von Robin Haseler

1: Blanke Theorie

Kasimir ließ seine Wohnungstüre hinter sich zufallen und stellte die Einkaufstüten ab. Die Tetrapackung Milch gluckste leise. Ein Blick nach vorn offenbarte sein Leben. Der Gang teilte sich. Links das Arbeitszimmer, rechts das Schlafzimmer. Vor den beiden Zimmern erstreckte sich die Tristes eines Balkons mit dem einsamen Grün seiner Wohnung. Durch die trüben, dreckigen Fenster sah man eine halb vertrocknete mit Feinstaub beladene Palme – die dort ihr trauriges Dasein fristete.

Kasimir, der Autor, ebenfalls ein trauriges Dasein, überlegte er. Genauso vertrocknet. Doch womit goss man eigentlich Autoren?

Er hängte seinen Schlüsselbund an einen kleinen Haken neben der Tür. Wohnung G46 – siebter Stock, aus dem Fahrstuhl rechter Hand den Gang entlang, vorletzte Tür. Ein Hauch von gebratenen Zwiebeln hatte sich beim Öffnen der Türe mit in die Wohnung geschlichen. Der Hausgang roch oft nach Essen. Alle Küchenfenster öffneten sich dorthinaus, denn der Gang war nach außen offen und führte an den Türen entlang wie ein endloser Balkon.

Autor – Kasimir führte diese Berufsbezeichnung. Zu Recht, überlegte er. Schließlich stammten zwei erfolgreiche Romane aus seiner Feder. Besser gesagt aus seinem Laptop. Doch nun starrte er schon lange, viel zu lange auf einen weißen Bildschirm. Tagein, tagaus. Hörte man irgendwann auf, Autor zu sein? War es das? Hatte ihn die Muse verlassen? Oder würde sie ihn noch einmal küssen?

Kasimir verstaute seine Einkäufe und kratzte sich nachdenklich am Kopf. Zu Beginn seiner steilen Karriere hatte er Erfolge gefeiert. Die erste Kurzgeschichte – die Kritiker waren begeistert. Der erste Roman – ein Spiegel der Gesellschaft!, ein Sittengemälde neuer Dimension, eine neue Stufe des erzählenden Romans. Der zweite Roman – Ein Lesegenuss. Neue Welten. Neue Einsichten. Nicht zu toppen! Genau, nicht zu steigern, dachte Kasimir. Er trat an seinen Schreibtisch und wühlte in einem Berg von Notizen, Ideen, Gedankenschnipsel und Dialogfetzen. Alles niedergeschrieben. Irgendwann würde er es brauchen können. Doch der Hintergrund fehlte. Der Funke – eben die Muse.

Er zerknüllte eine Hand voll Papiere und warf sie in den Papierkorb unter dem Schreibtisch. Heute wird es wohl auch wieder nichts, überlegte er und starrte auf den Bildschirm.

Sein Kollege Edgar – ein weniger bekannter Autor, der mit ihm via Email in Kontakt stand – meinte immer, man könne es nicht erzwingen. Mal schlendert man eine Straße entlang, mal schaut man nur aus dem Fenster und plötzlich geschieht etwas. Vielleicht ist es wirklich der Kuss der Muse. Eine Szene ist der Auslöser und von da an spinnt sich die Geschichte von selbst. Mal klappt es sofort, manchmal braucht es Zeit, bis sie reift. Eine Idee bleibt im Hinterkopf und irgendwann bricht sie hervor. Sei es wie es sei – das Wunderbare liegt stets vor unserer Haustüre – pflegte Edgar zu sagen.

Schön, überlegte Kasimir. Aber alles blanke Theorie! Theorien gehörten der Literaturwissenschaft und Autoren konnten darüber nur lachen.

Kasimir notierte sich „Theorie” auf ein Blatt und legte es auf den Stapel. Vielleicht half es.

„Pling” – ein Fenster auf dem Bildschirm öffnete sich.

„#signed on# Bist du da?” fragte die kleine Nachrichtenbox. Kasimir klickte sie an. „Ja – natürlich.”

„Eine Partie? In10 Minuten?”

„Soll mir recht sein.”

„Gut – #signed off#

2: Das Spiel der Könige

Kasimir schloss die Haustüre und blickte über die Brüstung des Ganges an dem Hochhaus hinab. Keine gute Gegend. Irgendwo schepperte laut der neueste HipHop aus einem überlasteten Handy. Früher hatten die vermeintlichen Ghettokids wenigstens noch Achtung vor ihren Boxen, dachte er und schüttelte sich. Der Aufzug fuhr ähnlich scheppernd nach unten.

Sein einziger Freund Motso wohnte gleich nebenan. Dennoch verabredeten sie sich meist über das Internet.

Er trat aus dem Aufzug in den kleinen gläsernen Vorbau des Hochhauses. Halle der Briefkästen, Aufenthaltsraum und Klatschzentrale. Irgendwann hatte der dicke, schmierige Hausverwalter zwei alte Tische und fünf Stühle aufgestellt und damit seinen Beitrag zur Belebung guter Nachbarschaft geleistet, wie er selbst oft betonte.

Motso kam nicht von hier, irgendein skandinavisches Land, erinnerte sich Kasimir. Zudem war Motso immer ein Blickfang, denn er war zwergenwüchsig. Trotz dieser Unterschiede hatten sie schnell Freundschaft geschlossen, als sie ihre gemeinsame Leidenschaft Schach entdeckt hatten.

Sein Freund saß auf einem der alten Stühle und lächelte ihn an. Das Schachbrett mit den kunstvollen, handgeschnitzten Figuren stand bereits vor ihm. In der Ecke schnarchte wie immer einer der Rentner aus dem ersten Stock auf seinem Beobachtungsstuhl.

Sie begrüßten sich und begannen unmittelbar das Spiel. Motso eröffnete.

Während Kasimir sich einige Züge in Gedanken zurecht legte, schweiften seine Gedanken ab. Er musterte seinen Kontrahenten. Der seltsamste Nachbar der ihm je untergekommen war. Er lebte mit sechs weiteren Zwergenwüchsigen nebenan. Es war Kasimir immer noch ein Rätsel wie sie alle dort ausreichend Platz fanden. Aber in der Wohnung selbst war er noch nie gewesen.

„Noch sieben Figuren auf jeder Seite”, kommentierte Motso. Kasimir zuckte mit den Achseln. „Was hast du immer mit deiner Sieben?”

Motso seufzte: „Sieben ist eine mächtige Zahl. Es wohnt ihr eine besondere Kraft inne. Mit etwas Können ist die Kraft leicht zu nutzen!”

„So so”, murmelte Kasimir und schlug mit seinem Springer einen Bauern.

„Schach” meldete Motso einige Zeit später.

