so unglaublich. Aber vielleicht, wenn sie etwas zur Ruhe kämen, würde es ihnen klar werden. Vielleicht. Obwohl er es bezweifelte. Sie waren so einfältig. Marie schrie immer noch. Er musste schon wieder ein Lachen unterdrücken, auch wenn es ihm schwer fiel.

 

Michael hatte Isabel und Marie irgendwie in einen der anderen Bungalows bringen können. Was hätte er auch sonst tun sollen? Er musste nachdenken, musste einen Plan aushecken, wie er sie alle in Sicherheit würde bringen können, aber dazu brauchte er Zeit und die hatte er nicht. Sie waren so dumm gewesen. Sie hatten doch gewusst, dass sie würden zusammenbleiben müssen, dass sie nur dann eine Chance hatten. Doch jetzt war schon wieder einer von ihnen tot. Müde schloss Michael die Augen. Wenigstens hatte Marie aufgehört zu schreien. Sie und Isabel saßen still nebeneinander auf dem Boden und starrten apathisch vor sich hin. Es schien fast, als wäre es ihnen egal, was passierte. Vielleicht war es ihnen auch wirklich egal. Aber Michael war es das nicht. Er wollte sie retten, sie alle drei. Doch dazu brauchte er sie. Sie hätten gehen sollen. Direkt nachdem sie Thorben gefunden hatten, hätten sie losgehen sollen, Dunkelheit hin oder her. Jetzt war es zu spät. Wenn sie jetzt losgingen, würde er sie alle drei umbringen. Isabel und Marie wären ein leichtes Spiel. Sie würden einfach hinter ihm her durch die Dunkelheit stolpern und irgendwann wären sie plötzlich weg, in den Händen des Killers. Das durfte er auf keinen Fall riskieren. Doch wie konnte er es schaffen, die Beiden aus ihrem Schockzustand zu holen? Wie konnte er es schaffen, dass sie sich aus ihrer Apathie, ihrer Angst lösten und sich darauf konzentrierten hier wegzukommen? Michael konnte einfach nicht glauben, dass ihnen das alles wirklich egal war. Verdammt, er würde einfach sehr viel mehr Zeit brauchen. Er stand auf und ging langsam in dem Bungalow herum. Sie waren hier nicht sicher, aber wo waren sie das schon?

Oliver hatte lichterloh in Flammen gestanden. Sie konnte einfach nicht glauben, wie man dazu im Stande sein konnte, einen anderen Menschen bei lebendigem Leib anzuzünden. Die Menschen, damals im Mittelalter, hatten Angst vor Hexen. Sie hatten wirklich an Hexen geglaubt und gedacht, sie müssten sie verbrennen. Aber das war etwas völlig anderes. Oliver hatte niemandem etwas getan gehabt. Genauso wenig wie sie oder einer der anderen. Warum also zündete man sie an oder ertränkte sie in einem See? Was war wohl die angenehmste Art um zu sterben? Wahrscheinlich einfach erschossen zu werden. Etwas, das schnell ging. Aber so einfach würde er es ihr vermutlich nicht machen. Nein, genau wie die anderen würde er auch sie leiden lassen. Wenn man die Wahl hätte, zu verbrennen wie Oliver oder so hingerichtet zu werden, wie Thorben, was würde man wählen? Hatte es nicht Sebastian eigentlich am besten gehabt? Aber auch er musste leiden. Mindestens fünf Minuten hatte er bestimmt im Wasser gekämpft, bevor die Lebensgeister ihn verlassen hatten. Und auch er hatte das Bewusstsein, das Gefühl erleben zu müssen, zu wissen, dass man bald sterben würde. Was war das für ein Gefühl? Spielte es jetzt noch eine Rolle, jetzt wo sie tot waren? Für einen kurzen Augenblick spielte sie mit dem Gedanken hinunter zum See zu rennen und sich zu ertränken. Aber das durfte sie nicht. Sie war es ihren Freunden schuldig, dass sie bis zuletzt kämpfte. Jetzt, da sie wusste wer er war, musste sie dafür sorgen, dass er für das, was er ihnen allen angetan hatte, würde büßen müssen.

 

Marie war es nicht egal. Aber sie fühlte sich zu klein, zu schwach, zu hilflos. Und sie hatte Angst. Sie hatte so furchtbare Angst, dass sie unfähig war zu denken. Sie war einfach nicht in der Lage dazu, nachzudenken, zu überlegen, was sie tun sollten. Sie wollte es auch nicht. Sie wollte einfach nur da sitzen, und hoffen, dass bald alles vorbei wäre. Es musste doch mal zu Ende gehen. Dieser Verrückte konnte doch nicht sie alle umbringen wollen, oder? Sie hatte doch niemandem was getan, warum also sollte man sie also umbringen wollen? Marie hörte, wie Michael eindringlich auf sie und Isabel einredete, sie bat, nahezu anflehte, sich zusammenzureißen, doch sie hörte kaum etwas, von dem was er sagte. Ihre Gedanken rasten, Bilder traten vor ihr inneres Auge, in immer rasanterer Geschwindigkeit und sie hatte beinahe das Gefühl den Verstand zu verlieren. In ihrem Kopf schrie Oliver und das Schreien schwoll immer mehr an, bis sie dachte ihr Kopf würde gleich platzen. Dann hörte es ruckartig auf und plötzlich bildete sie sich ein, sie würde durch den Wald rennen, verfolgt von dem brennenden Oliver, der all die trockenen Bäume und Büsche in Brand setzte und hinter ihr her lief, mit dem Ziel, auch sie in Brand zu setzen. Dann wachte sie auf. Isabel und Michael hatten sich über sie gebeugt und sahen sie besorgt an. „Was war passiert? Ihr war nicht bewusst gewesen, dass sie die Frage laut ausgesprochen hatte, bis Michael ihr erklärte, dass sie plötzlich das Bewusstsein verloren hatte und auf den Boden gefallen war. Marie konnte sich nicht daran erinnern, doch sie merkte, dass sie Kopfschmerzen hatte. Immerhin waren all die schlimmen Gedanken und Bilder verschwunden und mit einem Mal sah sie wieder etwas klarer und deutlicher. „Was sollen wir denn jetzt tun?” fragte sie verzweifelt und sah ihre beiden Freunde an. Diese ließen sich erschöpft auf den harten Boden zurückfallen und sahen sie nur hilflos an. Auch sie wussten es nicht.

Mit einem Blick auf seine Armbanduhr stellte er fest, dass es schon nach 19 Uhr war. Im Wald war es mittlerweile stockdunkel und nur aus dem kleinen Bungalow drang ein schwaches Licht nach draußen. Sie hatten eine kleine Kerze angezündet, die sie in einer alten Schublade gefunden hatten und so hatten sie wenigstens für den Moment ein bisschen Licht. Er lächelte. Er würde warten. Darin war er gut. Genauso gut wie im Verstellen. Oh ja, er war ein Meister des Verstellens. Wer würde ihn schon für einen Serienmörder halten? Ganz gewiss niemand. Deshalb konnte er auch, sobald die Sache hier erledigt war, einfach verschwinden und noch bevor jemand das Chaos, das er veranstaltet hatte, entdecken würde, hätte er sich bereits in ein anderes Land abgesetzt. Und sie würden die Zeichen sehen, aber sie nicht verstehen, denn die einzigen Menschen, die würden verstehen können, wären dann tot. Er lächelte, grinste vor sich hin. Er freute sich auf seinen nächsten Mord. Es war fast das schönste. Er hatte so viel darüber gelesen, und fragte sich, ob es tatsächlich so wäre, wie in den Büchern. Nun, er würde es bald herausfinden. Er und Marie. Sie beide würden bald wissen, wie es tatsächlich war, nur dass nur einer von ihnen es an die Nachwelt würde weitergeben können. Schade, dass er dafür keine Zeugen gebrauchen konnte. Zu gerne würde er Isabels Gesicht dabei sehen. Ihr würde es bestimmt nicht gefallen. Aber ihm, ihm würde es gefallen, dessen war er sich ganz sicher. Und es wäre so furchtbar einfach. Wieder warf er einen Blick auf die Uhr. Er musste damit beginnen, seine Vorbereitungen zu treffen.

 

Isabel gähnte leicht, sie fühlte sich plötzlich so schläfrig. Sie, Marie und Michael hatten sich in das Schlafzimmer zurückgezogen, in dem sie bereits die letzte Nacht verbracht hatten. Die Gardine war vor dem Fenster zugezogen, sodass niemand hinein gucken konnte. Allerdings konnten sie auch nicht sehen, was draußen vor sich ging. Außerdem hatte Michael so gut wie es eben ging die Tür verrammelt. Mehr konnten sie im Moment einfach nicht tun. Er hatte auch versprochen, wach zu bleiben und aufzupassen, doch nun hörte Isabel auch ihn ein Gähnen unterdrücken. Es spielte ohnehin keine Rolle. Sie war zwar müde, bezweifelte aber, dass sie nach allem, was heute geschehen war, ein Auge zu bekommen würde. Die kleine Kerze, die sie gefunden hatten, war schon fast abgebrannt. Bald würde es stockdunkel in dem kleinen Schlafzimmer sein. Der Gedanke machte ihr Angst. Sie wollte nicht, dass es dunkel wurde und sie nicht mehr sehen konnte, was vor sich ging. Doch Isabel ahnte nicht, dass es ohnehin egal war. Denn selbst mit dem schimmernden Licht der Kerze hatten sie eine Sache übersehen: Das kleine Loch im Fenster, durch das ein dünnes Kabel in das Zimmer ragte. Und aus dem Kabel entströmte unaufhaltsam ein Gas. Kein giftiges, nichts was sie umbringen würde. Nein, aber es würde sie schläfrig machen, und irgendwann würden sie alle das Bewusstsein verlieren und wenn sie wieder aufwachen würden, wäre es zu spät. Doch das alles konnte Isabel nicht wissen, und so fürchtete sie sich mehr vor der Dunkelheit als vor der wahren Gefahr, die sie auch im Hellen hätten erkennen können, ja erkennen müssen.

