– und ich sehe sie noch immer

von Marilena Bollkämper

Sieben Jahre sind vergangen. Sieben Jahre… Ich bin jetzt siebzehn. Ich erinnere mich kaum an unsere gemeinsame Zeit. Ich erinnere mich aber noch an ihr Gesicht. Schließlich bin ich ihr Bruder. Ich weiß noch, dass sie immer Mamas Liebling war. Ich hatte mehr mit Papa zu tun. Sie war Mamas Prinzessin und ich Papas Fußballer. Als die Ehe der beiden wegen ihrem Verschwinden zerbrach, bin ich zu ihm gegangen. Das hat Mama das Herz gebrochen. Ich war jedes Wochenende bei ihr. Was konnte ich denn für sie tun? Papa förderte mich besser. Ich spiele jetzt immerhin in der Jugendmannschaft von Bayern München. Dieses Jahr könnten wir sogar Meister werden! All das verdanke ich ihr. Meiner kleinen Schwester. Sie gibt mir die Kraft dazu. Ich will später einmal erfolgreich werden, um sie zu finden.

Und jetzt stehe ich hier. An einer Haltestange in der U-Bahn und starre dieses Mädchen an. Ihre blauen Augen. Ihre vollen Lippen. Ihre hohe Stirn. Ihre schmale Nase. Ihr blondes, langes Haar. Sie gleicht Mama, wie ein Ei dem anderen gleicht. Ihr Alter würde auch passen. Wahrscheinlich zwei Jahre jünger als ich. Meine Hand ist erstaunlich ruhig. Ich hätte erwartet, dass sie zittert. Ich schüttele mit dem Kopf. Das ist unmöglich. Es gibt über achtzig Millionen Menschen in Deutschland und ich treffe gerade sie in der U-Bahn? Und wie ist das überhaupt möglich? Sie wurde entführt! Als ob sie jetzt einfach so in der U-Bahn sitzen könnte…

Ich senke den Blick schnell, als sie aufsieht. Ich tue so, als ginge ich zum Ausgang, will mich ihr aber nur nähern. Ist das nicht krank? Versuche ihr nahe zu sein. Sie ist es garantiert nicht. Ich glaube doch selbst nicht mehr daran, dass sie noch lebt. Als ob so ein Pädophiler sie hätte leben lassen… Obwohl sie ihr wirklich ähnlich sieht – sehen müsste.

Sie sieht mich wieder an und ich sehe wieder weg. Ich muss gleich aussteigen. Noch drei Stationen. Dann ab zum Stadion und in die Umkleide. Ich bin schon reichlich spät. Ich sehe kurz auf die Uhr. Hab noch eine Stunde Zeit. Bin aber am liebsten zu früh da. Als Mannschaftskapitän muss man vollen Einsatz zeigen. Aber das Mädchen wird mir die Kraft rauben. Ich werde nur an sie denken. Ich darf mich jetzt aber nicht hängen lassen. Ich will doch bekannt werden, um sie suchen zu lassen. Noch zwei Stationen.

Ich sehe, dass das Mädchen zittert. Ich glaube nicht, dass ihr kalt ist. Oben ist es brütend heiß und auch hier ist es warm. Die Klimaanlage scheint nicht zu funktionieren – und das im Sommer. Draußen sind es bestimmt 35° C. Wahrscheinlich fällt das Training also aus. Oder wir gehen in den Fitnessraum. Vielleicht treffen wir da ja die Profimannschaft. Am Ende der Saison werde ich anfangen, mit ihnen zu trainieren. Schon bald werde ich in der Bundesliga spielen können. Ein Lächeln schleicht sich um meine Lippen. Ja, so ist es gut. Nicht an dieses Mädchen denken. Dann wird alles gut.