„Hm”, machte Kasimir und nach einigem Nachdenken legte er den König auf das Schachbrett. „Matt”.

„Ich sagte ja, die Sieben kann dir zum Sieg verhelfen.” Kasimir schüttelte den Kopf. „Du hattest die besseren Züge.”

3: Von der Muse und anderen Unglücken

Kasimir seufzte und spielte mit der hölzernen Dame.

„Was ist?” fragte sein Freund. Kasimir lächelte. „Was soll schon sein? Das Übliche!”

Motso nickte wissend. „Hat sich die Muse immer noch nicht blicken lassen? Wankelmütiges, altes Weib….”

„Ach, die Muse wird mir dabei wohl auch nicht helfen können.”

„Sag das nicht, Kasimir. Der Glaube versetzt Berge und hilft im richtigen Moment.”

Kasimir lachte. „Du redest manchmal ganz schön blödes Zeug. Wenn ich nur wüsste, was ich schreiben soll. Ich hätte ja mal Lust auf eine phantastische Geschichte, aber worüber?”

Motso machte große Augen und blickte sich dann um.

„Liegen die phantastischsten Geschichten nicht immer genau vor der eigenen Nase?” fragte er. „Jetzt nicht auch noch du. Edgar hat das auch schon gesagt. Aber hier? In diesem abgesifften Hochhaus mit seinen Rentnern und Ghettokids?”

„Genau hier, mein Freund. Was wäre denn ein besserer Platz? Überall gibt es Magie, man muss nur bereit sein, sie zu sehen.”

„An dir ist wirklich ein Philosoph verloren gegangen, Motso”, lachte Kasimir.

Motso schwieg einen Augenblick und musterte seinen Freund.

„Wenn du mit verschlossenen Augen durchs Leben gehst, vielleicht willst du, dass ich sie dir öffne?” fragte er dann. Kasimir grinste. „Wenn dabei eine gute Geschichte abfällt, wäre ich inzwischen zu allen Schandtaten bereit.”

Motso nickte. „Dann soll es so sein.” Er schwieg einen Augenblick. „Aber dann musst du mir bei einem Problem behilflich sein. Wenn du mir dabei hilfst, werden dir sicherlich einige neue Dinge einfallen.”

„Gut.”

So begann Motso zu erzählen:

„Ich sagte bereits, dass der Glaube vieles möglich macht. Er kann vielleicht keine Berge versetzen, na gut, meistens jedenfalls, aber der Glaube kann vieles erschaffen. Denke an deine Geschichten. Oder an deinen Glauben an die Muse. Sie küsst dich dann, wenn du an sie glaubst. Die Muse existiert durch dich und deine Kollegen.”

„Ich verstehe nicht ganz.”

„Wie erkläre ich das? Gut, kennst du den Glatzkopf aus dem sechsten Stock?”

„Natürlich, du meinst den Typ der aussieht als sei er Meister Propper persönlich.”

„Er sieht nicht nur so aus – er ist es.”

„Na klar…”

„Gut, hör mir zu. Wenn man wirklich an etwas glaubt, so existiert es auch für dich. Glaubst du an die Muse, so wird sie heimlich nachts in deiner Schreibphase hinter dir stehen und dir helfen. Glaubt eine Hausfrau, nur mit dem Putzmittel des Glatzkopfes wird ihre Wohnung wirklich sauber, so gibt es ihn für sie…”

„Das ist wirklich eine schräge Geschichte. Du hast bessere Ideen als ich.”

„… ein kleines Kind glaubt etwas lauere unter seinem Bett. Jemand glaubt an die Märchen der Gebrüder Grimm und ihrer Vorgänger. All diese Wesen leben, mein Freund. Und sie leben direkt vor deiner Nase.”

„So so, um nochmals auf den Meister P. zurück zu kommen. Was treibt der dann den ganzen Tag. So als erschaffenes Wesen?”

Motso zuckte die Achseln. „Soweit ich weiß, arbeitet er für ein Reinigungsunternehmen, wieso?”

Kasimir lachte herzhaft auf. Der Rentner in der Ecke murmelte etwas im Schlaf, blieb aber ungerührt sitzen. „Das ist wirklich eine gute Idee. Daraus könnte ich etwas machen.”

Motso nickte. „Das Wunderbare stets stehst vor deiner Nase. Hilfst du mir nun bei meinem Problem?”

„Sicher!”

„Gut, dann sollten wir vielleicht nach oben gehen.”

Sie bestiegen den Aufzug und drückten auf Etage G. Motso kam kaum an die Schalttafel heran.

„Du kennst ja meine Mitbewohner, nicht wahr?” „Flüchtig.” „Nun, sie sind genauso schachversessen wie wir Beide. Nur spielen sie nicht mit normalen Menschen. Und sie spielen um Dinge.” „Wie jetzt? Sie spielen um Geld?” „Nicht direkt um Geld. Es gibt wertvollere Dinge, wenn man das Spiel der Könige bestreitet.”

Der Aufzug öffnete sich und sie traten auf den Gang. „Diese Geschichte gefällt mir. Das hieße nämlich Jesus würde mit seinen Sandalen auf Erden umherlaufen.” „Hüte dich vor Göttern und Propheten. Diese Wesen spielen in einer anderen Liga”, wandte Motso ein und schwieg einen Augenblick. „Du weißt übrigens meinen vollen Namen noch gar nicht. In Wirklichkeit heiße ich Motsognir von Edda.”

„Seltsamer Name.”

„Jedem Namen hängt eine Bedeutung an, auch Kasimir steht für etwas.”

Sie blieben vor der letzten Türe des Ganges stehen. Die Zwergen-WG wie Kasimir sie immer insgeheim genannt hatte. Die Holztüre sah seltsam alt aus. Hier war der Hausverwalter wohl auch schon lange nicht mehr gewesen, überlegte Kasimir.

Die Türe öffnete sich ohne das Motso einen Schlüssel benutzt hatte. Plötzlich erfüllten seltsame Geräusche den Gang und Motso schob Kasimir durch die Türe. Kasimir blickte sich erstaunt um. Hier war deutlich mehr Platz. Seine Wohnung müsste eigentlich mit diesem Raum identisch sein. War es aber nicht. Er blinzelte. Die geweißten Wände des Wohnungsganges gingen nach zwei, drei Metern in blanken Stein über.
“Was zum…?” stieß er überrascht hervor.

Es war als wäre er in einen Bergstollen gestiegen. Das Hämmern von Metall auf Stein erklang aus einem Gang der eigentlich das Wohnzimmer hätte sein sollen. Aber sie waren doch im siebten Stock? Wie war das möglich? Kasimir blickte seinen Freund verstört an.

„Erinnere dich. Mit verschlossenen Augen…. Bis jetzt!”

