von Thomas Pielke

„… an diesem sonnigen Sonntagmorgen. Wir wünschen ihnen einen schönen und erholsamen Tag.” Vom Radiowecker gestört, schlug Joachim seine Augen auf. Gelber Sonnenschein fiel durch die Lamellen der Jalousien vor den Fenstern und tauchte den Raum in eine freundliche Helligkeit, in der einzelne Staubkörner durch die Luft tanzten. „Es ist sieben Uhr. Willkommen zu den morgendlichen Nachrichten. Das Wetter, mit Vorhersagen für die restlichen Juli-Tage, wird ihnen am Ende der Sendung von meiner reizenden Kolleg…” Mit einer unkoordinierten, verschlafenen Handbewegung schaltete Joachim den kleinen schwarzen Apparat aus und kroch unter der wärmenden Bettdecke hervor. „Warum stelle ich mir den Wecker an einem Sonntagmorgen auf sieben Uhr?”, fragte er benommen in die Leere seines Schlafzimmers, nachdem er sich aufgerichtet und auf die Bettkante gesetzt hatte. „Ach ja! Ich treffe mich ja nachher mit Julia. Man, was bin ich bescheuert? Für eine Frau stehe ich so früh auf.” Kopfschüttelnd richtete sich der Junggeselle auf und schlurfte unmotiviert und kopfschüttelnd ins Badezimmer. Das kalte Wasser der Dusche lies Joachim schlagartig aus seinem tranceartigen Zustand aufwachen. Schnell drehte er an den Reglern herum, bis das Wasser eine angenehmere Temperatur hatte. „Warmduscher!”, sprach er zu sich selbst,  grinste dabei und griff nach der Shampooflasche. „Seven Shower”, las er von der bläulichen Flasche vor. „Das neue Waschgel für die Haare des modernen Mannes – mit sieben extra pflegenden Proteinen, zur Stärkung der Kopfhaut.” Ohne weiter über die Angaben auf der Flasche nachzudenken, füllte sich Joachim ein wenig des Shampoos in die Hand und massierte es in seine Haare ein.

Mit der Körperpflege fertig und komplett angezogen, trottete er in die Küche um die Kaffeemaschine anzustellen. „Dieser braune Wundersaft ist das einzige, was mich aufbauen kann!”, sprach er erneut in die Leere des Raumes. Selbstgespräche waren ein Laster, welches sich Joachim während der langen Jahre seines Singledaseins angewöhnt hatte, um die Einsamkeit wenigstens ein wenig aus seiner Wohnung zu vertreiben. „Ich brauche niemanden um mich zu unterhalten. Ich hab mich selbst”, antwortete er grinsend auf die fragenden Blicke seiner Freunde, wenn seine Angewohnheit zum Gespräch kam. Nach wenigen Minuten hatte er endlich die Tasse mit dem dampfenden, schwarzen Getränk in der Hand, das er erlabend trank. „Ah, tut das gut!”, sprach er und nahm die Kaffeepackung zur Hand. Ein Produkt, welches er am Vortag nur gekauft hatte, weil seine Lieblingsmarke vergriffen war. „Neue Rezeptur”, las Joachim vor, eine weitere Sonderheit, die er sich angewöhnt hatte – ständig alle hervorstechenden Texte von Genuss- und Verbrauchsmittelpackungen vorzulesen. „Die Vielfalt der sieben besten Kaffeebohnen aus Afrika vereint in dieser Komposition des neuen Aroma-Kaffees wird ihren Gaumen kitzeln und verwöhnen.” Die Tasse immer noch in der Hand haltend, führte ihn sein Weg zur Wohnungstür, die er öffnete, um freudig festzustellen, dass der Zeitungsjunge ihm bereits sein persönliches Exemplar des Sonntagsblattes gebracht hatte. Er bückte sich, griff nach der Zeitung und verschwand wieder im Inneren der Wohnung, während die Tür klackend ins Schloss fiel. „Konflikt in Nahost hält weiter an”, las Joachim die Überschrift auf dem Titelblatt der Zeitung und vertiefte sich daraufhin sofort in den zugehörigen Artikel. „Auch am siebten Tag, nachdem libanesische Rebellentruppen in das israelische Grenzgebiet eingedrungen sind, dauern die kämpferischen Handlungen an. Dutzende Menschen, Soldaten, wie auch Zivilisten, wurden dabei bereits getötet. Bundeskanzler Beck forderte am gestrigen Tag, in seiner Rede anlässlich seines Besuches in Moskau, die