Aber wenn ihr nicht kalt ist, wieso zittert sie dann? Wieso zittert ein Mensch, wenn nicht, weil ihm kalt ist? Weil er Angst hat? Ist sie möglicherweise doch…? Sie konnte sich von ihrem Entführer befreien und hat sich Geld bei Passanten geschnorrt, um mit der U-Bahn zur nächsten Polizeistation zu fahren, den Wichser anzuzeigen und dann von ihrer Familie in die Arme geschlossen zu werden. Ihren Namen hat sie natürlich all die Jahre wie einen Schatz aufbewahrt. Sie durfte ihn schließlich nicht vergessen. Ich sollte sie ansprechen. Ihr sagen, dass ich ihr Bruder bin und ihr helfen werde, sich in dieser Welt zu Recht zu finden. Immerhin wurde sie zehn lange Jahre lang von ihr entfernt gehalten. Im Grunde ist sie erst fünf. Sie hat sich bisher weder verliebt, noch hat sie einen festen Freundeskreis. Wenn sie mit ihrem ersten Freund zuhause ankommt, werde ich den fiesen Bruder spielen, der irgendwelche Geschichten aus unserer gemeinsamen Kindheit erzählt. Und dann werde ich mit Papa ihren Freund auf die Probe stellen. Ob er für sie gut ist. Wenn sie reden will, werde ich natürlich immer für sie da sein. Sie wird mir alles erzählen können. Ich werde niemals jemandem etwas erzählen. Und wenn sie dann ihre Freundinnen einlädt, werde ich der süße Bruder sein, in den sie sich alle verlieben, weil er ja beim FC spielt. Er kennt ja auch Leute wie Schweinsteiger, Kahn oder – für die Mädels wesentlich wichtiger – Podolski. Ich wäre doch der perfekte große Bruder.

Noch eine Station. Das Mädchen zittert immer noch. Soll ich sie jetzt ansprechen oder nicht? Vielleicht ist sie es ja auch nicht. Aber ich muss es doch wenigstens versuchen…

Neben ihr sitzt ein Mann. Er hat sie im Auge. Sie scheinen sich zu kennen. Ist das etwa wie in dem Fall von Natasha Kampusch? Ich erinnere mich sehr gut an den Fall. Er hat mir neue Hoffnung gegeben, sie könne noch leben. Der Typ hat sie auch mit zum Einkaufen genommen. Aber wäre das nicht verrückt? Mit dem entführten Kind in der Stadt einzukaufen, in der die Familie lebt? Obwohl… er kann es ja nicht wissen. Papa und ich zogen erst vor sechs Jahren hierher. Direkt nach der Scheidung. Er kann es wirklich nicht wissen. Die Polizei rief auch immer zuerst bei Mama in Würzburg an. Mittlerweile hören wir nichts mehr von ihnen.

„Nadja!”, möchte ich schreien und sie soll aufsehen und mich anlächeln und sagen: „Bruder, ich habe gehofft, dass du mich ansprichst. Er hält mich gefangen. Er ist es! Er hat mich entführt, als ich acht Jahre alt war!” Und ich würde meine Tasche fallen lassen und mir den Typen vorknöpfen. Die anderen Männer im Abteil würden den Freak auch beschimpfen. Wahrscheinlich würde ein Großteil mir sogar helfen, ihn fertig zu machen. Und die Frauen würden sich um sie kümmern und ihr sagen, dass sie keine Angst zu haben braucht und dass sich ihr großer Bruder um alles kümmern würde. Aber ich schreie nicht ihren Namen.

Die U-Bahn hält. Ich steige aus, werfe einen letzten Blick auf das Mädchen, das Mama so ähnlich sieht. Das ihr so ähnlich sehen würde. Ich gehe die Treppe hoch in die Hitze und blinzele ein paar Mal, bis sich meine Augen an die Helligkeit hier oben gewöhnt haben. Ich stecke die Hände in die Taschen des Trainingsanzuges und spüre sofort die Blicke der Mädchen um mich herum. Das Logo des Vereins prangt auf meiner Brust. Außerdem liegt das Stadion nicht sehr weit entfernt. Ich mag es, wenn wir im Stadion trainieren. Man kann immer irgendwelche Mädchen kennen lernen. Eine Abfuhr habe ich mir hier noch nie geholt. Das Vereinslogo macht auf mich aufmerksam, mein Aussehen erledigt den Rest. Aber jetzt interessiert mich das nicht. Ich habe nur Gedanken für das Mädchen übrig. Ich renne sogar ein Mädchen um, ohne es zu registrieren. Mein Blick ist auf den Boden geheftet und ich sehe das Kopfsteinpflaster an mir vorbei ziehen. Wenn sie es nun doch war…

Am Abend klingelt das Telefon. Es ist Mama. Sie sagt, die Polizei wäre bei ihr. Es sehe so aus, als habe man die Leiche meiner kleinen Schwester gefunden.


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