von Patricia Becker

Sie wusste nicht mehr, wann sie zum letzten Mal vor der Tür gewesen war. Wann sie zum letzten Mal die Enge der eigenen Wohnung verlassen und frische Luft geatmet hatte. Die Luft der Freiheit. Weit schien es ihr zurückzuliegen, in einer anderen Zeit, einem anderen Leben.

Manchmal fragte sich Kira tatsächlich, ob sie noch lebte. Alles um sie herum erschien unwirklich. Die vier altbekannten Wände. Ihre Situation. Ja, sogar sie selbst. Vielleicht war all dies ein Traum, vielleicht waren nur wenige Minuten vergangen in der Zeit, die für sie eine Ewigkeit war.

Es bedurfte härterer Mittel, um sich davon zu überzeugen, dass dem nicht so war. Dass das, was sie erlebte, nicht mehr und nicht weniger war als die Wahrheit.

Manchmal wünschte sie sich, jemanden sehen, mit jemandem sprechen zu können. Auszubrechen aus ihrer Isolation und der Beklemmnis, die unerbittlich auf ihr Gemüt drückte. Niemals hätte sie gedacht, ihrer kleinen Wohnung derart überdrüssig werden zu können.

Mehr als einmal griff sie nach dem Telefonhörer, hob ab und presste ihn an ihr Ohr, lauschte dem schrillen Tönen wie Strandurlauber dem Rauschen in einer Muschel. Und klammerte sich daran fest, als sei er der letzte Strohhalm, der sie aus der Strömung erretten konnte.

Mit dem Unterschied, dass es in ihrem Leben keine Strömung mehr gab.

Zum Wählen rang sie sich nicht durch. Kein Kontakt zu anderen – den versagte ihr die Situation. Oder sie sich selbst. Ganz nach Art der Auslegung.

So blieben ihr nur die Schnitte in ihrem Arm und die Schmerzen, die ihr sagten, dass sie lebte.

Dass es so nicht weitergehen konnte, war ihr bewusst.

Schwerfällig erhob sie sich von ihrem Stuhl und trat zum Fenster. Dunkle Wolken verdeckten den Himmel und ein scharfer Wind bog die Kronen der Bäume, stieß die Blechdosen am Straßenrand rücksichtslos vor sich her. Bald würde es Regen geben. Dennoch wünschte Kira sich in diesem Augenblick nichts sehnlicher als selbst dort draußen zu stehen. Oder gerade deshalb, denn der Anblick, den sie vor langer Zeit als trist bezeichnet hätte, gab ihr ein Gefühl von Geborgenheit. Waren ihre Gedanken nicht ein ebenso grauer Einheitsbrei, sie selbst etwa mehr als eine willenlose Blechdose, hin- und hergestoßen von der Macht des Schicksals? Ein Entkommen geradezu unmöglich?

Die Anflüge von – wenigstens innerer – Rebellion waren vorbei. Längst fragte sie sich nicht mehr, warum sie sich dem Schicksal so einfach ergab. Sie plante nicht mehr, ihm mutig und herausfordernd entgegenzutreten. Zu testen, ob es wirklich die Macht besaß, die sie ihm zugestand. Sie hatte resigniert, wusste, dass es keinen Sinn hatte.

Sie konnte nicht einmal mehr sagen, welcher Wochentag war.

„Sieben Wochen”, hatte der Fremde damals mit Genuss durch die Leitung geflüstert. „Und sieben Mal wirst du noch von mir hören.” Seine Stimme hallte noch immer in ihrem Ohr. Gerade so, als hätte er sie angeschrieen. Sie wusste nicht, wer er war, wo er sich befunden hatte, wo er sich jetzt befand und ob sie ihn kannte. Sie wusste nur, dass er sie kannte. Dass er viel über sie wusste, zu viel.

War das der Auslöser gewesen, sich fortan zu verstecken, die eigene Wohnung nicht mehr zu verlassen aus Furcht vor dem, der sie verfolgte?

Nein, erinnerte sie sich. Es war nicht mehr als die Bestätigung, dass sie verfolgt wurde. Der Grund, ihre sichere Festung auch weiterhin nicht zu verlassen. Dann, hatte sie sich gesagt, könne nichts geschehen.

Inzwischen fragte sie sich, ob das, was sie führte, noch ein Leben zu nennen war.

Er hatte begonnen, ihr Briefe zu schreiben, sie unbemerkt durch ihren Türschlitz zu schieben. Maschinengeschrieben, ohne Marke oder irgendeine andere Identifikationsmöglichkeit. Nicht jede Woche einen, wie erwartet; nein, sie kamen in äußerst unregelmäßigen Abständen. Manchmal zwei hintereinander, dann hörte sie lange nichts mehr von ihm. Die Briefe waren nicht unterzeichnet und dennoch zweifelte sie nicht einen Moment daran, dass sie von ihm stammten. Er erzählte ihr viel. Vieles über sie selbst. Er kannte ihre kleinen Alltagsverbrechen, Dinge, die jeder tat ohne je dafür bestraft zu werden, ohne überhaupt weitere Gedanken daran zu verschwenden. Das morgendliche laufen über die rote Ampel. Die vernachlässigte Mülltrennung. Er wusste, wo sie arbeitete und dass es ihr dort nicht recht gefiel. Dass sie blieb, weil sie nicht daran glaubte, ihre hochfliegenden Träume verwirklichen zu können. Dass es ihr genügte, ein ruhiges und ungestörtes Leben zu führen. Als könnte er ihre Gedanken lesen.

