von Andrea Kippert

Es war ihr siebtes Gespräch, an das sie sich noch Jahre würde erinnern können, trug es doch bedeutend zu einem Wendepunkt in ihrem Leben bei.

Immerzu muss sie an die letzte Viertelstunde ihrer Gesprächstherapie denken:

„Was ist eigentlich mit Ihrem Vater?”, wollte Frau Dr. Huber wissen. Lena dachte nach. „Viel weiß ich nicht von ihm”, antwortete sie und zog die Schultern hoch. „Er hat nach meiner Mutter wieder geheiratet und lebt mit seiner Familie in Hamburg.”

„Sie haben keinen Kontakt zu ihm?”

„Nein.”

„Warum nicht?”

„Meine Mutter wollte das nicht. Sie hat gesagt, er habe uns damals verlassen. Er habe uns nicht gewollt.”

„Wann hat ihr Vater Sie verlassen?”

„Ich habe ihn nie kennen gelernt. Er ging weg, als ich noch ein Baby war.”

„Und Sie haben nie wieder von ihm gehört?”

„Doch. Er hat mir im Laufe meines Lebens viele Briefe geschrieben. Und zu jedem Geburtstag schickte er eine Glückwunschkarte. Auch hatte er mir einmal eine sehr schöne Puppe geschenkt.”

Die Therapeutin lächelte: „Das hört sich doch sehr gut an. Ihr Vater scheint den Kontakt zu Ihnen gesucht zu haben. Ist es denn nach diesen zahlreichen Briefen niemals zu einem Treffen gekommen?”

Lena schüttelte den Kopf. „Nein. Er wollte sich mal mit mir treffen. Doch meine Mutter verhinderte es. Nach dem Scheidungskrieg wollte sie nie wieder etwas mit ihm zu tun haben.”

„Hatten Sie denn nie den Wunsch, mit ihm in Verbindung zu treten?”

„Nein. Meine Mutter hatte mir alles erzählt, was damals vorgefallen ist. Sie hat kein gutes Haar an ihm gelassen. Er hat mich als Baby geschlagen. Er ist fremdgegangen, er saß Tag für Tag in der Kneipe und als ich mir beim Laufen lernen eine Platzwunde zugezogen hatte, war ihm das egal. Unser Nachbar brachte mich schließlich ins Krankenhaus. Nein, ich vermisse ihn nicht.”

„Ihre Mutter hat Ihnen nur Schlechtes von Ihrem Vater geschildert. Bedenken Sie bitte, Ihr Vater war damals noch sehr jung und völlig überfordert mit dieser Situation. Er wollte sich noch nicht binden. Später war er sehr wohl bereit, eine Ehe einzugehen und ein Kind in die Welt zu setzen. Die Menschen verändern sich im Laufe ihres Lebens. Sie haben nur eine Version ihres Vaters kennen gelernt. Haben Sie sich nie gefragt, ob es auch noch eine andere Seite ihres Vaters gibt?”

„Nein. Ich kann es mir nicht vorstellen.”

„Denken Sie mal darüber nach. Geben Sie ihrem Vater eine Chance.”

Den Rest des Tages grübelt Lena über die Beziehung zu ihrem Vater. Warum hatte sie nie das Bedürfnis gehabt, nun, da sie erwachsen ist, mit ihm Kontakt aufzunehmen? Stand sie immer noch zu sehr unter dem Einfluss ihrer Mutter, die ihr nie eine eigene Meinung zu diesem Menschen erlaubt hatte?

Es ist später Abend. Die Kinder schlafen längst. Lena holt ein schwarzes Ringbuch aus ihrer Nachttischschublade, ganz leise, um ihren Mann nicht zu wecken. Darin befindet sich der gesamte Schriftverkehr einschließlich der gerichtlichen Protokolle der Scheidung, und, was sie im Moment mehr interessiert, alle Briefe und Postkarten, die ihr Vater ihr im Laufe des Lebens geschickt hat. Dann liest sie:

„Glaube stets an das Leben.

Liebe, was dir gegeben.

Kommt dazu frohes Hoffen,

steht das Leben dir offen.

Zur Ersten heiligen Kommunion sendet Dir die besten Wünsche Dein Vater. Möge Dir Dein Ehrentag viel Freude bringen.”

Im folgenden Brief steht:

„Wundere Dich bitte nicht, dass ich Dir schreibe. Aber ich muss ständig an dich denken. Ich möchte Dir gern erzählen, wie ich lebe, damit du dir ein besseres Bild von mir machen kannst. Seit sechs Jahren bin ich mit meiner Frau Cordula verheiratet. Wir haben einen zweijährigen Sohn, der David heißt. Wir wohnen in einer Drei-Zimmer-Wohnung in einem Wohnhausblock. … In der Freizeit mache ich ein bisschen Sport. Cordula ist seit Davids Geburt Hausfrau. Sonntags gehen wir ab und zu Essen. Ich nehme an, dass auch Du ein gutes Familienleben hast und mit Deinem Leben zufrieden bist. Ich würde mich freuen, wenn Du mir ein Bild von Dir schenken könntest. Viele liebe Grüße von Deinem Vater.”

