von Martin Kurz

Der trübe Schein einer aus alten Konservendosen zusammengebastelten Öllampe beleuchtete die Lehmhütte spärlich. Die armdicken Äste, die das aus einer dicken Lehmschicht bestehende Dach der kaum mannshohen Hütte abstützen, warfen im flackernden Licht der Öllampe gespenstische Schatten auf die roten Lehmwände. Das Bett – durch Rindenstücke verflochtene Äste, darauf eine billige Schaumstoffmatraze – nahm fast die Hälfte des Raums ein. Im schummrigen Licht zeichneten sich schemenhaft die Umrisse einer jungen Frau, die zusammengekauert auf dem Bettrand saß, ab. Neben ihr lag ein vielleicht einjähriger Säugling, der ruhig schlief – er schien nichts von der Unruhe seiner Mutter zu bemerken. Kati starrte angestrengt an Lehmwände ihrer Behausung, als ob diese ihr eine Antwort auf die bohrenden Fragen, die sich in ihrem Kopf jagten, geben könnten. Warum musste ausgerechnet sie in eine solche Situation geraten? Warum immer sie? Hatte Gott gar kein Mitleid mit ihr? Aber erst gestern hatte der Pfarrer in der Kirche doch gesagt, dass Gott alle Menschen liebt und keinen vergisst. Oder hatte er ihr doch einen Engel geschickt? Bis sieben Uhr morgens hatte sie Zeit, dann musste sie sich entscheiden.