In der Tat, sie hätten es sehen müssen. Doch sie waren wieder einmal blind gewesen, hatten das Nahe liegende nicht erkannt. Genauso wenig wie sie alle seine Zeichen nicht erkannt hatten. Jetzt, wo sie hier in der Dunkelheit lag, schien plötzlich alles so klar zu sein. Doch die Angst und Panik hatten ihr den Verstand geraubt. Sie war nicht in der Lage gewesen klar zu denken, jeder Gedanke war vor ihrem Auge wieder verschwommen und erst jetzt, wo sie in der Dunkelheit des Bungalows lag, war ihr bewusst geworden, wie klar alles war. Wer es war, das hatte sie schon vor einiger Zeit gewusst. Aber die Zeichen, die er ihnen gegeben hatte, die hatte sie erst jetzt zu deuten gewusst. Aber musste sie sich jetzt wirklich Vorwürfe machen? War sie Schuld an dem Tod ihrer Freunde? Ein Gedanke, der unaufhaltsam und immer wieder in ihr Bewusstsein drang und den sie einfach nicht beantworten konnte und wollte.

 

Warum war sie plötzlich so furchtbar müde? Marie konnte kaum noch die Augen offen halten und verstand nicht woran das lag. An der Dunkelheit, die sie jetzt von allen Seiten einhüllte? Doch eigentlich machte die Dunkelheit ihr im Moment nur Angst und sie hätte nicht gedacht, dass sie würde schlafen können. Es gab zu viele Geräusche da draußen im Wald, die sie eigentlich erschreckten und wach halten müssten. Doch stattdessen merkte sie, dass sie sich immer mehr auf dieser Schwelle zwischen Wachsein und Schlaf befand. Sie musste wach bleiben. Marie wusste, dass es gefährlich sein konnte, wenn sie jetzt einschlief, insbesondere, wenn auch Isabel und Michael einschlafen sollten. Natürlich, Michael hatte versprochen, wach zu bleiben, aber was wenn auch ihn der Schlaf übermannen sollte? Dann waren sie schutzlos ihrem Schicksal ausgeliefert. Obwohl sie eigentlich an etwas anderes hatte denken wollen, rief sie sich schnell wieder die Bilder ihrer toten Freunde ins Gedächtnis. Es war das Einzige, was sie wach halten würde. Doch es half alles nichts. Ihre Augen schlossen sich und sie glitt in die Traumwelt über.

Sie hatte furchtbare Kopfschmerzen und fühlte ein grausames Pochen, hinter ihren Schläfen. Sie schloss die Augen, öffnete sie aber sogleich wieder aus Angst, einschlafen zu können. Dann kam ihr ein anderer Gedanke: Im Grunde genommen war es doch unausweichlich, dass er sie bekommen würde. Früher oder später. Aber sie musste etwas tun, etwas, damit die Polizei herausfinden konnte, wer ihnen das alles angetan hatte. Seinen Namen irgendwo hin schreiben. Warum war ihr dieser Gedanke nicht vorher gekommen? Natürlich hatte sie weder Stift noch Papier und das Blut, das ihr vorher über das Gesicht gelaufen war, war schon lange getrocknet. Aber in ihrem Körper war schließlich noch mehr davon. Und es war das einzige was sie hatte. Vorsichtig und so leise wie möglich, tastete sie in ihrer Umgebung herum, bewegte ihre Finger über alle Kanten und Ecken, in der Hoffnung eine zu finden, die scharf genug war, um sich daran zu schneiden. Und dann fiel ihr ein, dass sie als sie den Bungalow betreten hatte, eine Vase herunter geschmissen hatte. Irgendwo mussten die Scherben liegen. Sie richtete sich langsam auf und die altbekannten Schmerzen schossen in ihren steifen Körper, aber es spielte keine Rolle. Nachdem sie endlich auf allen Vieren war, krabbelte sie bedächtig los. Sie durfte auf gar keinen Fall irgendwo gegen stoßen, durfte nicht zu laut sein. Ihre Hände tasteten auf den Holzdielen entlang und dann endlich konnte sie ein kleines Stück der zerbrochenen Vase fühlen. Es war nur ein kleines Stück und sie suchte in der Dunkelheit nach einem größeren, einem mit einer schärferen Kante und nachdem sie endlich ein passendes gefunden hatte, kroch sie schnell zurück in ihr Versteck hinter dem Sofa.

 

War die Zeit nun endlich gekommen? Er wusste es nicht genau, war sich nicht sicher. Aber er hatte ja Zeit. Keine Hektik, sagte er sich. Er durfte keinen Fehler beginnen, nicht zu übereifrig sein. Deshalb beschloss er noch eine Weile zu warten, bis er sich wirklich sicher sein konnte, dass das Gas gewirkt hatte, dass sie alle schliefen und erst dann wieder erwachten, wenn er das Fenster einschlagen würde und frischer Sauerstoff zu ihnen drang und sie durch den Lärm und das Licht geblendet wären. Aber dann wäre es für Marie  längst zu spät. Leise pfiff er vor sich hin. Es war eine bekannte Melodie, die er mehr unbewusst angestimmt hatte, aber es wollte ihm einfach nicht einfallen, welches Lied es sein mochte.

 

Hatte sie sich zu tief geschnitten und würde jetzt verbluten? Sie wusste es nicht, und es war ihr auch egal. Ihr ganzer Körper tat weh, insbesondere aber ihr Oberschenkel, aus dem immer noch dunkles Blut rann. Erschöpft lehnte sie sich zurück. Sie hatte seinen Namen mit ihrem eigenen Blut an die Wand und auf das Sofa geschmiert und hoffte, dass man es im Hellen würde entziffern können. Sie hatte nichts sehen können und daher keine Ahnung wie deutlich sie geschrieben hatte. Und sie hoffte, dass er es nicht entdecken würde. Dann wäre alles umsonst gewesen. Erschöpft schloss sie die Augen und ohne, dass sie es wollte fing sie plötzlich an zu weinen und konnte nicht mehr aufhören.

Er war sich sicher, dass sie jetzt schliefen. Dennoch, er musste noch einen kleinen Test machen. Also trat er leise an das Fenster des Bungalows und klopfte vorsichtig an. Nichts regte sich. Sie schliefen. Fröhlich pfeifend ging er um den Bungalow herum zur Terrassentür, die er mit einer geschickten Bewegung aufbrach. Natürlich hatten sie die Tür zu dem Schlafzimmer verrammelt, aber das spielte keine Rolle. Er konnte machen, was er wollte, sie würden nicht wach werden. Das Gas hatte sie betäubt, sie bewusstlos gemacht und sie würden erst wieder langsam zu sich kommen, wenn Sauerstoff in ihr Gehirn dringen würde. Er war sich darüber klar, dass dies geschehen würde, sobald er die Tür aufgebrochen hatte, also musste er schnell handeln. Er holte Anlauf und warf sich mit seinem ganzen Gewicht gegen die Tür. Die Möbel und die Tür gaben ein wenig nach, hielten ihm aber noch stand. Er lauschte. Wie zu erwarten gewesen war, blieb alles still. Es hatte sie nicht geweckt. Er warf sich ein zweites und ein drittes Mal gegen die Tür und dann beim vierten Mal gab sie endlich nach und er stand in dem Zimmer. Da er noch eine funktionierende Taschenlampe hatte, schaltete er diese nun schnell an. Marie und Isabel lagen wie in der Nacht zuvor in einem Bett. Lächelnd, fast zärtlich strich er Isabel über das Gesicht und flüsterte leise: „Dich hole ich auch noch.” Dann zog er Marie an sich und hob sie vorsichtig hoch. In dem Moment drehte Isabel sich auf die andere Seite, und er befürchtete schon, dass sie wach geworden war, doch sie hielt weiterhin die Augen geschlossen. Schnell drehte er sich um, verließ das Zimmer und schloss die Tür hinter sich, um den Rest des Gases so lange wie möglich in dem Raum zu halten. Er ging mit Marie auf dem Arm nach draußen und setzte sie achtlos auf dem Waldboden ab. Bevor er sie umbrachte, hatte er noch etwas anderes zu erledigen. Es würde ein tolles Spektakel werden, dachte er und machte sich daran die ganzen Lampions, die er mitgebracht hatte, aufzuhängen und anzuzünden.

 

Für einen Moment hatte sie geglaubt, dass jemand im Zimmer war, aber noch bevor Isabel den Gedanken hatte fassen können, war sie schon wieder bewusstlos geworden. Der kurze Augenblick, in dem etwas frische Luft in den Raum gekommen war, hatte nicht ausgereicht, denn schon längst strömte wieder unaufhaltsam das Gas in den Raum, um zu vermeiden, dass sie aufwachte, bevor er es geplant hatte. In ihrem Traum wusste Isabel, dass irgendetwas nicht stimmte, dass etwas Schreckliches passiert war, und sie wusste auch, dass sie würde aufwachen müssen, um herauszufinden, was los war, doch ihr geschwächter Körper kam nicht gegen das Gas an, und ihr strapaziertes Unterbewusstsein, sagte ihr, dass es ohnehin besser war, nicht mehr aufzuwachen, und das was geschehen würde, einfach geschehen zu lassen.