Und als Antwort auf meinen Brief schreibt er:

„Vielen Dank für Deinen lieben Brief und Dein Foto. Erlaube mir, dass ich ein paar Worte zu Deinem Foto sage: Ich war total überrascht, dass Du inzwischen zu so einem hübschen und großen Mädchen herangewachsen bist. Ich war und bin sehr stolz auf Dich. Ich möchte Dir sagen: Mach weiter so, Lena. Herzliche Grüße, Dein Vater.”

Einen Brief nach dem anderen nimmt Lena zur Hand. Sie ist gerührt. Einige Schreiben sind an ihre Mutter gerichtet, mit der Bitte, sie sehen zu dürfen. Lena blättert weiter. Die folgenden Schriftstücke kommen in kürzeren Abständen. Es geht um Unterhaltszahlungen, für die ihr Vater dringend einige Details von ihrer Mutter wissen muss. Und dann folgen wieder ein paar Zeilen, die an Lena gerichtet sind:

„… Ich möchte Dir noch einige meiner Gedanken schildern, die mir gerade gekommen sind. Es ist richtig, dass unsere Beziehung arg dürftig ist. Ich gestehe, dass ich mehr dafür hätte tun können, und müssen. Dafür bitte ich jetzt um Entschuldigung. Gestatte mir, dass ich Dir das schildere, was Du als meine Tochter wissen solltest: Du hast einen festen Platz in unserer Familie hier. Wir unterhalten uns genauso gut über Dich, wie über andere Verwandte und Freunde …”

Gerührt heftet Lena den Brief wieder ab und lässt ihren Tränen freien Lauf. Wie gut hätten ihr diese Worte getan, als sie noch ein Kind war. Ihre Mutter hatte ihr zwar keinen dieser Briefe vorenthalten, doch ihr Geschimpfe machte es ihr unmöglich, den Inhalt objektiv zu lesen. Ihre Mutter suggerierte ihr, dass jedes Wort von ihm eine Lüge sei. Jetzt, da sie die geschriebenen Worte ihres Vaters mit anderen Augen liest, tut es ihr sehr leid, dass sie ihm all die Jahre keine Chance gegeben hat. Er muss sehr darunter gelitten haben.

Lena blättert weiter. Nun kommt der letzte Brief, sie rechnet kurz, da war sie 19 Jahre alt. Er schreibt, die Situation sei unerträglich für ihn, dass sie auf keinen seiner Briefe geantwortet hat. Er kann es nicht nachvollziehen. „Obwohl ich nur Gutes von Dir gehört habe, habe ich kaum Hoffnung, dass Du Dein Verhalten mir gegenüber änderst.” Mit folgendem Satz beschließt er den Brief: „Ich hoffe, Du bist all die Jahre gut zurecht gekommen. Solltest Du Probleme haben und nicht weiter wissen: Ich werde immer für Dich da sein. Alles Liebe, Dein Vater.”

Laut schluchzend legt Lena den Brief zur Seite und begräbt das Gesicht in ihre Hände. Wie konnte sie all die Jahre denken, ihr Vater liebe sie nicht? Verzweifelt hatte er ihren Kontakt gesucht – ohne Erfolg.

Heute ist sie 32 und hat eine Familie. Dreizehn Jahre sind seit seiner letzten Kontaktaufnahme vergangen. Er könnte inzwischen gestorben sein.

Immer noch weinend, blättert Lena den Ordner erneut durch. Vielleicht steht irgendwo seine Telefonnummer.

Sie hat Glück. In einem mit Maschine geschriebenen Brief, in dem er ihrer Mutter gerichtliche Konsequenzen androht, sollte sie weiterhin ein Treffen mit seiner Tochter unterbinden, hat er seine Telefonnummer hinterlassen. – Jetzt fällt es ihr wieder ein:

Dieser Brief hatte ihrer Mutter sehr viel Angst gemacht. Sie hatte ihre Tochter damals dazu überredet, den Vater anzurufen, um ihm zu sagen, dass sie ihn nicht treffen und auch in Zukunft keinen Kontakt zu ihm haben möchte. „Das ist die einzige Möglichkeit, ihn endlich loszuwerden”, hatte ihre Mutter gesagt.

Unter Tränen muss Lena plötzlich lächeln, als ihr die Ironie des Schicksals bewusst wird: Damals hatte sie diese Nummer gewählt, um den Kontakt zu ihrem Vater endgültig zu kappen. Morgen wird sie die Telefonnummer erneut von diesem Zettel abtippen, um die Verbindung zu ihm wieder herzustellen.

