von Hermann Bauer

Während Gerd, der Wirt des „Kill Roy” eines seiner letzten Biere zapfte, fragte er einige seiner Gäste, die nach einem anstrengenden Arbeitstag ausgelaugt am Barhocker saßen: „Kommt ihr morgen zur Versteigerung?”

Werner und Franz nickten mit dem Kopf: „Aber natürlich, so etwas lässt man sich doch nicht entgehen!”

Johann schaute Gerd erstaunt an und fragte: „Was für eine Versteigerung?”

Gerd zündete sich eine Zigarette an, warf das Streichholz lustlos in den Aschenbecher und erklärte: „Dass wir die Kneipe schließen, ist dir ja bekannt. Die Kneipe trägt sich schon lange nicht mehr. Der Umsatz ist zu gering. Die Stammkunden kommen seltener. Das war vor 7 Jahren noch ganz anders. Der Stadtteil hat sich verändert. Aus den Studenten-Wohngemeinschaften sind Lehrerehepaare geworden.” Gerd zuckte deprimiert mit den Schultern: „In zwei Stunden machen wir den Laden für immer dicht. Morgen wird hier das ganze Inventar versteigert, vom Besteck, den Gläsern, Kochtöpfen, Salz- und Pfefferstreuern bis zu den Bildern, Tischen, Stühlen, Barhockern, Lampen … alles eben – außer der Serviererin. Was nicht an den Mann gebracht werden kann, landet auf dem Sperrmüll.”

Franz forderte vom Wirt: „Wenn du einen Funken Anstand hättest, würdest du uns heute, am letzten Tag, alle Getränke gratis ausschenken. Sozusagen als Dank, dass wir dir die vielen Jahre über die Treue gehalten haben.”

Gerd lachte und fragte ihn: „Hast du denn nicht gewusst, dass heute alles auf meine Rechnung geht?”

Franz trank schnell den Rest seines Bieres aus und sagte: „Wenn das so ist, dann gib mir noch ein Bier.”

Gerd zapfte das Bier, stellte das Glas auf den Bierdeckel und flüsterte Franz ins Ohr: „Gute Stammkunden, wie du einer bist, bekommen morgen natürlich die Sachen, die sie als Andenken an schöne Stunden mitnehmen wollen, gratis. Das ist doch klar. Schau dich also schon mal um, was du so alles haben willst.”

Franz drehte sich auf seinem Barhocker, schaute nach links und rechts und betrachtete alle Gegenstände. Dann sagte er zu Gerd: „Ich weiß schon, was ich gerne hätte. Die getöpferten Kerzenständer aus Ton haben mir schon immer gefallen.”

„Gut, dann sei morgen pünktlich, wir beginnen um 7 Uhr abends.”

Als die Interessenten am nächsten Tag um 7 Uhr die Kneipe aufsuchten, hatte sich ein Trödler schon die Rosinen aus dem Inventar herausgepickt. Er lud auf seinen Lastwagen einige Vitrinen, Regale, Tische, Stühle und Barhocker. Die Kneipe war gesteckt voll. Die einen wollten sich ein Souvenir sichern, andere waren auf Schnäppchen aus. Kostenlos gab es Speisekarten, Gläser, Aschenbecher, Bierdeckel und Blumentöpfe. Gerd schrie durch das Gastzimmer: „Leute, alles ist zu haben, was ihr seht. Lediglich die Zigaretten- und Spielautomaten, die Musikbox, die Zapfanlage und die Datenkasse werden morgen noch abgeholt.”

Auch die Ehefrauen von ehemaligen Gästen, die sich sonst hier nie blicken ließen, sahen sich in der Küche um und interessierten sich für die Qualitätskochtöpfe, Teller, Bestecke, Tischdecken, Vorhänge und Vasen.

Arthur, der sich gerade eine Wohnung einrichtete, feilschte mit dem Wirt über den Preis des angeblich nagelneuen Kühlschranks und der zwei Gefriertruhen.

Herbert musterte die Zinnteller- und Krüge. Auch er wurde sich schnell mit dem Wirt über den Preis einig. Sein schelmiges Gesicht ließ vermuten, dass er diese Sachen für einen Apfel und ein Ei bekam.

Ein Gast spielte mit seinem Zeigefinger „Hänschen klein” auf dem verstimmten Klavier, das in der Ecke neben der Toilette stand.

Der Wirt ging zu ihm und sagte: „Das Klavier habe ich dem Bernd versprochen, ich schenke es ihm.”

„Das finde ich aber edel von dir”, meinte der Gast, „immerhin hat er uns jedes Mal, wenn er aufkreuzte, mit seinem vielseitigen Repertoire beglückt.”