Maries Kopf pochte wie verrückt, als sie aufwachte. Warum war es plötzlich so hell? War es etwa schon Morgen, und sie konnten endlich in die Stadt zurückkehren? Doch das konnte eigentlich nicht sein. Sie fühlte sich, als hätte sie nur ein paar Minuten geschlafen. Erst jetzt fiel ihr auf, dass irgendetwas in ihrem Mund steckte. Um sich ihrer Umgebung besser bewusst zu werden, öffnete sie schnell die Augen und wurde sogleich von dem hellen Licht einer Taschenlampe geblendet, die ihr ins Gesicht schien. „Na, wieder wach?” fragte eine Stimme, und Marie brauchte einen Augenblick, bis sie begriff, zu wem sie gehörte. Sie wollte etwas sagen, doch das Etwas in ihrem Mund – ein Knebel? – verhinderte dies. Mit einem grausigen Schlag wurde ihr bewusst, dass sie die Nächste sein würde und er vermeiden wollte, dass sie schrie. Aber so hell wie es war, konnten Isabel und Michael unmöglich nichts von ihrem Verschwinden mitbekommen haben. Langsam richtete sie sich auf und sah sich genauer um. Er hatte die Taschenlampe aus ihrem Gesicht genommen und sie sah jetzt, dass er überall Lampions angebracht hatte. Und dann bemerkte sie, dass er sie zwar geknebelt, aber nicht gefesselt hatte. Dennoch, sie schaffte es sich den Knebel vom Mund zu reißen und den Namen ihrer besten Freundin zu rufen, denn bevor sie nach dem Knebel gegriffen hatte, war er bereits bei ihr und hatte ihr mit der Hand den Mund verschloss. Er hielt sie so stark umklammert, dass Marie sich kaum bewegen konnte. Sein Mund war ganz nah an ihrem Ohr und er flüsterte: „Du kannst schreien so viel wie du willst, aber hören wird dich ohnehin niemand. Schon mal was von Betäubungsgas gehört?” Tränen rannen Marie übers Gesicht, und er ließ sie los. Sie wollte nicht aufgeben, aber sie wusste, dass sie keine Chance hatte und sie wusste, dass er es auch wusste. Sie sah zu ihm auf und bemerkte, wie er sie beobachtete und wie ein kleines Lächeln seine Lippen umspielte. Ihr wurde schlecht. Warum tat er das? Sie wollte ihn fragen, warum er all das getan hatte, wollte von ihm wissen, warum sie würde sterben müssen, doch sie schwieg. Sie durfte ihm nicht den Genuss bereiten, durfte ihm nicht ihre Angst zeigen. Wahrscheinlich würde ihn das nur freuen. Also biss sie die Zähne zusammen und sagte nichts. Für einen Augenblick überlegte sie, ob es Sinn machte einen Fluchtversuch zu wagen, doch sie wusste, dass es sinnlos sein würde. Marie sah sich genauer um. Vielleicht lag hier irgendwo eine Waffe herum, etwas womit sie ihn würde niederschlagen können. Doch sie konnte nichts sehen und er schien ihre Gedanken lesen zu können, denn er murmelte nur: „Denk nicht einmal daran!” Warum hörte sie auf ihn? Warum saß sie hier und tat willig, was er von ihr verlangte? Sie wusste es selber nicht, doch er schien ihr die Antwort bereitwillig geben zu können: „Wenn du schön brav bist, wird es auch nicht lange dauern,” sagte er und lächelte wieder dieses merkwürdig verträumt wirkende Lächeln. War es das? Hatte sie Angst, davor, dass wenn sie sich wehrte, er ihr die gleichen Schmerzen zufügen würde, wie er es bei Thorben und Oliver getan hatte? Natürlich wollte sie das nicht, aber genauso wenig wollte sie überhaupt sterben. Sie wollte leben und bei dem Gedanken liefen wieder Tränen über ihr Gesicht. Dennoch. Sie blieb wo sie war und wartete darauf, was er mit ihr vorhatte.

Es war genau so, wie er erwartet hatte. Sie würde sich ihrem Schicksal fügen. Er hatte es gewusst und dennoch enttäuschte es ihn ein wenig. Sie stand einfach noch zu sehr unter dem Schock der vergangenen vierundzwanzig Stunden. Und auch wenn sie körperlich dazu in der Lage gewesen wäre, ihr Verstand, ihr Geist, ihre Seele war nicht dazu im Stande zu kämpfen. Sie hatte ihr Schicksal akzeptiert, auch wenn sie es selber nicht wusste. Er seufzte leicht. Im Grunde genommen konnte er doch dankbar sein. Sie hätte auch ein Heidenspektakel veranstalten können, zurück in den Bungalow rennen können, dafür sorgen können, dass kein Betäubungsgas mehr in das Schlafzimmer strömte. Dann hätte er sie alle umbringen müssen, einfach erschießen müssen, und das würde einfach keinen Spaß machen. Die Waffe hatte er nur für den Notfall dabei und er würde sie auch nur im äußersten Notfall einsetzen. Nur, wenn sie ihm keine andere Wahl ließen. Aber so machte es auch nicht wirklich Spaß. Was konnte er tun, damit Marie wenigstens ein ganz kleines bisschen Widerstand leistete? So war es ihm nun wirklich zu langweilig. Sie saß dort auf dem Waldboden und beobachtete ihn, starrte ihn an, mit diesen entsetzten Augen, die er auch schon bei Thorben gesehen hatte. Sie spiegelte die gleiche Ungläubigkeit wieder, dass er der liebe, nette Mann ein Mörder sein könnte. „Bitte, mach doch etwas,” dachte er, doch Marie blieb sitzen, und tat ihm nicht einmal den Gefallen, zu fragen, wieso er all das tat. Sie war nicht dumm. Sie wusste, wie sehr ihn diese Frage befriedigen würde, und genau aus diesem Grund stellte sie sie nicht. Er überlegte. Auch wenn sie nicht nachfragte, natürlich würde sie es wissen wollen. Und ihm würde es Spaß machen, ihr alles zu erzählen. Andererseits würde er ihr damit einen Gefallen tun, und wenn sie ihm schon keinen Gefallen tun wollte, warum sollte er es dann tun? Doch er wollte es ihr so gerne sagen, wollte ihr Gesicht, ihre Augen sehen, wenn sie die Wahrheit erfuhr, und so begann er schließlich auch ungefragt zu erzählen.

Als er ihr Gesicht sah, musste er lachen. Schon alleine für diesen Gesichtsausdruck lohnte sich all das, was er bereits getan hatte und was er noch tun würde. Er wünschte, er könnte ein Foto machen, diesen Augenblick festhalten, aber stattdessen versuchte er, sich ihr Gesicht einzuprägen, so gut wie es eben ging, sodass er es später immer wieder würde abrufen können, und sich daran erfreuen konnte. Während er ihr von den anderen erzählt hatte, und aus welchem Grund er sie umgebracht hatte, war ihr Gesicht nahezu steinern gewesen, ihre Miene hatte sich nicht einmal verändert, doch er hatte gewusst, dass sie ihn nicht verstand. Und noch viel mehr, dass es sie entsetzte und sie sich vor ihm ängstigte, nahezu ekelte. Doch dann hatte er Marie erzählt, warum sie würde sterben müssen, und als er ihr noch sagte, wie er es machen würde, da hatte sich ihr Gesicht endlich verändert. Endlich sah er das Entsetzen, und die unfassbare Angst, die sie erfüllte. Und da musste er wieder lächeln. Am liebsten hätte er diesen Augenblick hinausgezogen, sich stundenlang weiter an ihrem Entsetzen geweidet, doch das ging nicht. Er musste weiter machen. Die Zeit war gekommen, Marie gehen zu lassen, sie in eine andere Welt zu befördern. Schließlich lagen noch andere Aufgaben vor ihm, und er wusste nicht, ob das Betäubungsgas nicht doch irgendwann gefährlich werden würde. Nicht, dass noch jemand wegen dem Gas starb, das wäre schließlich furchtbar langweilig und würde ihn mehr als ärgern. „Es ist an der Zeit,” murmelte er und sah Marie mit einem auf dem Gesicht scheinbar festgefrorenen Grinsen an. Sie nickte stumm und auch das verärgerte ihn wieder. Konnte sie ihn nicht um Gnade anflehen, konnte sie ihn nicht bitten, sie zu verschonen, konnte sie nicht einen letzten Fluchtversuch unternehmen? Warum war sie nur so verdammt apathisch? Vielleicht wäre es doch klüger gewesen, zuerst Isabel umzubringen, doch dafür war es nun zu spät. Er seufzte. Dabei hatte er sie alle den ganzen Tag beobachtet, er hätte es wissen müssen, dass Marie ihm keine Freude bereiten würde. Unbewusst hatte er angefangen zu summen. „Marie, komm tanz für mich,” flüsterte er und bemerkte Maries verständnislosen Blick. Scheinbar hatte sie die Bücher, die er gelesen hatte, nicht gelesen. Aber er würde bald wissen, ob es tatsächlich so war, wie es in den Büchern beschrieben stand. Bald, ganz bald. Er lächelte und unsanft griff er Marie am Arm und zog sie mit sich hoch. Sie würde keinen Fluchtversuch unternehmen und das machte alles so verdammt einfach. Zu groß war ihre Angst, dass er sie noch mehr verstümmeln würde, als er es ohnehin schon vorhatte. Nun denn, es machte alles einfacher. Sein Blick fiel auf die riesige, scharfe Axt, die hinter ihm auf dem Boden lag. Marie hatte sie nicht sehen können, da das Licht der Lampions sie nicht erreichte und sie außerdem von einem Busch verborgen da lag. Er griff nach ihr und kam langsam auf Marie zu. Bis jetzt hatte sie sich vollkommen unter Kontrolle gehabt, doch er sah, wie diese Fassade langsam bröckelte und ihre Angst deutlich zum Vorschein kam. Tränen liefen über ihr Gesicht und er hoffte, dass es doch noch geschehen würde, dass sie ihn doch noch um Gnade anflehen würde, doch nichts geschah. „Tanz für mich,” brüllte er plötzlich und mit einem weit ausholenden Schlag, mit dem Marie so schnell gar nicht hatte rechnen können, sodass ihr nicht einmal die Zeit blieb zu schreien, schlug er ihr den Kopf ab. Und tatsächlich, während ihr Kopf über den Waldboden rollte, der Mund zu einem unausgesprochenen Schrei geöffnet, die Augen vor Erschrecken weit aufgerissen, bewegte sich der kopflose Körper, aus dessen Hals eine Blutfontäne hervorkam, noch einige Schritte. Ein blinder Körper, der sich vollkommen orientierungslos bewegte, noch einige Meter stolperte, bevor er schließlich zusammenbrach und nur wenige Meter von seinem Kopf entfernt liegen blieb. Beeindruckt hatte er das Ganze beobachtet. Er hatte es nie glauben können, doch tatsächlich: Auch ohne Kopf bewegte sich ein Körper noch wenige Schritte, bevor der Mensch tot war. Ein Kopf konnte nicht ohne Körper auskommen, aber andersherum war das tatsächlich möglich. Faszinierend.