Er schrieb nicht über das, was er ihr anzutun gedachte. Ließ sie nur jedes Mal wissen, wie viele Tage ihr noch blieben.

„Sieben Tage” – damit hatte der letzte Brief geschlossen, den sie empfangen hatte. Es war der sechste.

Als sie ein Schaben an ihrer Tür vernahm, wandte sie sich erschrocken um. Sie starrte auf den Ritz zwischen Tür und Boden und erwartete den weißen Umschlag, der jeden Augenblick erscheinen musste.

Mit einer Plötzlichkeit, die sie erschreckte, brandete die alte Angst einer Welle gleich in ihr auf. Die Angst vor dem letzten, dem siebten Brief. Vor dem, was darin stehen mochte, davor, welches Schicksal der Verfolger ihr zugedacht hatte, und sie wünschte sich, die letzten Wochen genutzt zu haben. Die Polizei hätte sie informieren können oder irgendjemand anderen. So weit hätte es nicht kommen müssen, hätte sie den Mut gehabt, zu handeln.

Sekunden zogen sich wie Stunden und Kira hatte das Gefühl, ewig zu warten. In angespannter Stille, die ihr Inneres beinahe bersten ließ. Angestrengt lauschte sie auf jedes Geräusch, ihr Blick klebte am Türschlitz und die Tatsache, dass nichts geschah, machte sie schier wahnsinnig. Kein Laut außer ihrem eigenen, heftigen Atmen. Es nützte nichts, sich einzureden, sie sei allein, bilde sich all das nur ein. Sie musste ihn nicht sehen, um die bedrohliche Anwesenheit zu spüren.

Die eisige Hand der Panik umfasste ihr Herz, als statt eines Briefes ein raues Flüstern durch die Tür zu ihr drang. Gedehnt und mit einem kaum zu überhörenden Unterton von dunklem Vergnügen.

„Der siebte Tag.”

Gefangen und umhergeschleudert von dem Sturm in ihrem Innern, ließen sich ihre Gedanken nicht mehr ordnen. Ihr war, als empfinde sie alles auf einmal, was ein Mensch zu empfinden imstande war. Furcht, Reue, Ergebenheit und Rebellion, Hoffnung und Verzweiflung. Mehr gab es in ihrer Welt seit langem nicht mehr. Alles um sie herum verschwamm, während ihr Gehirn ihr den Dienst versagte. Krampfhaft hielt sie sich am Rand des Spülbeckens fest, als sie das Gefühl überkam, zu fallen. Tief zu fallen.

Es war zu spät. Das Schicksal hatte sie eingeholt und ihr gleichzeitig jeden Fluchtweg abgeschnitten.

Fast jeden, wie Kira erkannte, als sie ihr Gehirn noch einmal unter ihre Kontrolle zwang.

Sie wusste, was sie tat, als sie wie automatisch nach dem Messer griff, das sie für den Ernstfall, für die letzte, ausweglose Situation, in die sie gestoßen wurde, schon vor Wochen bereit gelegt hatte.

Sie dachte nicht nach, als das Metall in ihr Fleisch drang, sich das verwirklichte, was sie in Gedanken so oft geübt hatte. Sie sah nicht das Blut, das in Strömen aus ihrem Handgelenk quoll. Spürte nur mit einer sonderbaren innerlichen Freude den Schmerz, der ihr sagte, dass sie noch lebte. Und bald nicht einmal mehr den.


  1. ein anderes Pseydonym

    Bisher die erste Geschichte, mit der ich mich selbst identifizieren konnte!!! Leider auch sehr realistisch gehalten.
    Wirklich gut umgesetzt!!!!!
    Allerdings fehlen mir für so ein sensibles Thema noch etwas mehr Gefühle der Person! Auf der anderen Seite wär das für eine Kurzgeschichte wohl zuviel …
    -> Dennoch super!

  2. ein anderes Pseudonym

    Bisher die erste Geschichte, mit der ich mich selbst identifizieren konnte!!! Leider auch sehr realistisch gehalten.
    Wirklich gut umgesetzt!!!!!
    Allerdings fehlen mir für so ein sensibles Thema noch etwas mehr Gefühle der Person! Auf der anderen Seite wär das für eine Kurzgeschichte wohl zuviel …
    -> Dennoch super!

  3. Sue

    Sehr gut und spannend geschrieben, aber mich hat gestört, dass man auch zum Schluss hin nicht erfahren hat, was es mit diesen Briefen auf sich hatte.
    Gruß Sue



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