Kasimir tastete unwillkürlich nach seinem Notizblock den er immer in seiner Hosentasche stecken hatte. Doch ausgerechnet heute hatte er ihn neben dem Laptop liegen lassen.

In diesem Augenblick traten die anderen Bewohner der WG-Höhle aus verschiedenen Stollen.

Motso trat vor. „Das sind Fundin, Kili, Nali, Alf, Gloin und Ginnar. Meine Brüder.”

„Aber…” stotterte Kasimir verwirrt „wie ist das möglich?” „Die Sieben ist eine mächtige Zahl. Das hab ich doch gesagt.” Motso schwieg einen Augenblick. „Gut, ich habe dir erzählt, wenn Menschen glauben, entstehen Wesen. Einst glaubten viele Menschen an Zwerge – sie schrieben es in der Edda nieder. Und hier sind wir! Gut in späteren Zeiten verlegten wir uns darauf, in Gruppen von sieben Mann umher zu ziehen. Grimms Märchen hatten eine große Macht auf uns, aber wir sind immer noch hier. Genauso wie unsere jungen Kollegen, wie der Glatzkopf mit dem weißen Hemd und dem goldenen Ohrring. Ebenso wie viele andere Gestalten.”

Kasimir hatte sich inzwischen etwas gefangen.

„Dann fehlt Euch also nur Schneewittchen?” versuchte er einen Scherz.

Ein böses Zischen ging durch die Gruppe von Zwerge.

„Diese Schlampe hat uns schon lange sitzen lassen!” schimpfte Ginnar. „Ja, ausgerechnet mit den Heinzelmännchen musste sie…” ergänzte Alf.

Kasimir schwirrte der Kopf, doch Motso redete bereits weiter. „Du wolltest mir helfen. Gut, so soll es sein. Ich denke du wirst mehr davon haben als wir, aber warum nicht.” Motso grinste. „Immerhin kommst du an die oberen Schalter des Aufzuges.”

Kasimir zuckte nur die Achseln.

„Unser Problem: Fundin hier, hat uns wieder einmal richtigen Ärger eingebrockt. In seiner Spielleidenschaft hat er versucht, seinen Kontrahenten mit verzauberten Figuren zu betrügen.” Der Zwerg lies die Schultern hängen und blickte betreten auf den felsigen Boden. „Jetzt lastet ein Fluch auf uns!” schimpfte Motso. Wie auf ein Stichwort rumpelte es in der Höhle und die Wände erzitterten. Ein paar Steine fielen von der Decke.

„Da ist er ja”, stellte Motso verdrossen fest. „Der Fluch löst unseren Zauber der unsere Wohnung hier hält. Wenn wir Pech haben, fliegt uns alles um die Ohren.”

Kasimir nahm einen der Steine, die von der Decke gefallen waren, in die Hand. Echter Stein. Blieb also nur die Möglichkeit, dass er wahnsinnig geworden war. Sein Freund nahm ihm den Stein aus der Hand. „Wir beide werden jetzt versuchen das gerade zu biegen.”

„Wie … du … meinst…” stotterte Kasimir etwas eingeschüchtert.

4: Nimmermehr

Motso zog den verwirrten Autor aus der Türe und sie standen wieder auf dem Gang des Hochhauses. Kasimir blickte sich um. Alles wieder normal. „Bin ich verrückt?” fragte er. Der Zwerg lachte. „Nein, deine Augen sind jetzt nur geöffnet.” Motsognir zog seinen Freund an die Brüstung des Ganges und zog sich nach oben. Dann deutete er auf eine Gestalt auf der Straße. Ein dunkelhäutiger Mann in gelb-blauer Jacke. „Da – kennst du den?” „Der Postbote?” „Ja. Kennst du ihn nicht?” „Nein, nur vom Pakete annehmen.” „Wer hat Angst vorm schwarzen Mann!” rezitierte Motso. „Ach komm! Der? Nein.” Der Zwerg ließ sich vom Geländer herunter und zuckte die Achseln. „Jeder muss irgendwie seine Brötchen verdienen. Wir arbeiten übrigens für das geologische Institut.” Kasimir glotzte seinen Freund nur an.

„Komm jetzt, Schreiberling! Wir müssen etwas gegen diesen Fluch unternehmen. Ich muss mit dem Beschwörer reden, nur müssen wir erst herausfinden, wo er sich aufhält.”

„Und wie finden wir diese Person dann?”

„Na, wir fragen Nimmermehr. Der hat immer eine Information parat.”

Kasimir hakte erst gar nicht nach, sondern folgte staunend dem Zwerg zum Aufzug. „Drück den 13. Stock”, sagte Motso. „Aber wir haben doch nur zwölf Stockwerke!” „Drück den 13. Stock”, wiederholte der Zwerg. Verwirrt blickte Kasimir auf die Schalttafel. Tatsächlich gab es einen Knopf für den 13. Stock. „Der ist mir bisher gar nicht aufgefallen”, murmelte er nur. Während der Aufzug nach oben fuhr, holte Kasimir tief Luft. Motsognir grinste. „Nicht immer braucht man die Muse, nicht wahr? Obwohl die alte Tante mir jetzt sicherlich böse ist. Sie lässt ihre Jünger gerne leiden.” „Ach, tut sie das?”

„Ja – hab’ sie einmal kennen gelernt”, meinte Mosto. „Aber nun hör mir zu. Erschrick jetzt nicht. Du kennst Vogelscheuchen, oder?” „Natürlich. Lustige Stoffgebilde, die Vögel verschrecken sollen.” „Genau, früher glaubte man, dass sie Vögel verscheuchten. Bis die Vögel nicht mehr darauf herein fielen.” Motso seufzte. „So enden Karrieren.”

„Ach, du meinst es gibt auch…” setzte Kasimir an.

Da öffnete sich der Aufzug mitten auf dem Dach. Der Wind wehte ihnen frische, kalte Luft ins Gesicht. Neben zwei Sat-Schüsseln stand eine Vogelscheuche, auf der zwei Tauben saßen. Plötzlich machte die Vogelscheuche eine schnelle, fast übernatürliche Bewegung und fing die Tauben. „Er ist immer noch sauer, auf die Vögel”, murmelte Motso seinem Freund zu. Die Vogelscheuche brach den Tauben das Genick und steckte sie sich samt Federn in den unförmig genähten Mund. „Ein echter Killer.”

„Hallo Fritz!” rief Motso. „Du verscheuchst mir meine Beute”, schrie das Stoffwesen und wackelte auf seinem Holzstiel, welcher die Beine ersetzte irgendwie zu ihnen herüber.

„Du hattest doch gerade zwei.” „Na und? Als ob das genug wäre!” „Wir suchen Nimmermehr.” „Nimmermehr? Das Mistvieh hat sich heute noch nicht blicken lassen. Vielleicht am anderen Ende des Daches.” Damit wackelte Fritz zurück auf seinen Posten und erstarrte.

