von Susanne Rödiger
Klopf… Klopf… Klopf… Nur leise, geradezu ängstlich klingt das Geräusch, das seine Hand an meiner Zimmertür verursacht.
Klopf… Klopf… Klopf… Noch ein Mal, das siebente Mal, dann wird er die Tür öffnen, und vor mir stehen. Noch ein Mal, dann werden seine großen Füße den Raum betreten. Elchfüße, wie Mama immer sagt. Klopf… Ich husche aus dem Bett, bereit, ihn zu empfangen.
Ein kühler Windhauch ist vernehmbar, als sich die Tür öffnet. Dann sehe ich sie, die Riesenfüße. Und dann seine Beine mit den langen dunklen Härchen. Und dann seine Unterhose. Wohlgeformt. Mich schaudert es. Vor Scham und Lust. Dann der Bauch. Durchtrainiert, muskulös. Ein Waschbrettbauch, wie meine Freundin Moni sagt. Sie ist in ihn verknallt, will ihn haben. Will ihn küssen, mit ihren Händen seinen ganzen Körper erforschen. „Nein!”, habe ich einmal gesagt. „Er ist vergeben.” Und: „Du brauchst dir gar nichts einzubilden.” Sie war beleidigt, wollte nicht verstehen, warum ich so harsch war. „Sag mir doch wenigstens, wer sie ist…” – Oh, wie gern Moni. Doch wie würdest du reagieren? Mich hassen? Mich verachten? Ich kann ihn nicht aufgeben.
Sein Kehlkopf rückt in mein Blickfeld. Er ist wohlgeformt, wie der eines Musikers. Dann seine Lippen. Diese Lippen sind es, die an allem Schuld sind. Plötzlich waren sie da, blassrot und zart, in einer Form, die sogar Brad Pitt vor Neid erblassen ließe.
Sie sind an allem Schuld. Wären sie nicht gewesen, dann gäbe es die blau-rosa-Kuschelatmosphäre in unserer Familie noch. Dann würden wir nicht Sonntagmorgen mit roten Ohren beim Frühstück sitzen und uns schämen, den anderen nach der Butter zu fragen.
Wenn nur die Lippen nicht wären.
Er schließt die Tür. Der Windhauch zieht an mir vorbei, streift wie zum Abschied meine nackten Beine und erstirbt auf dem Weg zum geöffneten Fenster.
„Hallo Linda!” – Tausend kleine Nadeln stechen sich durch meinen Brustkorb. Eine tiefe Stimme, eine kratzige Stimme, warm und gütig. „Reibeisenstimme”, wie meine Mutter immer sagt. Hilflos stehe ich vor ihm. Bin bis in den letzten Winkel meines Körpers angespannt. Nur nicht bewegen, nur nicht diesen Augenblick verlieren. Armes klopfendes, überwältigtes Herz.
„Hallo Linda!”, wiederholt er, und streichelt sanft über meinen Oberarm. Zärtlich, als wolle er mich beschützen – geradezu brüderlich. Dann wage ich den Blick in seine Augen. Wunderschöne Augen. Stechend blau. Ob Brad Pitt an meiner Wand dem Vergleich wohl standhalten würde?
Doch da ist noch mehr neben der ganzen Perfektion, dem unendlich schönen Vollkommenen.
Da ist das, was sich aus meinem Innersten in seinem spiegelt und umkehrt. Da ist Scham. Scham, weil wir das tun, was wir nicht unterlassen können. Scham, weil wir so sind wie wir sind, und so fühlen. Wir können nicht anders.
Da ist Trotz, weil niemand uns versteht, weil jeder uns für pervers halten würde. „Oh, wenn sie es je erfahren, was sollten wir nur tun?”, fragen die Augen. „Ich weiß es nicht, sie dürfen einfach nicht!”, antworten die anderen Augen, und kurz ist da wieder dieser Mut. Der Mut der Verzweifelten. Und nicht zuletzt – Liebe. Eine Liebe, die wirklich nichts mit der Kitsch-Liebe aus „Vom Winde verweht” gemein hat. Sie ist rein, natürlich, stark – und verboten, abartig, pervers. Geschwisterliebe.
„Wie kann so etwas sein?”, hat die Lehrerin in der Schule gefragt, beim Thema Sexualkunde. „Der Inzest ist eine widerliche Abart, die nur Irre empfinden!”, hatte der Vater gesagt.