Manche Gegenstände fanden keine Abnehmer. Wer konnte auch schon eine Uhr mit Werbeaufdruck einer Zigarettenmarke brauchen oder einen eingerahmten schlauen Spruch von Schopenhauer?

Einer schrie: „Hans, brauchst du nicht noch eine Wohnzimmerlampe?”

„Schon”, lachte dieser, „aber die sind mir zu hässlich.”

Nach zwei Stunden waren fast alle Gegenstände unter die Leute gebracht: Die vielen Salz- und Pfefferstreuer, Maskottchen vom Nichtraucher-Schachclub bis zum Bienenzuchtverein, Pokale von Schützen- und Sportvereinen, die zerbrochenen Skier aus den 20er Jahren, ein Ölbild eines Möchtegernkünstlers, Postkarten, die Stammkunden aus Urlaubsländern schickten.

Die Türe öffnete sich und Bernd kam herein.

„Bernd, es ist schon alles weg”, sagte schadenfroh ein Stammgast.

„Das ist mir egal, ich bin nur auf das Klavier scharf.” Seinen Blick auf Gerd gerichtet, fragte Bernd: „Kann ich das Klavier morgen auch noch abholen?”

„Aber klar”, meinte der Wirt.

„Bernd, jetzt hau noch ein letztes mal in die Tasten”, schrie ein Weißhaariger.

Alle waren seiner Meinung. Bernd ließ sich nicht lumpen und spielte das, was er immer spielte: Stimmungslieder, Schlager und Oldies.

Gerd verteilte noch angebrochene Schnapsflaschen an alle, schaute auf die Uhr und sagte: „Leute, ich werfe euch ungern raus, aber ich möchte in ein paar Minuten zusperren.”

Bernd sagte: „Jetzt spiele ich mein letztes Lied.” Es war plötzlich ruhig wie in einem Konzertsaal. „Ich spiele ein Lied, das ich hier noch nie spielte und das zum heutigen Tag passt – ein relativ unbekannt gebliebenes Lied von Udo Jürgens aus den 70er oder 80er Jahren”, und er sang „Wenn der letzte Vorhang fällt, dann gehst nur du, das Stück geht weiter … Spätestens nach dem zweiten Refrain summten, krächzten und sangen alle mit.

Das Lied war kaum verklungen, da gingen alle, die meisten sehr gerührt, zu ihren Autos und verstauten ihre erstandenen Gegenstände.

Auch Gerd ging traurig zu seiner nahe gelegenen Wohnung. Mit einem tiefen Seufzer setzte er sich auf seine noch nicht gepfändete Ledercouch. Ein wertvolles Andenken war Gerd geblieben: Das Fotoalbum des „Kill Roy”. Er blätterte schweren Herzens das Album durch. Er schmunzelte über das Foto mit Widmung des damals völlig verarmten Alleinunterhalters, dessen Kompositionen Jahre später in allen Radiostationen der Welt heruntergedudelt wurden. Ein bekanntes Fotomodell, das hier in der Kneipe ihren besoffenen Vater abholte, durfte erst wieder gehen, als sie auf eine Zeitungsseite ihren Traummann gezeichnet hatte. Gerd amüsierte sich über ein Blatt aus einem Notizblock eines Gastes, der eine gelungene Karikatur eines Stammgastes angefertigt hatte. Ein getrocknetes und gepresstes Veilchen löste sich bereits auf. Bei der Zeichnung mit Biergläsern und dem Spruch „Wer nichts wird, wird Wirt” wusste er nicht, ob er lachen oder weinen sollte. Fotos folgten, die an Silvester und im Fasching geknipst wurden, ein Foto von der Renovierung der Hausfassade, unzählige Fotos von Feiern, Jubiläen und Preisverleihungen.

Gerd schloss das Album, lehnte sich zurück und träumte vor sich hin. Vielen Leuten hatte er in diesen 7 Jahren in seiner Kneipe das Gefühl einer Heimat und des Zuhauseseins gegeben. Sein Publikum war wie eine große Familie. Einzigartig war die Atmosphäre. Gerd war in seiner Kneipe Trostspender, Eheberater, Krisenbewältiger, Psychologe, Arzt, Rechts- und Steuerberater, Jobvermittler, Berufsoptimist, Witzbold und Clown zugleich. Es waren herrliche 7 Jahre!

Die Stammkunden traf das Ende nach 7 Jahren viel härter als ihn selbst. Er hatte sich mit dem Konkurs längst abgefunden.


  1. manuel bauer

    sehr schön zu lesen! erstaunlich wunderbar!



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