Motso zuckte die Achseln und ging über das Dach in Richtung eines kleinen Hüttchens. „Fritz versucht seit Jahren, Nimmermehr zu erwischen, und der ärgert ihn dauernd. In Wirklichkeit sind sie inzwischen wohl Freunde geworden.” „Wer oder was ist Nimmermehr?” fragte Kasimir nun.

In diesem Augenblick flatterte ein schwarzer Rabe aus der Hütte und setzte sich auf eine Antenne. „Nimmermehr!” Kasimir ächzte leise.

„Hallo mein Freund. Kannst du mir sagen, wo ich den Fluchbringer finde?” – „Nimmermehr!”

„Aha. Nun stell dich nicht so an!” – „Nimmermehr! Nimmermehr!”

„Wird das heute wieder schwerer oder wie sehe ich das?” – „Nimmermehr!”

„Jetzt komm. Stell dich nicht doof. Ich habe heute sogar einen echten Schriftsteller dabei. Hier, das ist Kasimir.”

„Freut mich”, sagte der Rabe plötzlich. Kasimir glotze perplex auf den Raben.

„Ah, ein Frischling”, meinte der Rabe und klopfte mit dem großen Schnabel auf das Antennenrohr. „Was willst du wissen?”

Der Zwerg seufzte. „Ich suche Rumpelstilzchen.” Kasimir schnaubte leise und rollte die Augen. Der Rabe klopfte wieder auf die Antenne. „So ganz hat er das aber noch nicht verkraftet, wie? Mein alter Freund Edgar Allen war da etwas schneller.” Motso winkte nur ab. „Nein, nein. Er hat eine Schreibkrise. Sicherlich nur eine äußerliche Erscheinung davon.”

„Nimmermehr!”

„Ja, ist ja gut. Wo ist denn nun das kleine, garstige Männchen?”

„In den Wolken, in den Wolken, findest du das Männchen. Klein ist es, doch groß die Macht. Schmachtet, schmachtet mit der Alten. Fluch um Fluch sie ihm nun webt. Kann das gut sein? Nimmermehr!”

Kasimir blickte zu seinem Freund. „Ein Rätsel?” Motso schüttelte den Kopf. „Eher die Höhensonne, aber ich weiß, was er meint.”

5: Das Schloss der tausend Spiegel und die Villa der sieben Türme

Als sie vor das Hochhaus traten, erklärte Motso: „Wir müssen zur Bohnenstange.” „Wer ist das denn nun wieder? Ein Riese?” fragte Kasimir. Der Zwerg kicherte. „Du solltest wirklich mehr alte Geschichten lesen. Aber Riese war nah dran, leider ist er vor fünf Jahren von der Bohnenstange gefallen. Genickbruch. Schlimme Sache.” „Die Bohnenstange in den Himmel? Wer glaubt denn an so was?” Der Zwerg kratzte sich den Kopf. „Zum Beispiel Kinder? Das reicht doch!”

Sie steuerten die Haltestelle der Straßenbahn an und warteten. Kasimir griff in dieser Ruhepause erneut nach seinem nicht vorhandenen Notizblock und fluchte innerlich. Was für eine Geschichte – selbst wenn er wahnsinnig geworden war.

Quietschend kam die Bahn vor ihnen zum stehen und öffnete die Türen. Motso und Kasimir stiegen ein und suchten sich einen Platz. Aus den Augenwinkeln glaubte Kasimir eine Bewegung zu sehen, doch dann war da doch nichts. Motso dagegen nickte scheinbar ins Leere.

Auf der gegenüberliegenden Seite des Ganges saß ein murmelnder Penner. Er starrte die ganze Zeit auf den leeren Sitz neben Kasimir. Das Übliche, dachte der Autor und blickte aus dem Fenster.

Unvermittelt beugte sich Motso vor und sagte ein paar Worte zu dem leeren Sitzung neben Kasimir. Als dieser sich umblickte, zuckte er unwillkürlich zusammen.

Neben ihm saß ein haariges, zwei Meter großes Ding. Lange spitze Zähne kennzeichneten zwischen dem Fell das runde Maul. Zwei gelbe, bösartige Augen musterten Kasimir, während eine klauenbesetzte Pfote Motso die Hand gab. Der Zwerg lächelte nur und sagte zu dem Monster: „Mein Freund hier ist neu.”

Das Monster knurrte etwas und stand dann bei der nächsten Station auf und verließ die Bahn. Kasimir glotzte dem Monster nach, dass sich ohne Probleme und ohne Aufsehen zu erregen über den Bahnsteig bewegte.

„Das war Glonk. Ein guter Bekannter. Er wohnt zwei Blocks weiter.” Kasimir schluckte. „Was …?”

„Na, er ist das Monster aus dem Schrank. Er liebt es, sich in Schränken zu verstecken und dann des Nachts ‚Buh!’ zu rufen. Wobei er in letzter Zeit mit den abgebrühten Kids nicht mehr zu Recht kommt. Letzte Woche wollte ihn einer dieser Teufelsbraten doch glatt mit einem Plastikschwert abstechen.”

Der verwirrte Penner von Gegenüber lachte gackernd. „Gaanz haarig. Was für Zähne. Ha-Ha.”

„Und der da drüben sieht, versteht aber nicht”, meinte der Zwerg traurig.

Sie stiegen an der Station ‚Fernsehturm’ aus und blickten zu dem hohen Turm auf.

„Ist schon klar. In Wirklichkeit ist das die Sendestation der Aliens, die uns von ihren UFOs aus überwachen”, sagte Kasimir.

„Du kommst auf schwachsinnige Ideen. Das solltest du vielleicht zu keinem Roman verarbeiten. So was liest doch niemand.”

Der Autor strich sich durch das Haar und seufzte. Der Zwerg zog ihn mit sich und sie betraten den Funkturm. „Was wollen wir überhaupt hier? Ich dachte wir suchen die Bohnenstange?”

„Das tun wir auch!” Sie betraten einen Aufzug und fuhren nach oben.

Motso zog zwei dicke Würste aus einem kleinen Beutel. Eigentlich hätten die Würste der Länge nach nicht in diesen Beutel passen dürfen, doch wer fragt schon noch nach solchen Kleinigkeiten. Als sich die Türen öffneten, umwehte sie ein kühler Wind.

Die Aussichtsplattform war fast völlig leer. Nur eine kleine Gruppe von Touristen genoss den Blick über die Stadt.

„Du hast gesagt, ich soll mit offenen Augen durch die Welt gehen”, setzte Kasimir an. „So ist es, mein Freund”, stimmte Motso zu. „Heißt das dann, dass ich nicht spinne, wenn ich da im abgesperrten Bereich ein riesiges Nest sehe?”

