von Janina Gantzert
Einen kurzen Moment lang glaubte Kennish, draußen sei endlich ein schöner Tag angebrochen, denn ein verirrter Sonnenstrahl streifte seine geschlossenen Augen. Doch als er im Aufwachen das gleichförmige Rauschen der Regentropfen vernahm wusste er, dass dies wohl der letzte für heute gewesen sein musste. Enttäuscht stand er auf und schloss den Fensterladen, um sich dann auf den Weg ins Bad zu machen. Schmerzhaft donnerte er mit dem Fuß an irgendeine Kante im Flur, konnte aber nicht erkennen, was genau es war, denn seit vielen Tagen schon hatte seine Wohnung kein Licht mehr gesehen. Einzig im Schlafzimmer war die Nacht über der Laden geöffnet, sodass er mit der Dämmerung erwachte. Als er bald darauf in das diesige Wohnzimmer trat, traf ihn fast der Schlag. Sein Herz verkrampfte sich und er wünschte sich, ohnmächtig zu werden, was ihm aber verwährt blieb. Eine frische, rote Rose stand in seiner guten Kristallvase auf dem Tisch und er schritt langsam näher um zu begreifen, was das alles zu bedeuten hatte.
Unauffällig versuchte Thomas, sich die Krawatte zurecht zu rücken. Leise räusperte sich der Mittfünfziger und hielt den Griff seiner Aktentasche noch ein wenig fester. Seine Frau sollte nicht bemerken, dass er nicht nur im Büro gewesen war, aber glücklicherweise trug Arne weder Lippenstift noch Frauenparfum noch sonst etwas, das an eine geheime Affäre im klassischen Sinne erinnern konnte. Seit sie sich vor genau einem Monat und 3 Wochen kennen gelernt hatten wusste Thomas endlich, was er wirklich wollte. Nur seiner Frau konnte er das nicht erzählen – die Scheidung würde zu teuer und der Rosenkrieg einfach zu nervenaufreibend werden. Also würde er weiter spielen, bis es nicht mehr anders ging. Er streckte die Hand mit dem Haustürschlüssel gerade aus, als ihn von hinten ein stumpfer Schlag in den Rücken traf. Er verstand kaum, was mit ihm geschah und glaubte noch, dass ihn vielleicht jemand mit einem etwas zu fest geratenen Schulterklopfen begrüßen wollte, als sein Körper bereits kraftlos in die Knie sackte. Erst, als sein Gesicht den Boden erreicht hatte, spürte er den unerträglichen Schmerz brennend heiß durch seinen gesamten Körper pulsieren. Von der Axt in seinem Rücken würde er selbst niemals mehr etwas erfahren, denn die Ohnmacht hatte ein Erbarmen mit ihm und schloss den Sterbenden sanft in ihre Arme.
Verwirrt wachte Kennish mit dem ersten Vogelgezwitscher auf. Seine Träume waren wirr gewesen und anstrengend. Er war froh, endlich wieder bei klarem Verstand zu sein, aber ein Stück der Traumwelt hielt sich noch in seinem Hirn fest, wie der Schlaf morgens eine Weile brauchte, um völlig aus den Augen gewischt zu werden. Vielleicht würde eine erfrischende Dusche ihm erstmal damit helfen. Auf alle Fälle würde sie seinen Angstschweiß, der inzwischen schon teilweise getrocknet, auf jeden Fall aber abgekühlt war, abwaschen. Doch vorher wollte er noch kurz etwas nachsehen und so ging er wieder durch das Halbdunkel ins Wohnzimmer. Er war traurig. So schlecht konnte doch ein Tag nicht beginnen! Denn schon wieder stand eine frische, rote Rose in seiner Vase und Kennish wusste, was das zu bedeuten hatte. Auch Morgen würde er nicht entspannt von einer geruhsamen Nacht aufstehen können… Aber es gab schließlich noch mehr zu tun als sich um sich selbst Sorgen zu machen. Er musste sich jetzt um Wichtigeres kümmern und so stieg er erstmal in die Duschwanne.
