von Katharina Schramm
Dem kleinen Stern war ziemlich kalt. Er hatte bereits einiges von seiner inneren Wärme verloren, denn er war jetzt schon einige Zeit hier auf der Erde.
„Wie soll ich bloß je wieder nach hause kommen?”, fragte er sich jeden Tag. Und jedes Mal, wenn er sich diese Frage stellt, wurde er ein kleines bisschen trauriger.
Eines Nachts saß er ganz alleine auf seinem Lieblingsplatz auf Erden. Es war die Spitze eines großen alten Baumes, auf die er immer dann hinauf kletterte, wenn er besonders traurig war. Von hier aus konnte er sehr gut seine Heimat sehen und fühlte sich etwas weniger einsam und traurig.
„Warum sitzt du hier so ganz allein?”, fragte plötzlich eine Stimme. Der kleine Stern erschrak, denn in all den Nächten, in denen er schon hier in der Baumspitze gesessen hatte, hatte noch nie jemand zu ihm gesprochen.
„Ich sehne mich nach meiner Heimat und meiner Familie”, sagte der kleine Stern. Es war ein kleiner roter Vogel, der zu ihm gesprochen hatte. Der Vogel guckte den Stern neugierig an.
„Und warum guckst du dann in den Himmel?”, fragte der Vogel. „Ist deine Heimat nicht hier auf der Erde?”
„Aber siehst du denn nicht?”, antwortete der Stern. „Ich bin doch ein Stern. Und Sterne wohnen nicht auf der Erde.”
„Oh”, sagte der kleine rote Vogel. Er sah den kleinen Stern mit zusammengekniffenen Augen an. Der kleine Stern seufzte leise, denn er hatte schon fast vergessen, dass ihn hier auf der Erde niemand als das sehen konnte, was er wirklich war. Die Menschen sind nicht bereit für die höhere Wahrheit, hatten die Sterne in seiner Heimat immer zu ihm gesagt. Die Menschen sehen immer nur das, was sie sehen wollen.
„Ich kann dich sehen”, flüsterte der kleine rote Vogel leise. „Aber was macht ein Stern wie du hier unten auf der Erde?”
„Das ist eine traurige Geschichte”, sagte der kleine Stern mit niedergeschlagener Stimme.
„Würdest du sie mir trotzdem erzählen?”, fragte der kleine rote Vogel.
„Na gut”, sagte der kleine Stern.
„Ich komme von einem Ort, den die Menschen das Siebengestirn nennen. Wir sind sieben Sterne dort. Und wenn der Winter die Erde mit seinem Mantel aus Frost und Schnee bedeckt und die ganze Welt vor Freude funkelt, kann man uns am Himmel leuchten sehen. Ich habe von dort aus oft auf die Menschen herab gesehen. Aber mit der Zeit haben die Menschen immer weniger zu uns hinauf geschaut. Es scheint, als ob sie sich nicht mehr für den Himmel und die Nacht interessieren. Dabei ist es doch ihre Heimat. Genauso wie es meine Heimat ist.” Der kleine Stern flackerte in der dunklen Nacht.
„Ich habe dann beschlossen, meine Heimat zu verlassen, um den Menschen zu erzählen, dass sie wieder zum Sternenhimmel sehen sollen. Aber das Problem ist, dass mich die Menschen nicht hören können, wenn ich mit ihnen spreche. Und sie können mich nicht sehen, wenn ich vor ihnen stehe. Manche scheinen meine Wärme zu spüren, aber das sind ganz wenige. Und meistens gehen sie dann nur verwundert weiter ihrer Wege. Ich wollte den Menschen helfen. Aber ich kann nicht. Und das macht mich traurig.”
„Willst du es weiter versuchen?”, fragte der kleine rote Vogel.
„Ich weiß nicht, was ich noch machen soll”, antwortete der kleine Stern. „Ich habe langsam keine Kraft mehr. Siehst du? Ich leuchte nur noch ganz schwach.”
Der rote Vogel sah den kleinen Stern an, der wirklich nur noch sehr schwach leuchtete. Dann sah er zum Himmel hinauf.
„Ich kann dir helfen”, sagte der Vogel zum Stern.
„Aber wie denn?”, fragte der Stern.
„Du bist doch nur ein kleiner roter Vogel.” Der Vogel kam ein Stück näher.