Mit einem lauten Kreischen und deutlichen Flattern kündigte sich die Antwort an. Sie stiegen schnell über die Absperrungsgitter und befanden sich nun am Rand der Aussichtsplattform. Der Zwerg ging langsam auf das Nest zu. Plötzlich landete ein Vogel vor ihnen.

„Hallo, Roch – Greif aller Greife.”

„Salam” krächzte der Greifvogel, der etwa so groß wie ein Jeep zu sein schien.

„Weißt du wo heute die Bohnenstange wächst?”

„Mag sein. Was hast du denn für mich?”

Der Zwerg hielt dem Vogel die Würste hin.

„Fein. Die Bohnenstange wächst heute im Hof des Schlosses der tausend Spiegel.”

„Ich danke Euch, Roch!”

Der Greif krächzte und nickte mit dem schnabelbewehrten Kopf. Dann griff er sich die zwei Würste und verschlang sie.

Kasimir beobachtete das Schauspiel aus sicherer Entfernung. Als der Zwerg zurückkam, fragte er ihn: „Das Schloss der tausend Spiegel? Wir haben doch gar kein Schloss!”

Motso winkte ab. „Komm mit.”

Wieder bestiegen sie die Straßenbahn. Nachdem sie einmal umgestiegen waren, verließen sie die Bahn an einer Station nahe der Stadtmitte.

Kasimir folgte dem Zwerg, der mit eiligen Schritten die Straße entlang ging, bis sie vor einem zweistöckigen Haus standen. ‚Einrichtungshaus G. Meyrink’ verkündete eine matte Neonschrift über dem Eingang. „Schloss?” hakte Kasimir nach, doch Motso steuerte bereits auf die Eingangstüre zu.

Als Kasimir ihm folgte, betrat er ein ganz normales Einrichtungshaus. Stühle, Schränke und Einbauküchen. Er folgte dem Zwerg weiter durch die ersten Ausstellungsräume. Der Verkäufer schien sie gar nicht zu beachten, doch das war ja eigentlich nichts Besonderes. Sie betraten einen weiteren Raum. Es blitzte und funkelte. Durch ein kleines Fenster schien das Sonnenlicht und brach sich in unzähligen Spiegeln. Ein unruhiges Schnattern lag in der Luft, doch der Raum selbst schien leer.

Motso blieb vor einem besonders großen Spiegel stehen. „Wir müssen zur Bohnenstange.”

Plötzlich schimpfte der Spiegel los. „Etwas mehr Anstand, wenn ich bitten darf!” Weitere Spiegel im Raum stimmten ein. „Anstand, Anstand!”.

Der Zwerg grummelte. „Also gut. Spieglein, Spieglein an der Wand. Können wir zur Bohnenstange?”

Der Spiegel kicherte. „Danke, dass du nicht nach der Schönheit fragtest.” Motso verzog das Gesicht. „Wo bleibt jetzt Euer Anstand? Denkt daran, ein Zwerg geht nie ohne Hammer aus dem Haus!” „Oh, Oh, diese Drohungen. Du roher Bursche. Na dann geh schon!”.

Das Kichern und Plappern schwoll an. Hunderte Stimmen, jede aus einem der Spiegel, schienen den Raum zu erfüllen. Kasimir hielt sich die Ohren zu. Der große Spiegel schwang ohne zutun zur Seite und öffnete einen Durchgang.

Schnell traten die Beiden hindurch und als der Spiegel zurückklappte, erstarb der Lärm.

Der Zwerg steckte sich einen Finger in das linke Ohr und kratzte sich. „Immer das Gleiche mit diesen Irren.”

Der Gang führte geradewegs zu einer Stahltüre, die in einen kleinen Hinterhof endete. Moos war das einzige Gewächs, welches die Betonwände verschönerte. Ein paar Kisten und altes Gerümpel lagen halb verrottet in den Ecken. Doch genau in der Mitte des Hofes erhob sich ein dicker Stamm. Es hätte eine Eiche sein können, doch als Kasimir nach oben blickte, erkannte er, wenn auch in falscher Proportion, ein Bohnengewächs. Die Bohnenstange reckte sich in den Himmel und verschwand in den Wolken.

Motso trat an den Stamm heran und schob ein großes Blatt zur Seite. Eine kleine Klingel war dort an den Stamm angeschraubt. Er drückte darauf und trat zwei Schritte zurück. „Ach du dachtest, wir müssten klettern? Nein, man geht doch mit der Zeit.”

Rumpelnd schoss plötzlich ein Kasten aus den Wolken und näherte sich sehr schnell dem Boden. Kasimir dachte bereits, der seltsame Kasten würde auf dem Hof und damit auf seinem Kopf zerschellen, da bremste er ab und kam ein paar Zentimeter über dem Boden zum stehen. Der Kasten stellte sich als Aufzugkonstruktion aus Holz heraus. Er schien an geflochtenen Seilen zu hängen, die der Bohnenstange frappierend ähnelten. Ein kleines, grünes Männchen bediente den Kasten.

„Ha, Motsognir. Vater aller Zwerge. Was willst du denn hier?”

„Halt die Klappe Boggart, Sohn einer Kanalratte.”

„Nett”, stellte Kasimir leise fest und stieg in den Aufzug. Es dauerte keine zehn Sekunden, da waren sie bereits wieder in der Luft und schnellten nach oben. Kasimir wurde speiübel und auch Motso hielt sich erschrocken fest.

„Ha – ha! Schnell wie der Wind. Boggart-Express-Aufzug!” hörten sie noch, als sie im Nebel der Wolken verschwanden und einen Augenblick die Hand vor Augen nicht sehen konnten. Dann schossen sie durch die Wolkendecke und standen plötzlich am Rand einer Insel.

Motso schob den Kobold zur Seite und stieg aus. Kasimir folgte ihm, nicht ohne sich noch einmal der Festigkeit des Inselbodens zu versichern.

Eine gepflasterte Straße führte ins Inselinnere. Kasimir konnte die Ausmaße der Insel nicht überblicken, aber es schien, als ob mehrere Straßen vom Rand der Insel ins Innere führten. Dort befand sich auf einem kleinen, bewaldeten Hügel ein großes Gebäude mit sieben Türmen.

„Die Villa mit den sieben Türmen. Treffpunkt für unseresgleichen … und mehr.”

Sie gingen die Straße entlang und Kasimir beobachtete mindestens zweimal wie eine Frau auf einem Besen an ihnen vorbei schoss. Außerdem trabte ein weißes Einhorn an ihnen vorbei und grüßte freundlich.