verfeindeten Parteien auf, einen friedlichen Weg zu gehen und mit intensiven Gesprächen die Streitigkeiten beizulegen.” Beiläufig blätterte Joachim durch die Zeitung, die an Sonntagen immer besonders dick war und überflog die bunt gedruckten Überschriften, sowie die großen Bilder von Berühmtheiten, oder von Menschen, die die Zeitung dafür hielt, wie sie sich an den Stränden verschiedener Mittelmeer- und Karibikinseln sonnten. „Mensch, lasst die Armen Leute doch mal in Ruhe. Auch die haben das Recht auf ein Privatleben”, sprach er und blätterte dabei auf die nächste Seite, auf der die Horoskope des Tages abgedruckt waren, eine Rubrik die Joachim sonst sehr wenig interessierte und die er normalerweise ignorierte. Doch an diesem Tag, er wusste selbst nicht genau wieso, suchte Joachim nach der Spalte der Waage, seines Sternzeichens und las laut vor: „Liebe: Wenn sie heute alles richtig machen und auf die Zeichen achten, kann ihre Einsamkeit heute ein Ende finden. Geld: Es steht ihnen eine unerwartete Finanzspritze bevor. Gesundheit: Gehen sie allen Merkwürdigkeiten aus dem Weg und sie werden die nächsten Tage heil und munter überstehen.” Ohne den Text weiter zu beachten, und die gerade gelesenen Worte schon wieder vergessend, stellte er seine Kaffeetasse auf die Seite mit dem Horoskop, die darauf einen unansehnlichen, braunen Ring auf dem Recyclingpapier hinterließ. Ein Brummen in den Eingeweiden des jungen Mannes kündigte ein Hungergefühl an, welches nicht lange auf sich warten ließ. „Mist!”, fluchte Joachim und stand dabei auf, um in Richtung Küche zu gehen. „Ich wollte doch mit Julia zum Brunchen gehen, aber bis dahin bin ich verhungert.” Ein Blick auf die Uhr, sieben Minuten nach acht, also noch fast zwei Stunden bis zum Treffen mit der jungen Frau, die er eine Woche zuvor in einer Bar kennen und auch schätzen gelernt hatte, schien seine Aussage zu bestätigen und seinen Bauch sich ein zweites Mal zu Wort melden. In der Küche angekommen, hatte Joachim mit wenigen Handgriffen einige Zutaten aus Kühl- und Vorratsschrank zu Tage gefördert und schmierte sich ein Brot – eine Hälfte mit Käse, die andere mit Marmelade – welches er sich schmatzend schmecken lies. „Warum bin ich eigentlich so früh aufgestanden?”, ärgerte sich der junge Mann kauend. „Ich hätte ruhig noch liegen bleiben können und wäre trotzdem noch rechtzeitig zu meiner Verabredung gekommen.” Um die Wartezeit zu überbrücken und die aufkommende Langeweile im Keim zu ersticken, entschied Joachim die Wohnung zu verlassen, um im nahe gelegenen Park spazieren zu gehen. Die ungewöhnlich warme Morgenluft schlug ihm ins Gesicht, als er die Tür des Wohnhauses hinter sich zufallen lies. Vögel zwitscherten im Sonnenlicht und ein Eichhörnchen lief auf der anderen Straßenseite einen dicken Baumstamm hinauf. „Das ist ja wundscherschön, dass es ja schon fast zum Kotzen ist”, gab Joachim von sich und grinste dabei zufrieden über seine Äußerung, die allerdings niemand gehört hatte, außer er selbst und eine Biene, die in diesem Moment gerade am Kopf des jungen Mannes vorüber geflogen war. Langsam nahm Joachim Geschwindigkeit auf und schlenderte entspannt an der Straße entlang in Richtung Parkgelände. Ein seichter Wind wehte durch die Krone der Bäume, die am Übergang von der asphaltierten Straße zur grünen Wiesenfläche des Naherholungsgebietes standen, als er den sandigen Feldweg betrat. Belustigt schaute er zu, wie einige Kinder, unweit von ihm entfernt, laut johlend, nach einem alten Fußball traten. Lächelnd erinnerte er sich an seine Kindheit, als er selbst in diesem Park, durch den er gerade schritt, mit seinen Freunden Ball spielte. „Entschuldigung!”, wurde Joachim von einem älteren Mann unterbrochen, der mit einem auffälligen, russisch