 

Sie hatten damals im Englischunterricht ein Gedicht gelesen, und eben dieses Gedicht war ihr jetzt wieder eingefallen. Ten little Indians. Zehn kleine Indianer, die Freunde waren, doch zum Schluss war einer alleine. Das war sie. Sie war der letzte Indianer, der noch übrig war. Die letzte Strophe des Gedichts kam ihr in den Kopf: „One little Indian boy left all alone; He went and hanged himself … and then there were none” And then there were none. Am Ende war keiner von ihnen übrig geblieben. Alle waren tot. Würde es auch so werden? Würde auch sie am Ende sterben? Wenn es so sein sollte, dann aber auf gar keinen Fall so, wie es in dem Gedicht geschehen ist. Sie würde ihm nicht den Gefallen tun und sich selber das Leben nehmen, auf gar keinen Fall. Aber wäre es überhaupt ein Gefallen? Vielleicht wäre er ja enttäuscht, wenn er sie nicht würde leiden lassen können, so wie die anderen. Dennoch, sie würde es nicht tun. Vorsichtig hob sie ihren Rock etwas an, und stellte fest, dass das Blut wenigstens auf dem rechten Oberschenkel getrocknet war, während aus dem linken noch ein dünnes Rinnsal an Blut lief. Sie würde daran nicht sterben. Immerhin. Und er würde seine Strafe bekommen, egal was mit ihr geschah, dafür hatte sie gesorgt. Wenn Marie bloß da wäre. Bereits jetzt vermisste sie ihre beste Freundin, dabei war sie erst seit wenigen Stunden tot. Schon wieder liefen ihr Tränen über das Gesicht, und um sich vom Weinen abzulenken, versuchte sie sich den Rest des Gedichts wieder in den Kopf zu rufen, doch alles was ihr einfiel war diese letzte Strophe mit der letzten Zeile: And then there were none.

 

Es musste bereits früh am nächsten Morgen sein, denn die Sonne schien hell ins Zimmer. War es die Sonne? Erschrocken riss Isabel die Augen auf und sah sich um. Michael lag in dem anderen Bett und schlief, doch wo war Marie? Furchtbare Kopfschmerzen brachten Isabel dazu die Augen wieder zu schließen. Sie fasste sich müde an den Kopf und rieb sich die schmerzenden Schläfen, doch wirklich helfen tat das nicht. Dann öffnete sie die Augen wieder und versuchte sich auf ihre Umgebung zu konzentrieren. Sie hatte das seltsame Gefühl unter irgendeinem Drogeneinfluss zu stehen. Der Raum verschwamm vor ihren Augen und sie musste sie erneut schließen. Marie. „Konzentrier dich,” sagte sie zu sich selbst. Es ging um Marie. Irgendetwas stimmte nicht. Sie zwang sich dazu die Augen wieder aufzureißen und sich auf das kleine Zimmer zu konzentrieren. Ein Blick zur Tür verriet ihr, dass diese zwar noch geschlossen war, aber es wirkte als hätte jemand die Tür aufgedrückt, denn die Möbel lagen in einem ziemlichen Durcheinander im Zimmer verstreut herum. Aber das hätten sie ja gehört. Hätte irgendjemand versucht die Tür aufzubrechen, wären sie alle drei aufgesprungen, und von dem Lärm geweckt worden. Die Erklärung war also, dass Marie selber aufgestanden war und das Zimmer verlassen hatte. Aber warum? Das war doch viel zu gefährlich. Und sie hatten abgemacht, dass sie zusammen bleiben würden. Schnell stand Isabel auf und trat an das Zimmer. Der Vorhang war ein Stückchen zur Seite gezogen, sodass ein helles Licht hinein schien. Aber es war kein Sonnenlicht, es war irgendein künstliches Licht. Ein kurzer, vorsichtiger Blick nach draußen, verriet ihr, dass überall hell brennende Lampions aufgebaut waren. Was ging hier vor sich? Ein Schaudern durchfuhr Isabel und sie musste sich schütteln, um das Gefühl loszuwerden. Sie musste Michael wecken. Eine plötzliche Angst hatte sie beschlichen und sie wollte auf gar keinen Fall alleine nach draußen gehen, um nach Marie zu sehen. Vermutlich würde sie einfach nur im Wohnzimmer auf dem Sofa sitzen, weil sie nicht schlafen konnte, aber wer konnte das schon mit Sicherheit sagen? Mit Michael an ihrer Seite fühlte sie sich einfach sicherer.

Er hatte einen schönen Traum gehabt, und es ärgerte ihn, dass er aus diesem Traum heraus in die Wirklichkeit zurückgerissen wurde, doch als Michael in Isabels blaue Augen, die ihn ängstlich ansahen, blickte, war aller Ärger sofort vergessen. „Was ist los?” fragte er und wusste instinktiv, dass irgendetwas passiert war. Schnell richtete er sich auf, doch die plötzliche Bewegung tat weh. Ein kurzer, stechender Schmerz durchfuhr seinen Kopf und er stöhnte leise auf. „Hast du auch solche Kopfschmerzen?” fragte Isabel und Michael sah sie erstaunt an. „Ja,” er nickte, „du etwa auch?” „Ja,” sagte sie knapp, dann schwieg sie. Michael stutzte. Wo war Marie? Als er die Frage gestellt hatte und sah, wie Isabel nur hilflos mit den Schultern zuckte, flüsterte er entsetzt: „Bitte nicht.” Doch er wusste, dass es so war, wie er befürchtet hatte: Es war etwas passiert und jetzt würden er und Isabel herausfinden müssen, was es war. Er wünschte, er könnte es ihr ersparen, doch er wusste, dass er es nicht konnte. Schnell sah er sich in dem Zimmer um, sah die Tür, die noch geschlossen war, aber entdeckte auch die umgeschmissenen Möbel. Erst dann fiel ihm auf, dass es im Zimmer erstaunlich hell war und Isabel erzählte ihm von den Lampions, die draußen angebracht worden waren. Michael runzelte die Stirn und warf einen Blick zum Fenster. Dann sah er es: Ein dünner Schlauch, den gestern, in der Dunkelheit, die nur ein bisschen von dem schwachen Kerzenlicht erleuchtet worden war, niemand bemerkt hatte. Flink kletterte aus dem Bett und lief zu dem Fenster, um sich den Schlauch näher anzusehen. Als er vorsichtig daran riechen wollte, verlor er fast wieder das Bewusstsein, so intensiv war das Gas noch im Schlauch vorhanden. Schlagartig wurde ihm alles klar. Man hatte mit einem Gas dafür gesorgt, dass sie das Bewusstsein verloren um dann hereinkommen und Marie unbemerkt holen zu können. Vorsichtig zog Michael die Gardine komplett zur Seite und warf einen Blick nach draußen. Erst jetzt sah er, dass das Fenster eingebrochen worden war. Deshalb waren er und Isabel also wieder aufgewacht. Jemand hatte dafür gesorgt, dass sie wieder frischen Sauerstoff würden einatmen können. Jemand wollte, dass sie aufwachten und das musste einen Grund haben. Kritisch sah Michael sich um, doch er konnte trotz der Lampions draußen kaum was erkennen. Er sah nichts Ungewöhnliches. Kein dunkler Schatten, der sich durch den Wald stahl, keine an Bäumen hängenden Leiche, nichts. Auch keine Marie. Ob das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen war, wusste er noch nicht. Er zog den Vorhang wieder zu und wandte sich Isabel zu. Sie saß auf dem Bett und hatte das Gesicht in die Hände gelegt. Als Michael sah, dass sie weinte, trat er schnell auf sie zu und setzte sich neben sie. Vorsichtig legte er ihr einen Arm um die Schultern, und sie flüsterte leise: „Sie ist tot, oder? Marie ist tot.” Dann fing sie unkontrolliert an zu schluchzen. Michael drückte sie fester an sich. Er wusste nicht, was er tun sollte. Am liebsten hätte er Isabel alleine in dem Schlafzimmer zurück gelassen und wäre nach draußen gegangen, um nach Marie zu sehen. Er wollte ihr den Anblick ihrer toten Freundin um jeden Preis ersparen, doch es war viel zu gefährlich. Was, wenn er zurückkam und Isabel nicht mehr da wäre? Das würde er sich nie verzeihen können. Michael seufzte leise. Er wusste, dass sie hier nicht sicher waren. Und ihm war die Dunkelheit egal. Er würde sich einen der Lampions schnappen und mit Isabel gemeinsam von hier fliehen. Und wenn der Wahnsinnige hinter ihnen her war, würde er kämpfen und dafür sorgen, dass wenigstens Isabel fliehen konnte. Er wusste, dass er es schaffen konnte, er musste es einfach schaffen. Beruhigend strich er Isabel über den Kopf und redete flüsternd auf sie ein, um ihr seinen Plan mitzuteilen. Sie schien nicht allzu begeistert von der Idee zu sein, dass sie eventuell alleine würde fliehen müssen. Doch immerhin, sie hörte ihm zu. „Bitte, Isabel,” flüsterte Michael schließlich, „ich weiß, es klingt furchtbar, aber es ist das einzige Vernünftige. Ich will, dass du hier weg kommst.” Endlich nickte Isabel langsam. „Okay,” sagte sie und ihre Stimme klang ernst und gefestigt, „aber ich gehe nicht ohne Marie. Wir müssen sie erst finden.” „Isabel…,” wollte Michael widersprechen. Er war sich mittlerweile so gut wie sicher, dass Marie tot war, doch Isabel ließ ihn nicht zu Wort kommen. Ruhig sagte sie: „Ich bin mir auch sicher, dass sie tot ist. Aber es zu glauben reicht einfach nicht. Ich könnte es mir nie verzeihen, wenn ich ihr noch irgendwie hätte helfen können.” Sie sah Michael an, und erneut spiegelten sich Tränen in ihren Augen, doch sie konnte sie zurückhalten. „Das verstehst du doch, oder?” „Ja,” entgegnete Michael leise. „Suchen wir nach ihr,” murmelte er also ergeben, stand auf, und hielt Isabel seine Hand hin. Sie ergriff sie und zog sich an ihm hoch.

