von Melissa Cordis
„Wie ihr wisst, bin ich schon ziemlich alt”, sagte die Frau zu ihren sieben Kindern. Ihre Stimme klang weich und schwach. „Ich habe mich ganz gut gehalten, aber es geht mir in letzter Zeit nicht so gut. Ich habe Fieber.”
„Wie konnte das passieren?”, fragte Europa.
„Das wisst ihr ganz genau.” Die alte Frau sah ihre Kinder milde an.
„Ich war immer für euch da, habe alles für euch getan, was in meiner Macht stand. Ich war für euch Heimat und Nahrung und Sicherheit.” Die sieben Kinder sahen beschämt zu Boden.
„Und wie habt ihr mir gedankt?”, fuhr Mutter Erde fort. Sie hielt kurz inne, erwartete jedoch keine Antwort. „Ihr habt mich ausgenutzt. Ich habe euch den kleinen Finger gegeben, doch ihr wolltet mich gleich ganz.” Jetzt sah Mutter Erde ihren Kindern nacheinander direkt in die Augen. „Ihr habt mich geschwächt, mir all meine Energie geraubt.”
„Das stimmt nicht!”, rief Nordamerika aus. „Es ist noch lange nicht zu spät. Du übertreibst!”
„Ich übertreibe nicht”, erwiderte sie ruhig, doch ein Funken Zorn mischte sich in ihre Stimme. „Das ist auch gar nicht das schlimmste Problem. Es kann mir egal sein, ob ihr das Erdöl verschwendet bis es ganz verschwunden ist. Damit schadet ihr niemandem außer euch selbst. Ihr müsst dann auf den Lebensstandart verzichten, den ihr gewohnt seid, nicht ich.” Nach einer kurzen Pause fuhr sie fort: „Ich wäre sogar froh, wenn das Erdöl jetzt schon aufgebraucht wäre. Dann könntet ihr mich nicht länger vergiften.”
„Aber wir vergiften dich doch gar nicht!”, sagte Afrika.
„Du und deine Schwester Antarktika nicht, das stimmt. Aber deine anderen Geschwister nebeln mich mit großen Mengen Kohlenstoffdioxid und Methan ein und das schon seit mehr als einhundert Jahren.”
„Aber wir wussten doch nicht, was es für Folgen haben würde! Der Treibhauseffekt ist noch nicht lange bekannt. Wie sollten wir ahnen, dass…”, sagte Europa, doch Mutter Erde unterbrach sie.
„Jetzt wisst ihr es und habt ihr euer Verhalten etwa geändert? Ein bisschen vielleicht, aber nicht so, dass ich einen Unterschied bemerken könnte.” Mutter Erde hob ihre Stimme, als sie sagte: „Es ist noch nicht zu spät. Noch lebe ich. Noch ist es nur leichtes Fieber. Wenn ihr mich die nächsten sieben Jahre schont, werde ich wieder ganz gesund werden.”
Mutter Erde schaute ihre Kinder erwartungsvoll an. Obwohl sie ihre Kinder ziemlich gut kannte, schlummerte noch ein kleiner Funken Hoffnung in ihr. Sie konnten doch ihre eigene Mutter nicht im Stich lassen! Wer würde so etwas übers Herz bringen? Was für ein Dank wäre das für 4,5 Milliarden Jahre der Aufopferung und Hingabe?
„Aber Mutter, wir müssen auch an uns denken!”, erwiderte Asien. „Nordamerika und Europa sind viel reicher und erfolgreicher als ich. Ich will auch so werden wie sie. Das geht aber nur, wenn ich meine Industrie ankurbele!”
„Was sind schon Reichtum und Erfolg? Viel wichtiger ist es, gesund und glücklich zu sein.”
„Aber das ist unfair!”, meinte Asien. „Die beiden durften jahrelang die Umwelt verpesten. Sie sind an deinem Fieber schuld, nicht ich! Sie müssen umweltfreundlicher werden, nicht wir!”
„Ich verstehe deine Wut”, sagte Mutter Erde. „Doch du verstehst nicht: Ich werde sterben, wenn ihr mich nicht schont. Und das wäre auch euer Untergang. Stürme werden euer Land verwüsten, Tierarten werden aussterben, ganze Städte und Inseln werden im Ozean versinken.” Mutter Erde sah ihre Kinder wütend an. Diese schienen uneinsichtig zu sein.
„Wie kann man nur so kurzsichtig sein?”, fragte Mutter Erde erbost. „Versteht ihr denn nicht? Ich war 4,5 Milliarden Jahre immer für euch da und ihr wollt nicht einmal sieben Jahre etwas für mich tun?”
„Wir können nicht. Es tut mir leid!”, sagte Asien und ging.
Mutter Erde musste sich hinsetzen. Ihre schlimmsten Befürchtungen waren wahr geworden. So wie es aussah, war ihr Ende nahe.
„Es wird alles gut werden, Mutter. Du wirst es noch sehen”, sagte Nordamerika. „So etwas wie einen Treibhauseffekt gibt es gar nicht. Das bildest du dir nur ein. Bald bist du wieder gesund, glaub’ mir.” Und auch Nordamerika ging, gefolgt von Antarktika und Australien, die ihrer Mutter noch traurig „Auf Wiedersehen!” sagten.
Schon beim Gedanken an die Zukunft wich alle Lebensfreude und Energie aus Mutter Erde. Erschöpft legte sie sich hin. Südamerika strich ihr tröstend über die Stirn.
„Alles wird gut, Mutter. Keine Angst.” Und mit diesen Worten gingen auch Europa, Afrika und Südamerika.
„Nichts wird gut werden”, dachte Mutter Erde, und in diesem Augenblick konnte sie nicht mehr verstehen, wieso sie noch vor fünf Minuten voller Hoffnung gewesen war. Sie kannte ihre Kinder. Sie hätte es wissen müssen.
„Ach, wären sie doch nie erwachsen geworden!”, wünschte sie sich. „Früher haben sie mir nie solche Probleme bereitet.”
Mutter Erde fühlte sich schwach und müde. Ganze Wellen der Enttäuschung durchliefen ihren Körper.
„Vielleicht sehen sie ihren Fehler noch rechtzeitig ein”, dachte Mutter Erde, doch sie glaubte es nicht wirklich. Eine schwere Last erdrückte all ihre Hoffnung. Innerlich bereitete sie sich schon auf das Ende vor.
„Was habe ich bei ihrer Erziehung bloß falsch gemacht?”
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