Sie betraten die Villa und befanden sich augenblicklich inmitten eines turbulenten Marktes. Ein durchsichtiger Geist pries Sicherheitsschlösser an. Eine junge Frau mit Schmetterlingsflügeln warb für Fliegenklatschen und ein großer Troll verkaufte Miniaturen von irgendwelchen Sagengestalten. Kasimir staunte nicht schlecht, doch Motso zog ihn unerbittlich weiter.

„Eine Blutspende für das DRK?” wurde Kasimir angesprochen, doch als er die spitzen Zähne und das bleiche Gesicht des Werbers sah, lehnte er schnell ab und stolperte seinem Führer hinterher.

Sie folgten einem Schild mit der Aufschrift ‚Turm Sieben’. An der Treppe zu diesem Turm befand sich ein kleines Büro in dem ein junger Sekretär arbeitete. Motso meldete sie an und sie wurden die Treppe nach oben geschickt.

„Der Sekretär sah völlig normal aus.”

„Ja, das macht ihn zu etwas besonderem”, antwortete der Zwerg nur und stieg schnaufend weiter die Treppen empor.

Sie erreichten schließlich einen großen Saal.

„Im siebten Turm regiert die Herrscherin der Insel. Die weiße Hexenkönigin – ein echtes Ekelpaket – ist neuerdings ganz dicke mit Rumpelstilzchen, wie man hört. Also sei einfach still”, flüsterte Motso.

Sie waren bereits bemerkt worden. Zwei Trolle kamen auf sie zu und grunzten laut vor sich hin. Eskortiert von diesen zwei wandelnden Sicherheitsargumenten gingen sie auf einen schwarzen Thron zu. Darauf räkelte sich eine junge Frau, ganz in weiß, strahlend schön. Ein bösartiges Lächeln erschien auf ihrem Gesicht.

„Motsognir. Welch eine Freude. Komm näher, alter Zwergenfürst. Was kann ich für dich tun?”

„Verzeiht mein Eindringen, oh große Magierin. Ich suche eigentlich Euren derzeitigen Gefährten.”

Das Lächeln wich einen Augenblick aus dem Gesicht der bildhübschen Frau. „Woher weißt du…? Ach nun – er ist nebenan. Aber wer ist denn dein Begleiter? Ein Normaler? Ach wie aufregend.” Die Hexenkönigin machte einen Schmollmund und musterte Kasimir. Betört von den Bewegungen der Frau und ihrer säuselnden Stimme schaute er verlegen drein, doch als Motso mit voller Wucht auf seinen Fuß trat, verflog die Stimmung völlig.

Die Hexenkönigin verzog säuerlich den Mund. „Spielverderber. – Was wollt ihr eigentlich von meinem Stilzchen?”

„Es geht um den Fluch, Königin.”
“Ach das”, sie lachte laut auf. „Das habe ich ja völlig vergessen. Ja, er hat mich ja gebeten deine Sippe ein wenig zu verfluchen. Schöner Fluch nicht wahr?”

„Ich bin hin und weg. Können wir mit ihm reden?”

Eine braune unförmige Person trat hinter dem Thron hervor und flüsterte der Königin etwas ins Ohr. „Dank Gilp” sagte sie zu der Person und wandte sich zum Gehen. Dann hielt sie inne. „Oh, verzeiht. Ich muss mich um etwas kümmern. Ich lasse ihn rufen.”

Mit einem Zischen ging sie einfach durch die Wand und war verschwunden. Keine Minute später öffnete sich eine verborgene Seitentüre und ein kleines Männchen im Bademantel trat heraus. Eine dicke Havana paffend kam er auf sie zu.

„Ha-Ha. Na, schon eine Beule bekommen, Motso?” grüßte das Männchen. Der Zwerg knurrte wütend. „Wie kann ich den Fluch aufheben?”

„Wieso? Betrügende Zauberei ist eine Straftat. Das weißt du! Ihr bekommt nur was ihr verdient.”

„Was willst du? Ich weiß genau, wie das läuft.”

Rumpelstilzchen lachte kackernd und umrundete dabei hüpfend den Zwerg. Dann blickte er zu Kasimir auf. „Ah, dein Schachpartner.” Er zog genüsslich an seiner Havanna, dann öffnete er die Augen. „Also gut um der alten Zeiten willen. Ich gebe Euch ein Schachspiel. Es sind noch sieben Figuren auf dem Feld und wenn es Euch gelingt in sieben Zügen die weiße Dame zu schlagen, dann seid ihr erlöst. Ich liebe solche Spielchen! Ha-Ha-Ha!”

Er ging zurück durch die Seitentüre und kam anschließend mit einem Stück Pergament zurück. „Hier ist der Spielaufbau.” Wieder lachte er kackernd, dann begann er zu hüpfen. „Ach wie gut, dass niemand weiß…”

„Ja ja, ist schon gut.” Motso riss dem Männchen das Pergament aus der Hand und drehte sich um. „Komm Kasimir. Wir haben etwas zu tun.”

Rumpelstilzchen rief ihnen laut hinterher. „Sieben Stunden gebe ich Euch zu lösen das Rätsel. Sonst wird Stein um Stein, Eure Hallen gewesen sein.”

6: Gardez

„Was für ein Arschloch. Dauernd zaubern alle durch die Gegend, nur er regt sich wieder auf.”

Kasimir folgte dem Zwerg durch das Gewühl der Markthalle.

„Aber es ist verboten?”

„Ach Gesetze. Gesetze werden von den Mächtigen gemacht. Und das sind Zauberer. Wir verstehen uns?”

Als sie die Villa verlassen hatten, betrachteten sie sich das Pergament. Es war, wie konnte es anders sein, verzaubert. Man konnte auf dem eingezeichneten Schachbrett die gemalten Figuren verschieben und so sein Glück versuchen.

Kasimir schnaufte. „Ich sehe hier keine Lösung.” Und auch Motso ächzte. „Was soll das denn sein? Ich bin Hobbyspieler und kein Profi.”

„Nun ein Rätsel soll ja nicht leicht sein”, stellte Kasimir fest. Motso blickte ihn erstaunt an. „Danke für dein Mitgefühl.”

Kasimir kaute einen Augenblick auf seiner Lippe herum, dann tippte er auf das Pergament. „Was, wenn wir jemanden finden, der das lösen könnte. Wäre das erlaubt?”

„Natürlich – niemand hat gesagt, wie wir die weiße Königin vom Feld schlagen.”

„Hast du heute Morgen die Zeitung gelesen?”

„Nein, wieso?”

„Der amtierende Schachweltmeister ist in der Stadt”, sagte Kasimir grinsend.

Boggart jaulte vor Freude, als der Aufzug nach unten sauste. Seine Gäste nicht. Als sie in dem kleinen Hof angekommen waren, übergab sich Kasimir erst einmal in eine der Ecken.

„Ha-ha. Weichbrot – Normalo!” hörten sie Boggart rufen, dann war er verschwunden.