 

Das Blut war getrocknet, aber die Stellen, an denen sie sich geschnitten hatte, taten furchtbar weh. Wahrscheinlich hatten sie sich entzündet. Besonders sauber waren die Scherben der alten Vase sicher nicht gewesen. Aber das spielte auch keine Rolle mehr. Die Scherbe, mit der sie sich geschnitten hatte, lag neben ihr auf dem Boden. Und dann kam ihr eine Idee. Vorhin in der Hektik hatte sie nicht wirklich lange nach einer scharfen Scherbe gesucht, aber vielleicht ließ sich noch eine bessere finden. Sie wusste, dass sie keine Chance gegen ihn haben würde, wenn er käme. Aber sie wollte sich wehren. Sie konnte und durfte nicht einfach machtlos und hilflos darauf warten, dass er kam und sie umbrachte. Sie würde sich wehren und vielleicht würde sie ihn wenigstens ein bisschen verletzen können. Für dass, was er ihren Freunden angetan hatte, durfte er nicht ungeschoren davon kommen. Es musste verhindert werden. Sie würde es verhindern, auch wenn es mit ziemlich großer Sicherheit das Letzte war, was sie tat. Unter Schmerzen richtete sie sich auf. Sie biss die Zähne zusammen und krabbelte wieder zu der Stelle, an der die Porzellanscherben lagen, und auch als die grade erst getrocknete Wunde an ihrem Oberschenkel wieder aufriss und sie merkte, wie frisches Blut an ihrem Bein herunter lief, hielt sie nicht an, sondern krabbelte solange weiter, bis sie mit ihrer linken Hand in eine Scherbe fasste und auch aus dieser Wunde Blut zu fließen begann. Doch auch das ignorierte sie und suchte in dem Scherbenhaufen nach der schärfsten, die sie finden konnte.

 

„Oh Gott, nein, bitte nicht,” flüsterte Isabel entsetzt und starrte auf das grausige Bild, das sich ihr und Michael bot. So schlimm es auch war, sie konnte den Blick einfach nicht abwenden, obwohl sie das Gefühl hatte, jede Sekunde das Bewusstsein zu verlieren. Die Welt um sie herum drehte sich und sie konnte, wollte einfach nicht glauben, dass irgendjemand das tatsächlich getan hatte. „Isabel,” murmelte Michael und wollte sie zurück in das Schlafzimmer ziehen, doch sie ignorierte ihn und ging einen Schritt näher in das Wohnzimmer hinein. Sie wusste, dass Michael es nur gut mit ihr meinte, dass er ihr all das ersparen wollte, aber im Augenblick war ihr das vollkommen egal. Alles war egal, nichts spielte mehr eine Rolle. Marie, ihre beste Freundin, war tot. Sie schloss für eine Sekunde die Augen, doch auch so sah sie das Szenario vor sich und so öffnete sie die Augen wieder und trat noch ein paar Schritte näher auf den kleinen Tisch zu, auf dem der Kopf von Marie stand. Das einzige, was Isabel wirklich beruhigte, war dass Maries Augen weder so entsetzt, noch so vorwurfsvoll, wie die von Thorben aussahen. Im Gegenteil, sie wirkten friedlich und irgendwie gütig. „Bitte geh da nicht näher hin,” sagte Michael leise, fast flehentlich, doch sie beachtete ihn nicht und setzte sich stattdessen stumm auf den Sessel, der gegenüber von Maries Kopf stand, so als wäre er extra dafür hingestellt worden, dass Isabel sich dorthin setzen konnte. Auf Michael musste es so wirken, als wolle sie mit ihrer besten Freundin reden oder Ähnliches, doch alles, was Isabel wollte, war ein paar Augenblicke mit Marie zu verbringen und in gewisser Weise Abschied von ihr zu nehmen. Sie streckte langsam eine zitternde Hand aus, während ihr stumme Tränen über das Gesicht liefen und Michael hinter ihr „Tu es nicht,” flüsterte, dann berührte sie Maries Gesicht und stellte erschrocken fest, dass es noch relativ warm war. Lange war ihre beste Freundin noch nicht tot. Isabel biss sich auf die Lippen um nicht laut zu weinen, dann sah sie ein letztes Mal in Maries freundliche Augen, bevor sie sie mit zitternden Fingern schloss. Erschöpft, als hätte sie gerade etwas sehr anstrengendes getan, lehnte sie sich in dem Sessel zurück und schloss für einen Augenblick die Augen. Sie war so froh, dass Marie nicht voller Angst und Schmerzen gestorben war, sondern offensichtlich in Frieden mit sich und der Welt. Und dennoch, sie verloren zu haben, tat fast mehr weh als alles andere, was bisher geschehen war. Ihre Angst war vergessen und alles, was sie fühlte war eine unaussprechbare Wut und eine überwältigende Trauer. Wer auch immer ihr das angetan hatte, durfte nicht einfach so davon kommen. Sie würde alles daran setzen, dass dieser Jemand seine gerechte Strafe bekam. Dann, als sie die Augen wieder öffnete, sah sie es plötzlich: Sie hatte es vorher nicht bemerkt, war sogar mit dem Fuß etwas hinein getreten, doch die Botschaft, die Maries Mörder mit dem Blut seines Opfers auf dem Fußboden hinterlassen hatte, war dennoch klar und deutlich zu erkennen. „Gesucht – Wer hat den passenden Körper diesem Kopf gesehen?” Isabel spürte, wie sich ihr der Magen umdrehte. Wer tat so etwas? Wer konnte so grausam sein, eine solche Botschaft zu hinterlassen und dann auch noch mit Blut geschrieben? Und als sie dann ein zweites Mal genauer hinsah, konnte sie es kaum glauben. Sie kannte die Schrift. Plötzlich war alles so klar. Es war so klar, wie es nicht klarer hätte sein können. Erneut biss sie sich auf die Lippe, so feste, dass sie zu bluten anfing, – aber hätte sie es nicht getan, hätte sie womöglich laut los geschrieen, und das durfte sie nicht. Sie wusste, dass sie es ihm nicht zeigen durfte, dass sie erkannt hatte, wer hinter allem steckte. Also drehte Isabel sich langsam zu Michael um, bemüht nicht zu zeigen, wie erschrocken sie war, doch er musste das Entsetzen in ihren Augen erkannt haben, denn er fragte sofort: „Was ist los?” Schnellen Schrittes kam er auf sie zu, bemüht sie anzusehen und nicht Maries körperlosen Kopf. Stumm deutete Isabel auf die blutige Botschaft am Fußboden und sie sah Michael an, dass er es auch erkannt hatte. Fassungslos sah er sie an und murmelte: „Das glaube ich einfach nicht, das kann doch nicht wahr sein. Warum würde er so etwas tun?” Isabel antwortete ebenso leise: „Ich weiß es nicht, aber es passt alles so gut zusammen.”

Erschöpft schloss sie die Augen und lehnte sich gegen das Sofa. Sie wünschte fast, er würde endlich kommen. Sie hatte genug scharfe Scherben zusammen um ihn wenigstens ein bisschen zu verletzen. Sie dachte zurück an das Gefühl, das sie empfunden hatte, als sie Marie gegenüber gesessen hatte. Diese furchtbare Wut auf denjenigen, der ihr das angetan hatte. Und das stumme Versprechen, das sie ihrer besten Freundin gegeben hatte. Er würde nicht ungeschoren davon kommen. Egal, was passierte, sie würde bis zur letzten Sekunde kämpfen. Mit einem Mal war die ganze Angst und Panik, die sie während der letzten Stunden, die sie alleine in dem Bungalow gelegen hatte, empfunden hatte, verschwunden. Sie brauchte nur an Marie zu denken und der ganze Zorn war zurück. Wütend umfasste sie eine der Scherben erneut und drückte sie so fest zusammen, bis sie fühlen konnte, wie frisches Blut an ihrem Arm herunter lief. Schmerzen waren in gewisser Weise so angenehm, denn sie lenkten von den furchtbaren Gedanken und Erinnerungen ab. Und sie halfen sich auf die vor ihr stehende Aufgabe zu konzentrieren. Sie durfte sich nicht durch Gedanken an ihre Freunde ablenken lassen. Sie musste wach bleiben, musste darauf vorbereitet sein, was passieren würde, wenn er käme. Einigermaßen gefasst, ließ sie die Scherbe wieder fallen. Nachher würde sie noch verbluten und ihm die ganze Arbeit abnehmen, und das durfte auf keinen Fall passieren.

