von Benjamin Bläsi

1:

Sturmflut in Hawaii.

Dreihundertneunzig Opfer.

Der Gestank von Fäulnis liegt im Hafen.

Kalt. Es war kalt.

Nathan schreckte auf. Sein Shirt war schweißdurchtränkt. Doch er spürte bloß die allgegenwärtige, erbarmungslose Kälte, die sein stickiges, enges Zimmer ausfüllte. Leere, so wortlos wie ein kalbender Gletscher.

Er setzte sich auf, rieb die Augen, die vom Blütenstaub tränten, der in kalkigen Schleiern durch das offene Fenster trieb. Warf einen Blick auf den Radiowecker. 22:37. Ein ächzender Seufzer grollte über Nathans Lippen und fiel auf die grau gesprenkelten Platten.

‘Scheisse Mann. Zwei Stunden gepennt. Dabei wollte ich nur mal kurz für 2, 3 Minuten abliegen, etwas Porcupine Tree hören und ein paar Salznüsse essen.’ Er schüttelte den Kopf. ‚Mh, was soll’s.’ Nathan griff in das Glasschälchen mit den gesalzenen Erdnüssen darin, nahm eine Hand voll und schob sie sich in den Mund.

Kauend tappte er ins Bad und stellte sich unter die Dusche, sein Verstand die nichtsnutzigen herumkriechenden Gedanken in seinem Schädel verfluchend.

2:

Flugkatastrophe über Sibirien.

Zweihundertachtzig Leichen.

Hundertvierundsechzig wurden nie geborgen.

In eine Wolke heißen Wasserdampfs gehüllt, stapfte er geschätzte 17 Minuten später aus dem Haus. Die Tür fiel klackend ins Schloss. Ein Hauch Lavendel entstieg dem kargen, moosüberwucherten Vorgarten umwehte Nathan süß und klebrig. Es erinnerte ihn an die Provence und die hässlichen bestickten Lavendelkissen, die man dort an jeder Ecke für ein paar Euro kaufen kann. Doch der Honig. ‚Verdammt, provenzalischer Honig, mit etwas Butter auf einem frischen, knusprigen, noch backofenwarmen Baguette. Wenn der Tod so schmecken würde, stürzte ich mich vor den nächsten Holzfäller-Truck.’

3:

Bangladesh: Die Hochwassermarke dreieinhalb Meter überschritten.

Fünfhundertvier sterben in den Fluten.

Der Pegel steigt immer noch.

Blut pumpte durch seinen Körper, prickelte kribbelnd in seinen Fingerbeeren und rauschte warm und quicksilbrig in seinen Ohren. Er trat aus dem Garten heraus und streifte dabei einen struppigen, mageren Strauch. Eine der kleinen, roten Blüten, mit denen die grauen Zweige gesprenkelt waren, fiel auf den nackten, rauen Teer. Weiter unbeachtet blieb sie dort liegen. Erst später, als ein alter, räudiger Hund in einem Gewitterschauer an der dann pitschnassen roten Blüte schnüffelte, streifte wieder ein zufälliger Blick eines hastenden Passanten die niedrigen, unscheinbaren Büsche. Nathan ließ den dürren Hag hinter sich und verfiel in einen lockeren Laufschritt.

4:

Der Bahnhof von Neu-Delhi: Bombenattentat.

Achtundsiebzig zerfetzte Körper.

Der Tod reiste im Viehwaggon.

Er ächzte etwas, als sein Oberkörper gegen den eines Mädchens prallte, das verloren in die Nacht starrte und seinen schlanken, bloß von einem handbreiten, weiß leuchtenden Top bedeckten Rücken an einen weiß gestrichenen Gartenzaun lehnte. Seine geschmeidigen, langgliedrigen Finger spielten nervös mit einer winzigen, alufarbenen Schraubenmutter.

„Sorry, Anne.”, entschuldigte sich Nathan und hob den Blick, um etwas in ihren kastanienbraunen Augen zu suchen, das er vor einiger Zeit darin verloren hatte. „Ich hab’ dich nicht gesehen, ich wollte wirklich nicht…”

Sie legte den Kopf schief, fing einen Regentropfen mit der Zunge auf und ließ ihn die Kehle hinab rinnen. „Du meinst, du wolltest dich nicht an mich schmiegen?”

Er schüttelte den Kopf. „Sicher nicht.” Er stutzte. „Äh, nicht, dass ich etwas dagegen hätte, aber meine Absicht war es nicht. Nicht jetzt.”

„Ein anderes Mal schon?”

Tief unter seiner Schädeldecke verzahnten sich ein paar Zahnrädern und ein Knarzen tropfte wässrig in die Stille. „Das ist eine Zwickmühle, hm?”

Ihre linke Hand zuckte.

5:

In London geht ein neuer Ripper um.

Vier leichte Mädchen in der letzten Nacht.

Vom Täter fehlt jede Spur.

„Du siehst irgendwie traurig aus, Anne.” Er neigte den Kopf. „Was tust du überhaupt hier?”

Sie blinzelte.

„Ich hatte vor, zur Shell zu laufen und ein Pack Bratwürste zu kaufen, ich hatte Lust auf etwas Gegrilltes. Kommst du mit?” Seine Frage war eine nüchterne Feststellung, seine Worte klangen spröde wie Differentialgleichungen.

Ihre Lippen bildeten stumme Worte, die wie verwelkte Blüten in sich zusammenfielen und Eiswürfeln gleich in der warmen Abendluft versanken. Sie zog Nathan an sich und schlang einen Arm um seinen Nacken. Ihr Parfüm roch nach Maiglöckchen, die im grauen, gleichgültigen Abgrund der Vorstadt zu aufgeschlitzten Pulsadern zerfallen. Nathan erstarrte. Er fror. Worte blieben in seiner Kehle stecken, kratzten so sehr, dass er husten musste.

6:

Ebola kehrt ein im Südsudan.

Dem Siechtum verfallen siebenhundertdreißig Kinder.

Eine Dürre folgt darauf.

Sie küssten sich, und selbst als Annes Schritte auf dem graphitenen Bürgersteig in der anthrazitfarbenen Nacht, die so sehr nach Zuckerwatte und Bittermandeln schmeckte, schon seit einer Hand voll Gedanken verklungen waren, bliebt er noch für Momente betäubt auf dem Trottoir stehen und spürte die Wärme seine Zähne entlang perlen.

Dann begriff er. Und er verfiel wieder in einen lockeren, ausdauernden Laufschritt, der ihn an der grell beleuchteten Tankstelle vorbei trug. Da und dort glimmten Zigaretten auf. Die Leute dahinter bloß Schatten.

Beinahe war Anne erstaunt, als Nathan sie eingeholt hatte und von neuem seine Lippen die ihren liebkosten und seine Hände langsam ihren weichen Körper mit den kleinen, festen Brüsten hinauf glitten und an ihrer Kehle zu stehen kamen.

Sie sah die Lichter nicht, die sich durch den Nebel schälten und blassgelb auf ihrer Stirn abdrückten. Sie hörte nur das Quietschen der Bremsen.

Und dann der Aufprall.

Nathans Schrei brach abrupt ab und ertrank in einem nassen Röcheln.

7:

Verkehrsunfall bei Rostock.

Nebel und Regen kosteten achtundvierzig Leben.

Am Unfallort der Duft von Maiglöckchen.


  1. christian lumma

    Sehr origineller Aufbau, sehr griffige Sprache… realistisch geschrieben. Gefällt mir. “Aber”: Die Idee, dass Nathan selbst sterben könnte am Ende, kam mir bei Abschnitt Nr. 5.



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