klingenden Akzent sprach. Trotz des warmen Sonntages war er in eine alte, zerfetzte Jacke gehüllt, die zu seinem gleichfarbigem, braunen Hut passte. „Haben sie ein wenig Kleingeld für einen armen alten Mann? Ich bin vor Jahren aus Kasachstan hierher gekommen, um mein Glück zu finden, doch ich suche immer noch danach. Geboren wurde ich an der Mündung des Ili in den schönen Balchaschsee.” Joachim war normalerweise ein freundlicher Mensch, doch hatte er keine Lust, sich mit dem alten Mann zu unterhalten und drückte ihm einige Münze in die Hand, um darauf schnell weiter zu gehen. „Oh Mann, da muss ich mir noch die Lebensgeschichte von dem alten Russen anhören”, sprach er leise, nachdem er einige Schritte gegangen und sich sicher war, dass der Mann ihn nicht mehr hören konnte. Sein Blick fiel wieder auf die spielenden Kinder. Einer der Jungen hatte den Ball zwischen zwei Bäume geschossen und somit ein Tor erzielt, was er zur Gelegenheit nahm, sich ausgiebig und wild hüpfend zu freuen. Joachim konnte sich ein breites Grinsen nicht verkneifen, erkannte er sich in diesem Jungen nur zu gut wieder. Seinen Blick wieder auf den Weg vor sich gerichtet, wanderte er weiter durch die morgendliche Idylle des Parks. Erst wenige Menschen hatten ihren Weg zu der frühen Stunde auf die Grünfläche geschafft. Eine Mutter schob ihr Baby in einem Kinderwagen den Weg entlang, während sich ein junges Pärchen im Schatten eines dicken Baumes umarmte und zärtlich küsste. Mit einem Blick auf die Uhr vergewisserte sich Joachim, dass er noch über eine Stunde Zeit bis zu seinem Treffen mit Julia hatte und setzte sich auf eine Parkbank. Von diesem Punkt aus, hatte er einen guten Überblick über die gesamte Grünfläche mit den vereinzelten Baumgruppen. Joachim hörte Schritte hinter sich erklingen. Doch bevor er sich umdrehen konnte, um zu schauen, wer sich näherte, saß auch schon eine ältere Frau neben ihm. Ihr Haar war wellig und zu einzelnen Strähnen verklebt. Sie war in dreckige und verschlissene Kleidung gehüllt. Dachte der junge Mann am Anfang nur, einen leichten, scharfen Geruch wahrzunehmen, war er sich nach einigen Minuten bei seiner Annahme sehr sicher. „Hallo mein Schöner!”, krächzte die Frau mit einer unangenehm kratzenden Stimme. „So alleine hier?” – In Joachim machte sich ein unbehagliches Gefühl breit und zunächst war er nicht sicher, was er machen sollte. „Was kann ich für Sie tun?”, fragte er nach kurzer Bedenkzeit und dem Ergebnis sich höflich gegenüber der Frau zu geben, auch wenn sie einen heruntergekommenen Eindruck machte. Die Mundwinkel der Alten verzogen sich zu einem gemeinen Grinsen. „Da würde mir so einiges einfallen, aber deshalb bin ich nicht hierher gekommen.” Joachim schluckte, lies die Fremde aber weiterreden. „Habe dich hier sitzen sehen und da hat mir mein Gefühl gesagt, dass dir ein schlimmes Schicksal bevorsteht.” Joachim schüttelte den Kopf und wollte aufstehen und gehen, doch plötzlich sprang die alte Frau auf, als ob sie gerade das zwanzigste Lebensjahr vollendet hatte und drückte den jungen Mann mit ihren faltigen Händen und enormer Kraft zurück auf die hölzerne Sitzfläche. „Hör mir zu, Bursche!”, keifte die Frau, ihren mit Zahnlücken gespickten Mund unweit von Joachims Gesicht positioniert. „Beachte die Zeichen, die dir das Schicksal aufzeigt, sonst werden dich die Tore der Hölle verschlucken!” Joachim wurde es zu bunt. Angewidert vom Gestank, den die Fremde von sich gab und erschrocken und verwundert über die plötzliche Aktivität der Alten, riss er sich mit einem gewaltigen Ruck los und entfernte sich schnellen Schrittes von der Parkbank. „Du spinnst wohl!”, rief er der alten Frau zu, sich immer wieder umdrehend, um sich zu vergewissern, dass sie ihm nicht folgte. „Rennen denn an