 

Michael war zu geschockt um sich bewegen zu können, oder irgend etwas tun können. Er war sogar zu geschockt, um denken zu können. Es durfte nicht sein, es konnte nicht sein. Krampfhart bohrte er seine Finger in die Rückenlehne des Sessels in dem Isabel saß. Er musste sich irgendwo festhalten oder er wäre womöglich noch umgekippt. „Was machen wir denn jetzt?” fragte Isabel leise und drehte sich zu ihm um. Für einen kurzen Augenblick war Michael nicht in der Lage ihr zu antworten, zu tief saß der Schock der eben gemachten Entdeckung. Doch dann sah er Isabel an und riss sich zusammen. Er wusste, dass er es tun musste, denn sonst wären sie beide verloren. Einmal tief durchatmend entgegnete er: „Wir machen es so wie wir es geplant hatten. Wir schnappen uns einen der Lampions, dann gehen wir los, wenn er uns angreifen sollte, werde ich versuchen ihn aufzuhalten, und du rennst weg.” „Was wenn er dich umbringt?” fragte Isabel und sah ihn angsterfüllt an. Michael seufzte und dachte bei sich, dass ihm das im Grunde genommen vollkommen egal war. Die Hauptsache war, dass Isabel irgendwie heil aus der ganzen Sache herauskäme. Er fasste sie bei den Schultern und sah sie ernst an: „Isabel, was auch immer passiert, du darfst keine Rücksicht auf mich nehmen, okay? Du musst weglaufen und dich in Sicherheit bringen, alles andere spielt keine Rolle. Hast du verstanden?” Isabel schlug die Augen nieder und nickte leicht, doch Michael war sich nicht sicher, ob sie im Ernstfall wirklich das tun würde, was sie gerade zu tun versprochen hatte. Doch mehr als dass sie es versprach konnte Michael nicht von ihr verlangen, und so blieb ihm nichts anderes übrig, als zu hoffen, dass im besten Fall sie Beide unbehelligt in die nächste Stadt würden fliehen können, oder, dass wenigstens Isabel im Ernstfall wirklich auf ihn hören würde.

Wieder einmal stand er draußen am Waldrand und beobachtete. Und wieder einmal wartete er. Wartete darauf, dass sie aus dem Bungalow herauskommen würden. Er wusste, dass sie mittlerweile das Bewusstsein wiedererlangt hatten, denn er hatte ihre Schatten im schwachen Licht der Lampions hin und her laufen sehen. Es war kurz vor Mitternacht. Irgendwie wäre es schön, wenn er sein nächstes Werk um Punkt Mitternacht würde vollenden können, doch noch machten die Beiden keine Anstalten den Bungalow zu verlassen. Ob sie seine Botschaft entdeckt hatten? Er hatte sie mit Maries Blut auf den Holzfußboden geschrieben, aber wer wusste schon, ob Michael oder Isabel nicht aus Versehen da rein getreten waren, und alles verwischt hatten? Und wenn sie sie gelesen hatten, hatten sie es dann verstanden? Hatten sie endlich begriffen, wer er war und warum er all das tat? Eigentlich hätten sie es schon nach Olivers Tod wissen müssen, aber wenn sie es bis jetzt immer noch nicht begriffen hatten, dann würde er ihnen auch nicht mehr helfen können. Am Ende, wenn sie ihm Angesicht zu Angesicht gegenüber standen, und er sich dazu bereit machte, sie zu töten, dann würden sie es ja ohnehin wissen. „Kommt doch endlich raus,” flüsterte er leise und während er in der Dunkelheit stand und wartete begann er wieder sein Lied zu pfeifen.

 

Isabel war aufgestanden und warf einen letzten langen Blick auf ihre beste Freundin. „Alles in Ordnung?” fragte Michael und sah sie besorgt an. „Ja,” Isabel nickte schnell. „Lass uns losgehen,” sagte sie mit heiserer Stimme. Ihre Kehle fühlte sich ganz trocken an. Michael kam langsam auf sie zu und schloss sie in die Arme. „Es wird alles gut werden,” flüsterte er beruhigend und Isabel wünschte, sie könnte ihm glauben. Wie viel würde sie darum geben, dass wirklich alles gut wurde? Er drückte sie einmal kurz an sich, dann ließ er sie wieder los. Sie lächelte wehmütig. Ewig hätte sie so stehen bleiben und Michaels Umarmung genießen können. Doch auch den Gedanken schüttelte sie schnell wieder ab. „Konzentration!” rief sie sich in Erinnerung. Dann legte Isabel ihre Hand in Michaels ausgestreckte und folgte ihm zur Tür. Sie bemerkte, wie er einmal kurz Luft holte, dann griff er zum Türgriff. Michael stieß die Tür auf, und für einen kurzen Augenblick mussten sie beide die Augen zusammenkneifen, geblendet von der plötzlichen Helligkeit. Dann sahen sie sich vorsichtig um. Er war nirgendwo zu sehen, doch das hieß nichts. „Komm,” flüsterte Michael und wollte Isabel mit sich ziehen. Sie mussten schnell sein, sich einen Lampion schnappen und in den Wald rennen. Wenn sie zu lange hier herumstanden, waren sie eine perfekte Zielscheibe für ihn. Sie wollten gerade loslaufen, als sie plötzlich ein merkwürdiges Geräusch vernahmen. Es klang wie das Zischen einer Schlange und sowohl Isabel als auch Michael blieben wie angewurzelt stehen. Dann schrie Michael auf einmal erschrocken auf und ließ Isabels Hand los. Er griff sich an sein Bein und sah Isabel mit schmerzverzerrtem Gesicht an. Als sie genauer hinsah, erkannte sie plötzlich, das ein großer Pfeil, mitten in Michaels linkem Knie steckte, aus dem bereits ein Schwall von dunklem, dickem Blut lief. Isabel hielt sich die Hand vor den Mund, um nicht laut los zu schreien. Schnell beugte sie sich zu Michael, der mittlerweile auf der obersten Terrassenstufe saß, hinunter, um sich die Wunde genauer anzusehen. „Isabel!” Michael fasste sie am Arm, „hör zu, du musst wegrennen, sonst wird er dich auch umbringen!” Isabel sah ihn entsetzt an, und so fügte er noch hinzu: „Ich habe keine Chance, ich kann nicht mehr laufen, aber du, du kannst. Bitte bring dich in Sicherheit.” „Ich kann nicht,” murmelte Isabel verstört, „ich kann dich doch nicht einfach hier so liegen lassen.” Der Gedanke war absurd. Auf gar keinen Fall würde sie Michael hier alleine, verletzt liegen lassen. Das ging einfach nicht. Michael drückte ihren Arm jetzt fester. „Doch du kannst.” Er sah sie an. „Du hast es versprochen.” Isabel spürte, wie ihr Tränen in die Augen stiegen, bei diesen Worten. Ihr Kopf sagte ihr, dass es besser wäre auf Michael zu hören, dass er Recht hatte, doch ihre Beine versagten ihr den Dienst. Sie war nicht dazu im Stande sich zu bewegen. dann hörten sie erneut, das rasselnde Geräusch, und noch bevor sie irgendwie reagieren konnten, steckte der nächste Pfeil in Michaels Arm. „Bitte geh,” flüsterte Michael und hielt sich den schmerzenden Arm fest. Isabel beugte sich zu ihm hinunter und gab ihm einen sanften Kuss auf die Wange. Ihr war klar, dass sie ihm keinen Gefallen damit tat, wenn sie blieb. „Pass auf dich auf,” murmelte Michael noch. Isabel nickte stumm, wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und dann rannte sie los in Richtung Wald. Sie hörte noch das Zischen eines weiteren Pfeils, und einen unterdrückten Schmerzensschrei von Michael, doch sie sah nicht mehr, wo er dieses mal verwundet worden war.

Kaum war sie einige Meter in den Wald gelaufen, hatte sie auch gleich wieder die gespenstische Dunkelheit des Waldes umfangen. Sie hatte vergessen, sich einen Lampion zu nehmen. Es wäre ohnehin dumm gewesen, denn dann hätte sie auch gleich unentwegt rufen können  „Hier bin ich!” Sie war einfach gerannt, war tausend Mal gestolpert, hingefallen, hatte sich an irgendwelchen Dornenbüschen Arme und Beine aufgeschlitzt, doch sie war immer weitergerannt, nicht stehengeblieben, hatte die Schmerzen ignoriert, bis sie irgendwann mit voller Wucht gegen einen Baum gelaufen war und benommen zu Boden gesunken war. Sie war einige Minuten sitzen geblieben, hatte abgewartet. Doch sie hatte sich immer wieder eingebildet ihn hinter sich zu hören. Als sie wieder aufgestanden und langsam und vorsichtiger weitergelaufen war, musste sie zurück in Richtung Bungalowpark gelaufen sein. Dort war mittlerweile alles still und dunkel gewesen und so war sie davon ausgegangen, dass er ihr in den Wald gefolgt war. Doch jetzt war sie sich nicht so sicher. Eine Zeit lang hatte sie ihn schließlich auch draußen herumgeistern und ihren Namen rufen gehört. Und wie sie so die Ereignisse der vergangenen Stunden Revue passieren lief, hörte sie es plötzlich wieder.

 

„Isabel, Isabel!” Er rief ihren Namen. Immer wieder und immer wieder. Sie schloss die Augen, bemüht es zu ignorieren, aber es ging nicht. Er war ganz in ihrer Nähe. Wusste er wo sie war? Spielte er ein weiteres seiner grausamen Spiele? Vermutlich würde er ihr erst Michaels, von Pfeilen durchbohrte Leiche zeigen, bevor er sie umbrachte. Das jedenfalls hätte zu ihm gepasst. Sie umklammerte die Scherbe der Vase fester, so dass wieder ein wenig Blut an ihrer Hand entlang lief. Doch es half ihr, sich zu konzentrieren. Sie musste herausfinden wo er war, und dann, wenn er den Bungalow betrat, musste es alles ganz schnell gehen. Noch bevor er wusste, wie ihm geschah, würde sie ihn mit der Scherbe aufschlitzen, oder wenigstens verletzen. Wenn sie dazu im Stande war. Langsam richtete sie sich auf, stellte sich hin und tastete sich vorsichtig zu der Tür. Wenn sie sich im Dunkeln hinter der Tür verbarg, dann würde sie ihn angreifen können, sobald er den Raum betrat. Und noch besser: Sie würde ihn vielleicht sogar am Hals verletzen können, – tödlich verletzen können. Aber dazu musste sie stehen. Er war groß und er war stark, und alles was ihr blieb war der Überraschungseffekt. Ihre Beine zitterten. Sie wusste nicht, wie lange sie so würde stehen können, und so verrückt es auch klang, hoffte sie tatsächlich, dass er bald kommen würde. Isabel konnte und wollte nicht länger warten, was auch immer geschehen würde, sollte möglichst bald geschehen.