Kati war knapp zwanzig Jahre alt. Sie war schlank, in letzter Zeit fast schon mager. Sie hatte ein feingeschnittenes Gesicht und wache Augen. Wenn sie ihr buntes Kopftuch umband und mit der Hacke auf der Schulter leise vor sich hinsingend zur Feldarbeit ging, wirkte sie sehr anmutig und die Männer schauten ihr unverhohlen nach. Als sie noch ein kleines Kind war, waren zunächst ihr Vater und dann ihre Mutter an eine rätselhaften Krankheit gestorben und Kati hatte schon früh lernen müssen, für sich selbst und ihre Geschwister zu sorgen, denn die alte Großmutter konnte die schwere Arbeit auf den Feldern und im Haushalt kaum mehr bewältigen. Als sie etwa sechzehn Jahre alt war, war sie mit einem Mann, dem sie schon von ihrem Vater versprochen worden war, verheiratet worden. Zunächst war Kati sehr glücklich gewesen, das Hochzeitsfest war sehr schön, sie hatte nun endlich einen anerkannten Status und der Mann schien wirklich sehr nett zu sein. Bald war ihr erster Sohn geboren worden, ein gesunder Junge, der sich prächtig entwickelte. Katis Mann jedoch hatte immer mehr Gefallen daran gefunden, mit anderen Männern zusammen zu sitzen und von den Dorfweibern selbst gebrautes Bier zu trinken. Wenn er dann heimkam, schlug er Kati und überzog sie mit übelsten Schimpfworten. Die junge Frau hatte diese Behandlung nicht mehr ausgehalten und war zu ihrem Großonkel ins Nachbardorf geflüchtet. Zunächst hatte die Familie des Großonkels sie freundlich aufgenommen. Sie bekam eine kleine Hütte für sich zugewiesen und durfte zusammen mit den anderen Frauen der Familie kochen und Essen. In letzter Zeit hatte sich das Verhältnis zu den anderen Frauen allerdings sehr abgekühlt. Besonders seit herausgekommen war, daß einer der Söhne des Großonkels ihr Geld gegeben hatte, um sich Saatgut zu kaufen und ein eigenes Feld anlegen zu können, hatte sie den Neid der anderen Frauen, vor allem der Tochter des Großonkels zu spüren bekommen. Um so mehr stürzte sich Kati in die Arbeit auf ihrem Feld. Sie musste selber für sich und ihr Kind sorgen. Mit ihren eigenen Händen wollte sie eine eigene Zukunft für sich und ihren Sohn aufbauen! Meist ging sie schon vor Sonnenaufgang aufs Feld, so dass sie zurück sein konnte, wenn die Pflichten im Haushalt des Onkels riefen. Auch in der Mittagshitze, wenn die anderen im Schatten der großen Affenbrotbäume dösten, war Kati auf dem Feld. Die Mühe schien sich auszuzahlen, die Maispflanzen auf Katis Feld entwickelten sich prächtig und alle Leute, die vorbei kamen, bewunderten sie. Trotzdem hatte sich seit einiger Zeit ein Schatten auf Katis Züge gelegt. Es hatte ganz harmlos begonnen, dann kamen die Attacken immer häufiger und heftiger. Vor allem nachts wenn sie im Bett lag, spürte Kati, wie ihr Herz zuerst raste, dann für bange Sekunden, die ihr wie Ewigkeiten vorkamen aussetzte, um schließlich wieder normal zu schlagen. Dann überfiel Panik die junge Frau? Was, wenn sie nicht mehr arbeiten könnte, wenn sie gar sterben würde? Was würde aus ihrem Feld, wer würde für ihren Sohn sorgen? Den Großonkel traute sie nicht, um Geld zu bitten, um in die Stadt fahren und zum Arzt gehen zu können. Die anderen Frauen hätten so etwas nie zugelassen. Sie musste die Arbeit auf dem Feld einfach bis zur Ernte durchhalten! Gestern war dann allerdings etwas passiert, das Kati immer noch wie ein Wunder vorkam. Ein LKW war angekommen und hatte Zement für den Bau des neuen Klassenraums geliefert. Weil Katis Großonkel einer der Dorfältesten war, war der Fahrer in seinem Haus einquartiert worden und Kati bekam die Aufgabe zugeteilt, für ihn zu kochen. Der ältere Herr war irgendwie anders als die anderen Männer im Dorf und er erinnerte Kati sehr an ihren Vater. Er bedankte sich freundlich bei Kati, als sie die dampfende Schüssel mit dem Maisbrei brachte und betete vor dem Essen. Nach dem Essen bat er Kati, sich zu ihm zu setzen und fragte sie, wie alt ihr Kind sei und wie es ihr gehe. Zunächst antwortete sie mit den üblichen Floskeln, dann fasste sie aber Vertrauen und erzählte dem fremden Mann ihre ganze Not. Der schaute bedenklich, nach längerem Schweigen sagte er: „Du musst ins Krankenhaus in die Stadt. Ich fahre morgen früh um sieben Uhr weg, pack deine Sachen zusammen und sei um sieben Uhr bereit. Falls Du kein Geld hast, kann ich auch erst einmal die Aufnahmegebühren für dich bezahlen.” Als der Großonkel und die anderen Frauen das mitbekamen schäumten sie vor Wut. Ausgerechnet Kati sollte so eine Sonderbehandlung zuteil werden. Arbeiteten sie nicht auch jeden Tag hart auf den Feldern? Wie oft waren sie schon krank gewesen und niemand hatte ihnen geholfen? Was bildete sich diese wehleidige Zicke denn ein? „Wenn Du das machst”, drohten sie ihr, „brauchst Du gar nicht wieder zurückzukommen!” Seither drehten sich Katis Gedanken im Kreis. Was sollte sie machen? Hier bleiben? Was aber, wenn der Mann Recht hatte, was, wenn sie ohne Behandlung sterben würde? Aber wer würde sich um ihr Feld kümmern, wenn sie weg musste? Wohin sollte sie gehen, wenn sie nicht beim Großonkel bleiben konnte? Wie sollte sie für sich und ihren Säugling sorgen, wenn sie nicht bis zur Ernte durchhalten konnte?

Der Säugling wachte auf und begann zu schreien. Hastig krempelte Kati ihr zerschlissenes T-Shirt hoch und legte ihn behutsam an die Brust. Langsam beruhigten sich ihre Gedanken. Es gab nur eine Alternative. Ihr Sohn brauchte sie. Gott hatte ihr diese Chance gegeben und er würde mit ihr sein. Zielstrebig suchte sie ihre wenigen Habseligkeiten zusammen und schlüpfte, ihren Sohn auf den Rücken gebunden, aus der Hütte. Auf dem Schulhof heulte schon der Motor des LKWs auf.


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