„Wie kommen wir an diesen Schachweltmeister heran”, fragte Motso.

Kasimir hatte sich noch nicht ganz von der rasanten Fahrt erholt, aber es blitzte ein Lächeln auf seinem Gesicht auf. „Ich bin doch ein bekannter Autor. Wladimir Kramnik wird uns bestimmt empfangen. Ich schreibe nämlich gerade mein neues Buch und dabei habe ich ein paar wichtige Fragen in Sachen Schach. Wenn du verstehst…”

„Wenn du das hinbekommst, schmiede ich dir einen Zauberring!” rief Motso aus. Kasimir schüttelte ablehnend den Kopf. „Das mit dem ‚ein Ring sie zu knechten’ und so weiter lassen wir mal schön!”

„Ach, das wurde völlig falsch dargestellt”, winkte Motso ab und sie verließen den Hof.

Ein Anruf später und Kasimir hatte dank seines Agenten, der übrigens sehr erleichtert über die Nachricht eines neuen Buches war, ein Treffen mit dem Schachweltmeister vereinbart.

„In einer Stunde in der Lounge des Hotels in dem er wohnt.”

Der Zwerg klatschte in die Hände. „Wunderbar!”

Es dauerte eine Weile bis sie zu dem Hotel gelangten. Kasimir hielt die ganze Zeit Ausschau nach Besonderheiten, doch alles war normal. Die Pendler strömten aus der Straßenbahn. Jungendliche verspeisten Döner und verstreuten dabei Unmengen von Zwiebeln auf dem Fußgängerweg. Laute Musik lud sie ein, Cafes oder schicke Boutiquen zu besuchen und dort ihre wertvolle Kaufkraft zu lassen.

Als sie das Hotel betraten, wimmelte es dort von Anzugträgern. Ein großes Schild kündete von einem Kongress. Ein junges Mädchen schwankte an ihnen vorbei und grüßte Motso, wankte dann weiter um sich dann doch noch umzudrehen und dem Zwerg schnell einen Kuss auf die Wange zu drücken. Dann wankte sich kichernd weiter.

„Eine Bekannte von dir?”

„Geht so”, meinte Motso und wischte sich die Wange ab. „Das Rotkäppchen war schon immer ein Spaßvogel.” „Rotkäppchen?” Kasimir drehte sich nach dem Mädchen um und kratzte sich dem Kopf. „Ja, du weißt schon. Die mit dem Wolf und der Großmutter. Nur das inzwischen die Großmutter und der Wolf in einer WG wohnen und jeden Donnerstag gemeinsam zum Bingo gehen.”

„Und Rotkäppchen?”

„Ach die, die arbeitet jetzt für so einen Sekthersteller. Alte Schnapsdrossel! Hat schon immer gerne einen gehoben. Kann selbst mit uns Zwergen mithalten.”

Der Schachweltmeister staunte nicht schlecht, als sie ihm ihr Rätsel vortrugen. Schnell war ein Schachbrett aufgebaut und die Figuren aufgestellt. Die Konstellation reizte den Weltmeister so, dass er andere Termine verschob. Über eine halbe Stunde starrte der Schachweltmeister auf das Brett, verschob ab und an eine Figur, während um sie herum die Anzugträger ihrem Kongress nachgingen.

„In sieben Zügen… Ich sehe leider keine Möglichkeit die weiße Dame so schnell zu schlagen! In neun Zügen würde es gehen. Ist das denn so zentral für ihr Buch?”

Kasimir nickte traurig. „Ja, ansonsten macht die ganze Geschichte nur halb so viel Sinn.”

Der Schachweltmeister lehnte sich in seinem Sessel zurück. „Es tut mir leid. Ich werde mir diese Konstellation gerne noch mal die nächsten Tage anschauen, aber jetzt habe ich andere Termine. Es gibt sicher eine Lösung, aber sie ist nicht leicht. Es kommt schließlich darauf an, wie der Gegner spielt.”

„Natürlich. Ich danke ihnen trotzdem für ihre Hilfe!”

Enttäuscht verließen sie das Hotel und blieben auf dem Gehsteig stehen.

„Und nun?” fragte Kasimir.

„Echte Rätsel verlangen nach echten Meistern dieses Fachs!” sagte Motso plötzlich.

Kasimir folgte seinem Freund ohne zu wissen was er vorhatte. Sie stiegen eine Treppe hinab zur U-Bahn. Sie fuhren eine Weile und erreichten dann eine der Endstationen. Motso stieg aus und lief zielstrebig auf die Absperrungen zu den Versorgungsschächten zu. Kasimir blickte sich einmal nervös um und folgte seinem Freund in die Dunkelheit.

„Wo gehen wir überhaupt hin?”

„Zum Meister der Rätsel!”

7: Vom Meister der Rätsel, dem Schwarm und Herrn Netz

Sie folgten dem U-Bahnschacht und bogen gerade noch in einen Seitenschacht ab, bevor die nächste U-Bahn an ihnen vorbeisauste. Gelbliches Licht glomm in dem Tunnel und tauchte alles in ein unwirkliches Licht.

So gingen sie sicher eine Stunde und bogen immer wieder in neue Gänge ein. Kasimir war sich inzwischen sicher, dass dies kaum das Werk der U-Bahn-Gesellschaft sein konnte. Dafür waren die Gänge viel zu weitläufig. Schließlich veränderten sich die Gänge und bestanden nur noch aus behauenem Stein. Motso machte vor einer großen ehernen Türe halt. Zwei Fackeln hüllten alles in ein schwankendes Licht.

„Kommt herein”, grollte es durch die Tür.

Sie schoben gemeinsam die schwere Türe beiseite, doch dann blieb Kasimir wie angewurzelt stehen. Eine riesige Höhle tat sich vor ihnen auf. Darin räkelte sich, Kasimir musste zweimal hinschauen, ein großer Drache auf einem Haufen Gold.

„Willkommen in meinem Hort, Motsognir”, grollte der Drache und stieß Rauchwolken aus seinen Nüstern. Als der Drache Kasimir erblickte, fauchte er.

„Du bringst einen Fremden in meinen Hort, Zwerg?” Motso hob beschwichtigend die Hände. „Keine Sorge, Fafnir. Er ist mein Freund und du brauchst keine Sorgen um deinen Hort haben.”

„Ich will dir glauben, denn das Wort eines Zwerges nehme ich ernst. Aber was willst du?”

„Wir haben ein Rätsel zu lösen.”

Fafnir räkelte sich und schlängelte sich dann ähnlich wie ein Waran an sie heran.

„Oh – ein Rätsel?” grollte Fafnir vergnügt. „Was lässt Euch denn verzagen?”

„Ein Schachrätsel”, antwortete Motso und zog das Pergament aus der Tasche. Der Drache griff sich mit einer Klaue das Pergament und entrollte es.