Und nun stehen wir hier. Er zieht seine Unterhose aus. Lust und Angst vermischen sich. Was sollen wir nur tun…? Was sollen wir sagen…? Wie erklären…? Dass wir abartig sind, und nicht anders können. Dass unsere Liebe nichts Perverses ist, sondern eine natürliche Notwendigkeit. Dass unsere Gespräche, dass Schmusen, dass Einfach-Nur-Zu-Zweit-Sein mein Leben ist.
Rügen, vor zwei Jahren im Urlaub. Es waren keine zwei Zimmer mehr frei, deshalb mussten wir uns eins teilen. „Kein Problem?”, fragte mein Vater. „Kein Problem”, antworteten wir. Und dann die erste Nacht, die erste Offenbarung. Nur Reden, eine ganze Nacht. Und am Ende sein „Ich liebe dich”, das alles für uns veränderte.
Ein neues Leben – ein Versteckspiel.
Und nun steht er vor mir, nackt und perfekt. Und ich stehe vor ihm, willenlos und klein. Widerstehen? Zwecklos. Wir haben es versucht, uns zwei Monate lang nicht in unseren Zimmern getroffen, sind uns aus dem Weg gegangen. Und als Belohnung dann die Qual unserer Eltern. „Wollt ihr nicht herkommen, euch zu uns setzen?” oder „Lasst uns heute einen Familienausflug an den Strand machen!”
„Wir müssen vorsichtig sein!”, habe ich mehr als ein Mal gesagt. Und trotzdem ist es passiert.
Beim Zelten mit unseren Freunden. Bruder und Schwester pennen in einem Zelt, na klar, warum auch nicht?
Er war abends noch einmal draußen gewesen, und von dem quietschenden Geräusch des Reißverschlusses an unserem Zelt war ich wieder wach geworden. Wir haben miteinander geschlafen, danach lagen wir noch nackt nebeneinander und haben gekuschelt.
Plötzlich ging dann unsere Zeltöffnung auf, und irgendeiner von den angetrunkenen Nachbarn wollte zu uns ins Zelt. „Sorry. Hab’s Zelt verpeilt…” Ich weiß noch genau, dass ich in diesem Moment fast gestorben wäre vor Angst, aber irgendwie wusste ich, dass wir noch einmal Glück haben würden.
Mein Bruder – und nichts ist er weniger als das – umarmt mich, streichelt mir sanft über den Rücken bis zum Poansatz. „Was machen wir nur mit uns?”, flüstert er leise in mein Ohr. Es kitzelt und doch möchte ich, dass er es ewig weiter tut. Seine Stimme ist so warm, so stark. Nichts kann uns trennen, gar nichts.
Als wir später beieinander liegen meint er: „Ich geh nur schnell etwas zu trinken holen, möchtest du auch etwas?” – Ich bin durstig, also bestelle ich einen Orangensaft bei ihm. Und sage noch schnell: „Zieh dir lieber was an, und sei vorsichtig!” Er jedoch lässt die Hose liegen und geht nackt.
Sollte mich je jemand fragen, was der bedeutungsvollste Augenblick in meinem Leben war, dann würde ich ohne zu zögern den nachfolgenden nennen. Er hat sich in mein Gedächtnis eingebrannt wie eine Szene aus einem Horrorfilm, den man als Kind gesehen hat, und aufgrund derer man die ganze Nacht nicht schlafen konnte.
Er öffnet die Tür – nackt – und steht meinem Vater gegenüber.
Angst ist alles, was ich empfinden kann. Und dann der Blick meines Vaters, über mich hin zu unseren nur schnell auf den Boden geworfenen Kleidern und dann voller Ungläubigkeit zurück zu mir. Jeden einzelnen Schritt seiner Erkenntnis habe ich verfolgt. Ungläubigkeit. Dunkle Ahnung. Ein Verdacht. Und schließlich: die Gewissheit.
Große Füße, Elchfüße, verlassen den Raum und lassen mich allein zurück.
Eine Tür knallt zu, ich spüre einen unangenehmen, kalten Luftzug. Und dann: Klopf… Klopf… Klopf… Ich erstarre, hoffe. Alles nur ein Alptraum, gleich wache ich auf.
Klopf… Klopf… Klopf… Nur noch ein Mal, dann habe ich die Gewissheit, dass er es ist. Alles nur ein Traum.
Die Tür geht auf, meine Mutter. In ihren Augen tiefe Enttäuschung. Alles bricht herein. Alle Horrorszenarien, die schlimmsten Alpträume. Es ist geschehen. Es ist geschehen, was niemals geschehen durfte. Alles zerstört, sinnlos alle vergangenen Mühen. Und ich? Allein.
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