von Melanie Spieß

Seine Worte waren bloße Hülsen. Fetzen. Dahingestreute Elemente ohne Zusammenhang. Was sollte das auch alles noch? Es war vorbei. Vorbei.
Er saß auf der metallen-kühlen Bank der Bushaltestelle. Der Himmel grau, kein blau zu erkennen, undurchsichtig wie Milchglas. In der Ferne hörte er das monotone Rauschen der Autos auf der Schnellstraße. Es hatte zu regnen aufgehört. Die letzten Tropfen sammelten sich auf der Glasoberfläche des modernen Bushäuschens und rannen gemächlich hinunter. Die krächzenden Krähen schienen ihn zu einem letzten Aufbäumen, einem letzten Widerstand ermahnen zu wollen. Aber er hatte beschlossen, aufzugeben.
Seine Worte hatten ihre Bedeutung verloren. Alles, was er, nachdem er es in Gedanken wieder und wieder herumgeschoben hatte, sagte, schien ihm gleich darauf sinnlos. Wenn er den Mund schloss, durch die Nase Luft holte, wurde ihm die Essenzlosigkeit seiner Worte bewusst.
Sie sah ihn nicht mehr an.
Sie hatte gestern überall hin geblickt. Nur nicht zu ihm. Die im Wind schaukelnden Blätter der Kastanienbäume im Park, das vorbeilaufende kleine Mädchen mit den geflochtenen Zöpfen, die auf der Wiese hüpfende Elster. Das alles hatte mehr Aufmerksamkeit von ihr erhalten als er selbst.
Sie wusste es auch.
Sie musste es einfach auch wissen. Dass es vorbei war. Denn es war vorbei. Doch sie sprach es nicht aus. Sie verlor kein einziges Wort darüber. Warum? Es schien ihm als würde ihr die letzte Kraft, das kleine Fünkchen Mut dazu fehlen, auszusprechen, was ihnen beiden bewusst war. Ihm war es jetzt genug. Er wollte endlich aussprechen, was er fühlte. Was er nicht mehr fühlte.
In den kleinen Wasserlachen auf der löchrigen Teerstraße spiegelte sich das Sonnenlicht, das sich nun in einem Strahl zäh durch die Wolkenwand kämpfte. Die gelben Blütenblätter des Löwenzahns, der sich an die Glaswand der Bushaltestelle schmiegte, verloren ihre letzten Wassertropfen. Er schlug die Beine übereinander und fixierte den Horizont. Grünes Nichts, graues Nichts. Der Horizont eine Trennung zwischen Leere und Leere.
Nicht einmal seine Gedanken hatten noch eine Bedeutung. Er wusste, dass das Umherschieben der Gedanken, die ihm wie Kiesel auf einer großen ebenen Spiegelfläche schienen, nutzlos war. Nur die Anordnung der Kiesel konnte er verändern. Verbindung würden sie nie zueinander eingehen.
Er hob den Kopf, als er den Bus kommen hörte. Der Bus blinkte und scherte ein. Hielt direkt vor ihm. Die beiden Türen öffneten sich, eine junge Frau mit einem vielleicht vierjährigen Mädchen an der Hand stieg aus. Leicht schwankend bahnte er sich seinen Weg durch die leeren Sitzreihen, während der Bus anfuhr. Außer ihm gab es keine anderen Fahrgäste. Nur er und der Busfahrer. Monoton lärmend auf dem Weg durch das graue Nichts der Landschaft.
Ihr es einfach an den Kopf knallen. Hart sein. Entschlossenheit zeigen. Auf einmal spürte er eine aufkeimende Wut. Dass es zu Ende war, daran war nichts mehr zu ändern. Er hatte die Aufgabe, es auszusprechen, das war ihm auch bewusst. Aber er fühlte sich verraten. Für sie war die Beziehung genauso zu Ende wie für ihn. Sie wusste genauso wenig noch etwas mit der Zeit, die sie gemeinsam verbrachten, anzufangen wie er. Doch er sollte das Ende aussprechen, es mit seinen Worten zementieren, unwiderruflich machen.
Das grüne und das graue Nichts verschwanden. Die eintönige Landschaft ging in eine Siedlung über, erste neu gebaute Einfamilienhäuser reihten sich am Straßenrand aneinander. Der Himmel war nun zu einer hellblauen Fläche geworden. Durchzogen von weißen Wolkenstriemen. Auf der Fahrbahn zeigten sich nur noch vereinzelt nasse Stellen. Je näher der Busfahrer und er in ihrer beinahe verschwörerischen Einigkeit der Straße der Vorstadtsiedlung, in der sich die nächste Haltestelle befand, kamen, desto ruhiger wurde er.
Wut war sinnlos. Es war aus, vorbei, was sollte Wut daran ändern. Sich Worte, Sätze, Gedanken zurechtzulegen hielt er nun nicht mehr für nötig. Er wusste, was er sagen musste. Wie, das war zweitrangig. Hauptsache, er sagte es. Dass er kein Wort hervorbringen würde, wenn er ihr gegenüberstand, befürchtete er nicht. Eine ungewohnte Sicherheit hatte ihn im Griff und alle Zweifel ausgelöscht.
Der Bus verlangsamte seine Geschwindigkeit. Die Ampel schaltete auf Rot. Am Straßenrand sah er die Bushaltestelle auftauchen. Als der Bus wieder anfuhr, drückte er den Halt-Knopf und stand auf. Wenige Meter Fahrt, der Bus scherte aus, kam zum Stehen, öffnete die hinteren Türen. Er stieg aus. Die Luft, die ihn nun umströmte, erfüllte ihn mit einer seltsamen Euphorie. Es roch nach Regen, nach von der Sonne verdrängtem Regenwetter. Tief atmete er ein. Einmal. Und noch einmal. Er hätte nicht gedacht, dass er sich mit einem vorsichtigen Grinsen im Gesicht auf den Weg zu ihr machen würde. Doch er fühlte sich leicht, seltsam frei. Obwohl doch gar nichts geschehen war. Noch.
Nur noch ein paar Schritte, dachte er. Bis zu dem Reihenhaus ihrer Familie war es nicht mehr weit. Die Bäume am Straßenrand schüttelten die Tropfen von ihren Blättern, sie rieselten neben ihm auf den Fußgängerweg. Er hob den Kragen seines Jacketts an, streifte ihn glatt. Auf der anderen Straßenseite begann die Reihenhaussiedlung. Das dritte Haus war ihres. Er überquerte die kaum befahrene Straße. Der Bürgersteig war nur ein schmaler Streifen. Vor ihrem Haus ein kleiner Garten. Mehr Grasfleck als Garten. Die Steinplatten, die die Stufen zur Haustür hin bildeten, wackelten leicht, als er darüber ging.
Er klingelte. Die ihm bekannte, angenehme Reihenfolge von Tönen drang durch die Tür. Hinter dem Milchglas sah er ihre Gestalt. Sie kam näher. Stand nun direkt hinter der milchigen Scheibe. Und zögerte plötzlich. Als ob sie die Hand schwebend über dem Türgriff halten und darüber nachdenken würde, wer vor der Tür stehen könnte. Das hatte er nicht erwartet. Er wurde unsicher und blickte auf seine Armbanduhr. Es war Sieben. Es war vorbei.


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