„In sieben Zügen soll die weiße Dame geschlagen werden. Lösen wir das Rätsel nicht, so wird ein Fluch meine steinernen Hallen zum Einsturz bringen.”

Rauch stieg von den Nüstern des Drachen auf. „Ein garstiger Fluch. Die Hexe nicht wahr? Ich wollte, ich hätte sie damals verspeist!” Dann betrachtete er das Pergament und begann zu lachen.

„Oh ihr Unglückseligen. Da bringt ihr mir, dem Meister der Rätsel, etwas ganz besonderes! Ich kann Euch leider nicht helfen bei diesem Augenschmaus!”

Kasimir runzelte die Stirn. „Aber wieso denn nicht?”

Der Drache lachte grollend. „Weil das Rätsel von mir selbst geschaffen ist. Und – Kein Rätsel das ich selbst gemacht, darf ich lösen für Freund noch Feind. So bindet mich der Spruch der Macht, der mich zum Meister macht”, rezitierte Fafnir.

„Die Hexe hat mir erst neulich dieses Rätsel als Geschenk für ihren Liebhaber abgekauft. Es tut mir leid. Ich kann hierbei nicht helfen.” Damit wandte sich der Drache um und begab sich wieder auf seinen Berg aus Gold. Motso lies den Kopf hängen. „Wir sind erledigt!”

Langsam trotten sie den ganzen Weg zurück und fuhren dann mit der U-Bahn zurück. Kasimir blickte betrübt aus dem Fenster und sah die einzelnen Stationen an ihnen vorbeiziehen. Werbeschild um Werbeschild kündete von der neuen DSL-Geschwindigkeit eines Anbieters. Plötzlich zuckte Kasimir zusammen.

„Ich hab eine Idee!” stieß er hervor. Motso blickte auf und sein Gesicht hellte sich auf. „Raus damit.” „Die Schwarmtheorie!” „Die was?” „Der Schwarm weiß alles. Wikipedia und so weiter.” „Ja und? Wikipedia hat doch keine Sparte ‚Unlösbare Rätsel’, oder liege ich da falsch.” „Das nicht – aber wir könnten im Internet einen Hilfeaufruf starten. Mein Blog wird viel gelesen. Der Schwarm wird die Lösung finden.”

Motso rieb sich das kleine Kinn. „Das wäre eine Möglichkeit. Gute Idee.”

Mit einem Ruck hielt die Bahn an und zischend öffneten sich die Türen. Plötzlich sprang Motso auf. „Komm mit, ich hab eine viel bessere Idee!”

Verwirrt folgte Kasimir seinem Freund und schaffte es gerade noch die Bahn zu verlassen. „Warum so kompliziert, wenn der Schwarm alles weiß…. Dann weiß es einer ganz bestimmt.”

„Wer denn? Wer außer dem Meister der Rätsel soll das wissen?”

„Ganz einfach. Der Herr der Netze! Der Herr des Schwarms.”

Kasimir verstand kein Wort und folgte seinem Freund. Sie bestiegen wieder eine Straßenbahn und gelangten zu einem kleinen Internetcafe. Ein grünes Neonschild verkündete den Namen. ‚Connect Seven’.

Motso kletterte auf einen Stuhl und stellte sich vor einen der Computer, die zur Nutzung in kleinen Nischen standen. Leise murmelte er etwas und tippte dabei wild auf die Tastatur ein. „Was treibt du da?” fragte Kasimir und blickte sich nervös um. Sie hatten nicht einmal ein Guthaben für die Benutzung gekauft.

„Ein wenig Zauberei von meiner Seite. Quasi ein Ferngespräch.”

Plötzlich flammte auf dem Bildschirm ein Gesicht auf.

„Verbindung hergestellt. Anfrage?”

„Guten Tag, Herr Netz.”

„Ah, ein Zwerg. Mythologie. Fantasy. Motsognir, richtig?”

„So ist es Herr Netz.”

Kasimir blickte in das androgyne, bläuliche Gesicht, das sich aus Einsen und Nullen zusammen zu setzen schien. „Wer ist das?”

„Wer ich bin? Ich bin Mr. Net. Und was wollt ihr von mir?”

„Wir hätten da ein Rätsel.”

„Ah Rätsel mag ich sehr gerne. Manchmal kenne ich sie noch nicht. Darf ich es sehen und speichern?”

„Wenn du es uns löst, kannst du es gerne behalten.”

„Delicious! Dann zeigt mal her.”

Motso hob das Pergament vor den Bildschirm und erklärte das Ziel.

„Danke, ich habe es gespeichert. Interessantes Rätsel. Schach – das Spiel der Könige. Aus dem Arabischen. Verbindung zum Go der Chinesen. Anspruchsvolles Spiel. Lange waren Computer hier dem Menschen unterlegen. Ärgerlich.”

Kasimir rollte die Augen und murmelte: „Wikipedia mit Sprachausgabe oder was?”

Motso blickte ihn strafend an.

„Ach das war ja einfach”, sagte Herr Netz und spielte in einem kleinen Fenster die Züge um die weiße Dame zu schlagen ab. „Einfach, aber ganz nett. Ich werde es mal in einem meiner Schachforen posten. Das wird ein Spaß! Vielen Dank!”

„Wir haben zu danken!” sagte Motso. Dann verschwand das Gesicht vom Bildschirm.

Epilog

Kasimir betrat seine Wohnung und seufzte. Als sie kurz vor Ende der Frist die Villa erreicht hatten, war Rumpelstilzchen gar nicht erfreut gewesen. Sein Geschimpfe und der Ausruf: ‚Das hat Euch der Teufel gesagt…’ amüsierten Motso und Kasimir sehr. Da Wettschulden Ehrenschulden waren, hob die Hexe daraufhin den Fluch auf.

Zufrieden blickte Kasimir sich um. Alles wie zu Beginn seines kleinen Abenteuers – normal. Aber eine Geschichte aus seinen Erlebnissen machen? Was für ein Buch wäre denn das? Nein, leider würde das nicht klappen. Traurig kratzte er sich am Kopf und ging in die Küche. Kasimir wäre fast zu Tode erschrocken als dort eine dunkelhaarige Frau saß.

„Oh, hallo. Ich wollte dich nicht erschrecken”, sagte sie in sanftem Ton und hob eine von Kasimirs Tassen an die Lippen und trank einen Schluck Kaffee. „Wer sind Sie? Was machen Sie hier?” entfuhr es Kasimir.

„Aber, aber. Als ob ich das erste Mal hier wäre. Mein Name ist Kalliope, falls du dich nicht mehr daran erinnerst. Nein? Dabei hatte ich dich so innig geküsst – und heute hatte ich das wieder vor.”


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