*

Am nächsten Abend ist sie sehr nervös. Gleich wird sie mit ihrem Vater sprechen, vorausgesetzt er lebt noch und ist zuhause. Lena schreibt auf, was sie sich zu sagen vorgenommen hat. Wie soll sie sich vorstellen? „Hallo Vater, ich bin’s, deine Tochter…” Oder soll sie sagen: „Hallo, hier ist Lena…” Wie wird das Gespräch ausgehen? Wird er sich über ihren Anruf freuen? Oder macht er ihr Vorwürfe, weil sie sich damals so verhalten hat? Wird er mich ablehnen?

Mit zittrigen Fingern wählt sie die Nummer. „Tuut, tuut, tuut…” Eine Frauenstimme meldet sich. „Meier.” „Guten Abend, hier ist Lena…” „Lena? Manfreds Tochter?” „Ja.” „Das ist aber schön, dass Sie sich melden. Nach so langer Zeit. Ich bin Cordula.” Lena entspannt sich ein wenig. „Könnte ich Manfred sprechen?” „Nein, er wohnt nicht mehr hier. Er lebt seit einem halben Jahr in Frankfurt. Wir haben uns getrennt. Warten Sie, ich gebe Ihnen seine Nummer. …” Ich notiere mir die Telefonnummer. „Es kann sein, dass er noch beim Lauftreff ist”, fügt sie hinzu. „Versuchen Sie’ s einfach. Ich wünsche Ihnen alles Gute, Lena.” Ich bedanke mich und wir legen auf.

Lena war überrascht über den positiven Verlauf des Gespräches. Cordula war sehr freundlich zu ihr gewesen. Dass sie gleich wusste, mit wem sie es zu tun hatte, zeigt doch, dass ihr Vater nicht gelogen hat, als er seiner Tochter schrieb, dass sie sich über sie unterhalten. Sie ist nun sehr zuversichtlich, dass das Gespräch mit ihrem Vater ebenfalls so gut verläuft.

Abermals legt sie sich die Worte zurecht, die sie sagen will. Dann wählt sie die Nummer.

Als er abnimmt und seinen Namen nennt, sagt sie: „Hallo, hier ist Lena.”

„Lena… das ist aber eine Überraschung. Ich freue mich, deine Stimme zu hören.”

Weil Lena für einen Moment nicht weiß, was sie sagen soll, fragt sie: „Wie geht es dir? Ich hoffe, du bist gesund?”

„Mir geht es gut. Ich komme gerade vom Lauftreff. Und dir geht es hoffentlich auch gut, Lena? Du bist nicht krank, oder so, … ich meine, weil du mich anrufst?”

„Nein, mir geht es gut.” Und dann erzählt sie ihm den Anlass ihres Anrufes. Sie erwähnt die Gesprächstherapie und gibt ansatzweise das letzte Gespräch wieder. Es fällt ihr leicht, ihm alles zu erzählen. Sie hat keine Hemmungen – es ist, als hätten sie sich immer schon gekannt. Sie ist unbeschreiblich glücklich.

Er will seine Tochter unbedingt sehen. Sie arrangieren ein Treffen. Lena spürt ein angenehmes Kribbeln im ganzen Körper. Ihre Mutter darf auf keinen Fall von der Sache erfahren. Jetzt noch nicht.

Sie vereinbaren, sich nahe seinem Elternhaus zu treffen, auf dem kleinen Parkplatz neben der Pommesbude. Lena kennt die Stelle. Das Dorf, in dem er als Kind wohnte, ist keine zwanzig Minuten mit dem Auto entfernt. Lena schlägt das Herz bis zum Hals, als sie sich dem vereinbarten Treffpunkt nähert. Ihr Blick fällt auf den Blumenstrauß, der auf dem Beifahrersitz liegt. Manfred hatte erwähnt, sie könnten seiner Mutter, Lenas Oma einen Besuch abstatten, natürlich nur, wenn es ihr nicht unangenehm sei. „Das Leben hält manchmal merkwürdige Situationen für einen bereit”, sinnt Lena. “Ich kenne meine Oma nicht, obwohl sie nur einen Katzensprung von mir entfernt wohnt. Also wird das heute auch für diese alte Frau ein besonderer Tag, an dem Sie ihre Enkelin das erste mal seit der Zeit, als ich noch ein Baby war, wieder sieht.”

Sie lenkt ihren Wagen auf den Parkplatz, stellt ihn ab und steigt aus. Ein Mann kommt auf sie zu.

Er ist groß und sportlich. Er trägt einen modernen Anzug und macht einen geschäftigen, agilen Eindruck. „Klar, er ist Läufer”, denkt Lena. „Man sieht ihm seine 55 Jahre nicht an, obwohl sein Haar bereits grau wird. Abgesehen von der Brille hat sie sich ihren Vater genau so vorgestellt.

Er lächelt. Lena lächelt.

Sie stehen sich gegenüber. Er sieht sie ehrfürchtig an und sagt: „Hallo, meine liebe Tochter. Darf ich dich in den Arm nehmen?” Lena nickt. Glücklich nimmt er seine Tochter in den Arm, nach 32 Jahren…


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