diesem Tag nur Verrückte und Bekloppte durch den Park?” Als er sicher war, nicht verfolgt zu werden, richtete Joachim seinen Blick nach vorn und begann mit sich selbst zu sprechen. „Meine Güte. Der Tag ist noch jung und ich wurde schon von zwei Pennern belästigt. Ich hätte Julia absagen und im Bett bleiben sollen. Aber wenigsten kann ich nachher von meinen Erlebnissen erzählen. Ist immer noch besser, als sich nur gegenüber zu sitzen und sich anzuschweigen.” Immer noch geschockt von dem Übergriff der alten Frau, verließ Joachim den Park, um nicht noch weiteren merkwürdigen Personen zu begegnen. Für einige Sekunden überlegte er sogar, die Polizei anzurufen und sie auf die Anwesenheit der alten Frau im Park und somit auch auf die mögliche Bedrohung der dort spielenden Kinder aufmerksam zu machen, verwarf diesen Gedanken aber wieder schnell. Immer noch in den Gedanken versunken, die von dem merkwürdigen Treffen verursacht wurden, merkte Joachim, dass er sich schon einige Straßenzüge vom Park entfernt hatte. Langsam nahm der Verkehr in der mittelgroßen Stadt zu. Mehr Autos fuhren durch die Straßen, als zu der morgendlichen Stunde, als Joachim seine Wohnung verlassen hatte. Er blickte sich um und bemerkte, dass er am Reutherplatz angekommen war, eine Ecke der Stadt, die er schon lange nicht mehr betreten hatte. „Sjö – Das schwedische Restaurant”, prangte ein Schild über einem kürzlich renovierten Gebäude und weckte Joachims Interesse, welcher daraufhin zum Fenster des Gebäudes ging und mit leiser Stimme einige Posten auf der Speisekarte vorlas, die ihm das Wasser im Munde zusammenlaufen ließen. „Köttbullar in Sahnesauce mit Kartoffeln. Gegrillter Lachs mit grünem Spargel. Erdbeercreme mit Vanilleeis und Sahne.” Mit Vorlesen fertig, hielt Joachim die rechte Hand über seine Augen, um einen Blick durch die Scheibe auf das Interieur des Restaurants werfen zu können. „Hallo Joachim!”, wurde er von einer Stimme hinter ihm überrascht, worauf er sich ruckartig umdrehte. „Julia!”, platzte es aus ihm heraus, als er in die wunderschönen, blauen Augen einer jungen Blondine blickte. „Was machst du denn hier?” „Das gleiche könnte ich dich auch fragen!”, antwortete sie lächelnd und dabei verlegen an ihrem Haar spielend. „Ich wollte vor unserem Treffen noch ein wenig spazieren gehen und bin zufällig hier vorbei gekommen.” „Bei mir war es genauso. Dann können wir doch gemeinsam ein wenig durch die Gegend gehen, bevor wir dann brunchen, oder nicht?”, schlug Joachim vor und stieß damit bei Julia auf Zustimmung. Gemeinsam schlenderten sie durch die Straßen der Stadt und unterhielten sich. Plötzlich blieb Julia stehen und wollte ihren Begleiter zurückhalten, doch es war schon zu spät. Joachim blickte auf den Boden und realisierte, dass er sich zwischen den Stahlträgern der in den Boden eingelassenen Straßenbahnenschienen befand. Ein harter Schlag traf den Körper des jungen Mannes und ließ ihn einige Meter durch die Luft fliegen, bevor er auf den rauen Untergrund aufschlug. Schrille Schreie erfüllten die Luft und drangen tief in Joachims Kopf ein, aus dem sich durch eine längliche Wunde langsam ein Schwall roten Blutes ergoss. Panisch blickte er in Julias erschrockenes und starres Gesicht, über das langsam durchsichtige Tränen rannen. Langsam drehte Joachim seinen Kopf und sein Blick fiel auf den Triebwagen der Straßenbahn, der ihn durch die Luft geschleudert hatte. Das geschockte Gesicht des Fahrers war hinter der Windschutzscheibe zu erkennen und über ihm prangte die Zahl, die die Linie der Bahn anzeigte. „Sieben!”, keuchte Joachim mit letzter Kraft. „Jetzt ergibt alles einen Sinn!” Langsam schloss er die Augen und hauchte seinen letzten Lebensfunken aus.


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