Wo zum Teufel steckte sie? Sie musste doch irgendwo sein, und er musste sie finden. Um keinen Preis der Welt durfte sie entkommen. Schweißperlen standen ihm auf der Stirn. Er spürte einen Anflug von Panik in sich aufsteigen. Wenn sie entkam, dann war alles umsonst gewesen. Und das durfte auf gar keinen Fall so sein. Irgendwo war sie und er würde sie finden. Er versuchte sich die Ereignisse der vergangenen Stunden zurück in den Kopf zu rufen. Nachdem der erste Pfeil Michael getroffen hatte, hatte es zunächst so ausgesehen, als würde sein Plan aufgehen. Er hatte damit gerechnet, dass Isabel sich vor lauter Angst nicht würde bewegen können und nicht von Michaels Seite weichen würde, bis er tot war. Dann hätte er sie sich geschnappt und bald wäre alles vorbei gewesen. Aber so war es nicht. Michael hatte scheinbar seinen Plan erkannt, gewusst was er vorhatte und er hatte es geschafft, Isabel dazu bewegen wegzulaufen. Vielleicht hätte er ihr sofort folgen sollen. Aber er war so verwirrt darüber gewesen, dass seine Vorhersage nicht aufgegangen war, dass er sie hatte entkommen lassen. Und dann hatte er sich erst einmal um Michael gekümmert. Er hatte sich ihm nicht gezeigt. Hatte ihm nach und nach in jeden Arm und jedes Bein geschossen, dann in den Bauch, und dann hatte er das Bewusstsein verloren und er hatte ihn ignoriert und sich seinem anderen Problem zugewandt. Isabel. Er wusste, dass Michael sterben würde, dass er sich nicht um ihn kümmern brauchte. Aber sie zu finden war um einiges wichtiger gewesen. Doch er hatte sie nicht gefunden. Er wusste, dass sie ohne jegliches Licht einfach losgelaufen war. Also hatte er alle Lampions ausgemacht, für den Fall, dass sie sich am Rande des Waldes versteckt hielt und darauf wartete, dass er verschwand, um sich doch noch einen Lampion schnappen zu können. Vermutlich hatte sie sich dann im Wald verirrt und wusste selber nicht mehr wo sie war. Wie um alles in der Welt sollte er sie dann finden? Er rief ihren Namen. Tat so, als wäre er ihr Freund und wollte ihr helfen. Vielleicht hatte sie seine Nachricht ja doch nicht gelesen, und wusste immer noch nicht, dass er hinter allem steckte. Doch sie reagierte nicht. Entweder sie war nicht in der Nähe und hörte ihn nicht, oder aber sie wusste, dass er sie umbringen wollte und hielt sich deshalb versteckt. Leise fluchend hatte er seine Taschenlampe eingeschaltet. Er wusste, dass sie ihn so genauso schnell sehen konnte, wie er sie, aber anders hatte es einfach keinen Sinn. Auch er stolperte ständig über irgendwelche Äste, die am Boden lagen und das machte so viel Lärm, dass sie ohnehin schnell hören würde. Und ob Isabel ihn sah oder hörte, war auch egal. Er leuchtete auf den Boden und dann sah er es plötzlich: Fußabdrücke. Direkt neben ihm, unter einer riesigen Fichte, deren Blätter vermieden hatten, dass der Regen sie verwischte. Es war fast wie ein Wunder. Es hatte seit Tagen nicht geregnet gehabt, und der Boden war staubtrocken. Aber Isabel war offensichtlich unbewusst in eine nasse Stelle getreten, wo ein Tier seine Notdurft verrichtet hatte. Und ausgerechnet diese Stelle, war trotz des tosenden Gewitters vom Regen verschont worden. Wenn das kein Zeichen Gottes war. Er lächelte leicht. Und dann machte er sich auf in die Richtung, in die die Fußspuren deuteten. Bereits nach relativ kurzer Zeit sah er im Schein seiner Taschenlampe die Bungalows wieder. Er runzelte die Stirn. War sie etwa zurückgekehrt in die Bungalowanlage? Das bezweifelte er. Andererseits. Dumm wäre es nicht. Immerhin hatte er sie eine ganze Weile im Wald gesucht und bisher war er wirklich davon ausgegangen, dass sie dort herumirrte. Er rief erneut ihren Namen. Sie sollte es ruhig wissen. Sie sollte ruhig wissen, dass er in der Nähe war, dass er wusste, wo sie war und dass er sie holen würde. Es machte ihn ein wenig sauer, aber andererseits amüsierte es ihn auch. Sie spielte mit ihm. Das gefiel ihm. Dennoch, er würde auch sie umbringen. Er musste sie finden, doch zuerst sollte er noch überprüfen, ob Michael tatsächlich tot war. Vielleicht würde er auch noch etwas Schönes mit ihm anstellen können. Er hatte mal in einem Film gesehen, wie jemandem alle Gliedmaßen abgeschnitten und verkehrt herum wieder dran genäht worden waren. Faszinierend. Aber das Ganze enthielt keine Botschaft. Jedenfalls fiel ihm im Augenblick keine ein. Aber wenn er ein bisschen nachdachte. Zu gerne hätte er Isabel Michaels Leiche gezeigt, die Arme statt Beine und Beine statt Arme hatte. Das wäre zu lustig. Er leuchtete auf die Stelle, an der Michael gelegen hatte, doch da war nichts. Alles was er sehen konnte, war ein großer Fleck Blut, der daraufhin deutete, dass dort mal jemand gelegen hatte, der schwer verletzt worden war. Isabel. Also war sie tatsächlich hier irgendwo, und sie hatte Michaels Leiche vor ihm gerettet, damit er nichts mehr damit machen konnte. Jetzt war er wirklich sauer. Sie nahm ihm jeglichen Spaß und das würde sie noch bitter bereuen. „Blöde Schlampe,” flüsterte er leise und blickte sich wütend um.

 

Das Licht seiner Taschenlampe erhellte den Raum ein wenig und Michael betete, dass er nicht herein kommen würde. Schmerzen durchfluteten seinen ganzen Körper. Ein Pfeil steckte noch immer in seinem rechten Bein, während er den aus dem Bein herausgezogen hatte. Er steckte nicht besonders tief in seinem Körper und so hatte er ihn ganz einfach entfernen können. Es hatte noch ein wenig geblutet, doch jetzt sah er dass das Bluten aufgehört hatte. Erleichtert atmete er auf. Er war kein besonders guter Schütze gewesen. Nur zwei der Pfeile hatten ihn getroffen und verwundet, der dritte und der vierte Pfeil hatten seinen Körper nur leicht gestreift. Aber er hatte trotzdem aufgeschrieen und so getan, als wäre er getroffen worden. Nicht nur wegen ihm, auch wegen Isabel. Er hatte gewollt, dass sie weglief und sich in Sicherheit brachte. Ihm war klar gewesen, dass er sich nicht besonders viel Mühe mit Michaels Tod geben würde. Er würde nicht so einfallsreich sein, wie bei den anderen, sondern ihn einfach erschießen oder erstechen. Damit hatte Michael gerechnet und seine Vorkehrungen getroffen. Er hatte das einzige getan, was ihm einfiel und sich dicke Bücher unter sein T-Shirt gestopft. Was hätte er auch sonst tun sollen? Eine andere Möglichkeit blieb ihm nicht und zu seinem Erstaunen hatte es funktioniert. Aber es war knapp gewesen. Der Pfeil hatte das Buch vollständig durchbohrt und ihn leicht in den Bauch gepiekst. Aber mehr war nicht passiert. Und er hatte sich bewusstlos gestellt, und gehofft, dass er ihn zunächst ignorieren und Isabel verfolgen würde. Und auch dieser Plan war aufgegangen. Er hoffte und betete nur, dass wenn er sie fand, er sie nicht direkt im Wald umbringen würde, sondern sie zurück zu den Bungalows brachte. Noch besser wäre natürlich, wenn er sie gar nicht erst fand. Und bisher hatte er sie offenbar nicht gefunden. Als die Tür zu dem Bungalow aufging und er mit der Taschenlampe in den Raum leuchtete, duckte Michael sich tiefer hinter das Sofa. Er hoffte, dass er das Blut auf dem Boden nicht entdeckte, hoffte, dass er dachte, es wäre Maries Blut. Wenn er ihn jetzt fand, dann wäre alles umsonst gewesen. Er schien einen Augenblick zu zögern, dann verließ er den Bungalow wieder. Michael atmete erleichtert auf. Das war knapp gewesen. Warum suchte er Isabel überhaupt hier? Sie war doch sicher in den Wald gelaufen, oder? Warum ging er plötzlich davon aus, dass sie hier war? Ein ungutes Gefühl überkam Michael. Vielleicht war sie tatsächlich hier und dann würde er sie jeden Augenblick finden können. Schnell richtete er sich auf. Die drei Pfeile, die ihn nicht verwundet hatte hielt er in der Hand. Sie waren die einzige Waffe, die er hatte. Und er würde sie jetzt einsetzen müssen. Er würde ihn töten müssen, bevor es zu spät war, und er sie gefunden hatte. Und Michael wusste, dass er einen klaren Vorteil hatte. Denn er wusste ja nicht, dass er noch am Leben war. Offensichtlich ging er davon aus, dass Isabel seine Leiche weggeschafft hatte. Vielleicht war auch das der Grund, warum er dachte, dass sie hier in der Nähe war und in Wirklichkeit war sie schon weit weg. Das wenigstens hoffte er. Sein Bein zitterte heftig, er hatte zwar die Blutung gestoppt, aber scheinbar hatte der Pfeil einen Nerv getroffen oder so. Er dachte an Isabel und biss die Zähne zusammen. Er musste die Schmerzen ignorieren, – für sie.