„Auch ich bin mehr, als du vielleicht im Moment denkst. Schau nur mal genau hin.”
Der kleine Stern schaute den Vogel an. Der Vogel begann langsam vor seinen Augen zu verschwimmen, bis der kleine Stern nur noch ein rotes Licht vor seinen Augen sah, das die ganze Baumspitze erhellte.
„Erkennst du mich?”, fragte der rote Vogel. „Ich bin die Liebe. Ich war die ganze Zeit bei dir. So, wie ich die ganze Zeit bei allem bin, das existiert. Aber gerade nun scheinst du mich ganz besonders zu brauchen. Wenn du mich mehr denn je ein Teil von dir werden lässt, kannst du die Menschen vielleicht doch noch erreichen.”
„Wirklich?”, fragte der kleine Stern.
„Ja, wirklich”, sagte die Liebe. „Aber es gibt eine Bedingung.”
„Welche denn?”, fragte der kleine Stern.
„Du musst ganz fest an dich und deine Fähigkeiten glauben. Du wirst zum Himmel zurückkehren und wieder der siebte Stern des Gestirns sein, das deine Heimat ist. Und während du zurückkehrst, wirst du heller und strahlender leuchten müssen als es jemals zuvor irgendein anderer Stern getan hat.”
„Aber wie soll ich das machen?”, fragte der kleine Stern. „Ich bin doch schon so schwach.”
„Indem du an dich glaubst”, sagte die Liebe. „Du wirst nach Hause zurückkehren und alle Menschen werden dabei zum Himmel aufsehen. Aber du wirst sie nicht sehen können. Und du wirst danach niemals zur Erde zurückkehren können, denn nachdem du für alle Menschen geleuchtet hast, wird deine Kraft auf ewig schwächer sein. Aber indem du glaubst, dass du den Menschen den Blick zum Himmel gezeigt hast, wirst du erfolgreich sein. Glaubst du nicht, dass du es schaffst, dann wirst du am Himmel verglühen, ohne das jemand je Notiz davon nimmt.”
„Und wann soll ich gehen?”
„Dann, wenn dein Herz dir sagt, dass die Zeit richtig ist.” Der kleine Stern schaute die Liebe an. Sie begann den kleinen Stern zu umhüllen wie eine warme Decke. Mit jedem Moment dieser innigen Umarmung merkte der kleine Stern, wie seine Kräfte zurückkehrten. Und mit jedem Moment, in dem die Liebe ihn durchfloss, gewann er mehr Vertrauen in seine Kraft und seine Aufgabe.
„Der wahre Sinn des Tuns bleibt dem Tätigen oft verborgen”, flüsterte die Liebe leise aus seinem Herzen heraus.
Der kleine Stern begann wieder zu leuchten. Es dauerte nicht lange, und er leuchtete heller als je zuvor. Und weil er heller leuchtete, als er es jemals für möglich gehalten hatte, leuchte er vor Freude gleich noch viel mehr.
„Die wahre Bestimmung entwickelt sich von selbst, wenn man ihr einen Weg zum Herzen einräumt”, flüsterte die Liebe aus seinem Inneren.
Der kleine Stern leuchtete heller und heller. Bald glühte er in einem nie da gewesenen hellen Licht.
„Ich werde tun, was ich tun muss, ohne einen Zweifel daran zu haben, dass meinem Tun der Sinn fehlt”, flüsterte der kleine Stern, bevor er leise zum Himmel aufstieg.
Es war eine Nacht, die niemand auf der Erde je vergessen sollte. Für einen kurzen Moment sahen alle Lebewesen auf der Erde das helle Licht, das der Ursprung von Allem ist. Zwar war der Moment nur so kurz, dass sich kein Lebewesen je daran würde erinnern können, aber eins geschah in diesem kurzen Augenblick. Der kleine Stern brachte das zurück auf die Erde, was der Welt mit der Zeit abhanden gekommen war. Die Hoffnung. Seit dieser einen Nacht, in der ein kleiner Stern seinen Weg zurück zum Himmel fand, leuchtet in den Menschen wieder ein kleines Lichtlein in ihrem Herzen, wenn sie in den Sternenhimmel schauen. Und wenn sie genau hinsehen, dann können sie sehen, wo dieses Licht her kommt. Von dem kleinen Stern im Siebengestirn, der ein klein bisschen weniger hell leuchtet, als all die anderen Sterne.
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