Er kam näher. Sie sah den Schein seiner Taschenlampe und hörte wie er brüllte: „Komm raus, ich bekomme dich sowieso und dann wirst du dafür büßen, was du mir angetan hast!” Sie hörte, wie er die Tür des Bungalows, der neben ihrem lag, aufstieß und der Schein der Taschenlampe war für einen Moment verschwunden. Etwas polterte, fiel zu Boden. Er war sauer, weil er sie nicht fand, das spürte sie ganz genau. Nun, bald würde er sie finden, wie auch immer diese Begegnung ausgehen würde. Er verließ den Bungalow, stapfte über den Rasen und rief erneut ihren Namen, und dann wurde plötzlich die Tür zu ihrem eigenen Bungalow aufgestoßen und gleißendes Licht erfüllte den Raum.

Oh Gott, sie war tatsächlich hier, und jetzt hatte er sie gefunden! Entsetzt hörte Michael, wie Isabel aufschrie, gefolgt von einem wütenden Schrei von ihm. Dann rannte er los. Die Schmerzen in seinem Bein waren wie weggeblasen, alles was er noch wusste, und was ihn interessierte, war das Isabel in Gefahr war und er ihr zu Hilfe kommen musste. Er rannte über den nassen Rasen auf den Bungalow zu, in dem er schwach das Licht einer Taschenlampe sah. Irgendetwas polterte und dann war das Licht verschwunden und Michael war in vollkommene Dunkelheit gehüllt, doch das störte ihn nicht, er rannte einfach weiter in die Richtung, aus der das Licht gekommen war. Erneut hörte er wie etwas zu Boden fiel und orientierte sich an dem Geräusch. Dann stolperte er plötzlich über einige Stufen. Schnell rappelte er sich wieder auf, und sprang die wenigen Stufen zur Terrasse des Bungalows hinauf. Als er die Terrassentür endlich aufstieß, hörte er einen Schmerzensschrei irgendwo rechts von ihm. Es war Isabel. Und dann hörte er ein grausiges, beinahe unmenschliches Lachen und er sagte: „Das wirst du so was von bereuen.” Michael drehte sich bei diesen kalten Worten der Magen um, doch dann griff er nach dem Pfeil in seiner Hosentasche und stürzte los.

Isabel konnte sich an nichts mehr erinnern und das war gut so. Von dem Augenblick da er den Bungalow betreten hatte, war alle Erinnerung wie weggeblasen. Michael hatte ihr erzählt, dass er ihn mit einem der Pfeile niedergestochen hatte, dass er sie aus dem Bungalow geschafft hatte und weggetragen hatte. Isabel war bewusstlos gewesen, offensichtlich hatte er sie ziemlich schwer verletzt gehabt und Michael war sich nicht sicher gewesen, ob sie das überleben würde. Er hatte sie einfach getragen, die Hauptstraße entlang, immer weiter und weiter, durch die Dunkelheit und dabei beruhigend auf sie eingeredet. Eigentlich hatte er ihn umbringen wollen. Aber nachdem Michael ihm den Pfeil in den Nacken gerammt hatte, hatte er nur noch Augen für Isabel gehabt, und dafür sie so schnell wie möglich in ein Krankenhaus zu bringen. Jetzt wusste er, dass es einen Fehler gewesen war, aber damals war es ihm vollkommen egal. Irgendwann hatte Michael das Auto gefunden. Er hatte es einfach einige hundert Meter im Wald an der Hauptstraße abgestellt, seine komplette Ausrüstung im Kofferraum. Und so hatte Michael Isabel auf die Rückbank gelegt, direkt neben Carinas mittlerweile schon leicht verwester Leiche und war losgerast. Sogar der Zündschlüssel steckte, so sicher hatte er sich gefühlt. Michael kam das nur zu Gute und Isabel auch. Die Ärzte hatten ihm gesagt, dass es tatsächlich Rettung in letzter Minute gewesen war. Wäre er nur ein paar Minuten später gekommen, wäre Isabel verblutet. Aber sie war nicht verblutet. Isabel lächelte leicht. Eine Zeit lang hatte sie sich wirklich gewünscht, dass auch sie damals gestorben wäre. Und sie war sich sicher, dass auch Michael das oftmals gedacht hatte. Es wäre alles so viel leichter gewesen. Einfach zu sterben, einfach bei ihren toten Freunden zu sein. Sie wusste nicht, wie sie die Beerdigungen, die ganzen Vernehmungen durch die Polizei verkraftet hatte. Und noch weniger wusste sie, wie sie weiter mit der Nachricht hatte leben können, dass er entkommen war. Am Anfang hatte sie ständig Alpträume gehabt, sich eingebildet, dass er in ihrer Wohnung war. Isabel hatte einige Therapien über sich ergehen lassen müssen, genauso wie Michael auch, aber jetzt ging es ihnen Beiden endlich wieder besser. Es war genau ein Jahr her. Heute vor einem Jahr hatten Sebastian, Thorben, Oliver und Marie ihr Leben verloren. Isabel klammerte sich an den Blumen fest, die sie in der Hand hielt und sah traurig auf das Grab ihrer toten Freundin. Es waren bereits einige Menschen dort gewesen und hatten Blumen niedergelegt. Der Gedanke, dass niemand sie vergessen hatte, dass Isabel in der Erinnerung ihrer Familie und Freunde weiterlebte, beruhigte Isabel irgendwie. Es war ein gutes Gefühl. Sie ließ Michaels Hand los und beugte sich hinunter zum Grab, um die frischen Blumen abzulegen. Als sie aufstand und sich zum Gehen wandte, die Hand wieder fest in Michaels, wusste sie, dass jetzt alles wieder gut werden würde. Sie würde das, was vor einem Jahr passiert war, nie vergessen. Aber jetzt war es an der Zeit loszulassen und ein neues Leben zu beginnen. Die Vergangenheit sollte die Vergangenheit bleiben. Sie lächelte Michael an und gab ihm einen sanften Kuss. Für einen Augenblick erfüllte sie ein Gefühl von Wehmut, und sie wünschte, Marie wäre hier, um ihr Glück teilen zu können. Isabel schüttelte den Gedanken ab. Ihre beste Freundin war da. Nicht direkt neben ihr, aber trotzdem, sie war da und freute sich für sie.

Er stand am Waldrand und beobachtete sie. Wie damals. Beobachten und im richtigen Augenblick zuschlagen. Er hatte einen Fehler begannen, aber das  würde ihm nicht noch einmal passieren. Er war entkommen, hatte sich durchgeschlagen, hatte sich so verändert, dass sie ihn garantiert nicht wieder erkennen würden, bis es zu spät war. Und er war bereit für seine Rache. Eine grausame Rache, so viel war sicher. Und sie hatten es wirklich verdient, – das was sie ihm angetan hatten, war einfach zu viel gewesen. Carina hatte ihn bis aufs Blut blamiert. Schon als Kind war sie besser im Tauziehen gewesen als er, und wenn er jetzt daran dachte, empfand er schon wieder eine unbändige Wut auf sie. Doch das war jetzt vorbei, sie war tot. Genau wie Sebastian, der ihn immer als schwimmende Boje bezeichnet hatte. Aber das hatte er Sebastian heimgezahlt. Genauso wie er es Thorben heimgezahlt hatte, dass er ihm nie zugehört hatte, nur über seinen blöden Bungalow-Park geredet hatte und für nichts anderes mehr Augen hatte. Und Oliver hatte ihm doch tatsächlich die Sache mit dem Silvester-Kracher zu schreiben wollen, der damals, an Silvester einen Baum in Flammen gesetzt hatte. Und zu guter Letzt Marie. Sie hatte ihn doch tatsächlich an die Polizei verraten, als er gesucht worden war. Gut, zuerst hatte sie so getan, als wollte sie ihm helfen, aber letzten Endes hatte sie den Polizisten doch verraten, wo er war. Und das alles, weil er auf dem Parkplatz des Supermarktes einen anderen Wagen gerammt hatte und Fahrerflucht begangen hatte. Michael hatte sterben sollen, weil er, ihn genau wie seine eigene Schwester furchtbar blamiert hatte. Beim Bogenschießen. Er selber war doch in einem Club, übte seit Jahren, und dann war Michael einfach besser gewesen, als er selber. Und was Isabel ihm angetan hatte, war wirklich die Höhe gewesen. Sie hatte ihn tatsächlich ausgetrickst. Sie und Michael. Aber auch sie würde büßen. Jetzt endlich. Er sah wie sie Michael küsste. Nun, ihr Glück würde ohnehin nicht von großer Dauer sein. Und dann begann er wieder sein Lied zu summen. Ganz plötzlich und völlig unerwartet fiel ihm auch endlich ein, welches Lied es war. Zehn kleine Negerlein. Doch der Text wollte ihm einfach nicht einfallen. Aber sich einen eigenen Text auszudenken, war ja auch kein großes Problem, jedenfalls für ihn nicht. „ Sieben kleine Teufelchen, die fuhren in den Wald, eine wurde aufgehang´ und war nach kurzem kalt. Sechs kleine Teufelchen, die schwammen in den Sümpf´, einer von ihn´ ist ertrunkn, da warens nur noch fünf. Fünf kleine Teufelchen, die hatten ne Idee, einer hat sich tot gedacht, da waren´s nur noch vier. Vier kleine Teufelchen, die spielten mit dem Feuer, einer hat sich angezün´, das kam ihn ganz schön teuer. Drei kleine Teufelchen, die hatten große Not, denn eine von ihn´war ganz plötzlich tot. Zwei kleine Teufelchen, die spielten Indianer, einer wurd vom Pfeil getroff´n, da war es nur noch einer. Ein kleines Teufelchen, fühlt´sich einsam und allein, das böse Monster half ihr schnell, so konnt sie wieder bei ihren Freunden sein.” sang er und dann trat Karsten aus dem Schatten des Waldes heraus und schlenderte langsam auf den Friedhof zu.


  1. katrin

    Hallo Tina!

    Coole Geschichte! Echt super! Weiter so 😉

    Gruß Katrin



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