John trat kurz vor die Tür. Im Club war es schrecklich verraucht und sein Handy schien geklingelt zu haben. An der frischen Luft zog er es aus der Hosentasche und blickte auf das Display. Eine SMS war eingegangen von einem Mädel, mit der er vor ein paar Wochen mal was gehabt hatte. Bei seinem Glück konnte er sich jetzt schon denken, was in der Nachricht stehen würde… Seit etwa einem Jahr hatte in der Regel alle acht Wochen einer seiner One-Night-Stands ihn mit der unangenehmen Wahrheit konfrontiert, aber er hatte nun mal was gegen Kondome und wenn die Frauen ihre Pille vergaßen, war das nicht sein Problem. Zum Glück hatte keines der Mädels das Kind behalten wollen und jetzt hoffte der Playboy inständig, dass es auch bei ihr so werden würde. Während er noch die ersten Zeilen der Kurznachricht studierte, was mit ein paar Vodka-Energy nicht mehr ganz so einfach wie gedacht war, hörte er hinter sich die Tür schwer ins Schloss fallen. Normalerweise stand sie immer ein Stück offen, damit man jederzeit problemlos rein und raus gehen konnte. Wenn sie jetzt fest zu war, konnte John sie von Außen nicht mehr öffnen und so würde er ein Mal um den gesamten Club herum gehen müssen. Das ärgerte ihn zwar, aber es war nichts im Vergleich zu dem, was sich plötzlich mit ihm abspielte. Denn von Hinten, aus dem Dunkel, wo er keine Menschenseele erwartet hätte, wurde ihm plötzlich ein Sack über den Kopf gezogen. Der raue Stoff kratze im Gesicht und dann wurde zu allem Übel auch noch ein Seil um seinen Hals gezogen. Er verstand nicht, was das alles sollte, denn seine Familie hatte nie viel Geld gehabt und ein Überfall würde doch vermutlich auch einfacher zu organisieren sein. Sein Herz jedenfalls pochte ihm laut in den Ohren und die Gedanken rasten wild durch seinen Schädel, ohne an einem sinnvollen Ziel anzukommen. Und dann krachte es auf ihn hernieder. Was genau es war wusste er nicht, aber er vermutete, dass ihm jemand mit dem Basie eine Lektion erteilen wollte. Mehr vor Angst als vor tatsächlichem Schmerz fing er lauthals zu brüllen an, was seinem Angreifer offensichtlich nicht gefiel. Immer fester drosch er auf ihn ein, bis John einen spitzen Schrei fahren lies als seine Nase brach. Spätestens jetzt wusste er, dass es keinen Ausweg mehr geben, und er vermutlich nichts mehr erleben würde außer diesem Sack über seinem Gesicht. Und tatsächlich traf ihn in der Sekunde, in der er verstand, dass er sterben würde, ein derber Schlag an der Schläfe. Und sofort gingen für das Opfer alle Lichter für immer aus.
Kennish biss sich fest auf die Lippe, als die Tür hinter ihm ins Schloss fiel. Schon wieder hatte eine rote Rose in seinem Wohnzimmer gestanden und obwohl der Schmerz in seinem Kopf noch immer nicht ganz abgeklungen war, seine Augen immer noch brannten und ihm der Mund wie mit Sand gespült erschien, musste er los. Er konnte nicht einfach blau machen, das wusste er. Vor allem kannte er die Strafe, die ihn dafür erwarten würde, und so viel wollte er nicht riskieren, nur weil er lieber zu Hause geblieben wäre. Also löste er seine leicht blutige Lippe wieder aus ihrer heftigen Umklammerung. Nutzte ja eh nichts.
Chantal konnte es nicht fassen. Schon wieder klingelte ihr Handy. Normalerweise liebte sie dieses schicke, silberne Teil ja über alles, aber heute raubte es ihr den letzten Nerv. Die Agentur saß ihr im Nacken und wie eine Wilde raste sie schon den ganzen Vormittag durch die Stadt. Dieser Verkehr war ja aber auch unerträglich. Über fünf Kreuzungen war sie noch gerade so bei dem, was man im Allgemeinen als Dunkelorange bezeichnet rübergehuscht, bei der letzten hatte sie jetzt aber zu allem Überfluss auch noch das Pech gehabt, an einen scharfen Starenkasten zu gelangen. Ändern ließ sich das jetzt ohnehin nicht mehr und wenn sie es noch rechtzeitig zum Termin schaffte, dann wäre damit jedes Bußgeld bezahlt. Sie griff nach ihrem Mobiltelefon und sah gerade noch, wie auch diese Ampel vor ihr auf Gelb umschaltete. Das konnte sie sich jetzt nicht leisten, soviel war klar. Also trat sie statt auf das mittlere einfach noch mal kurz auf das rechte Pedal. In dem Moment, in dem ihr Chef sie am Telefon begrüßen wollte, blickte Chantal kurz zur Seite, ihre Pupillen verengten sich bis auf zwei winzige Punkte und sowohl ihr Herz als auch ihr Atem hielten einen Moment lang an. Dann raste der Lastwagen mit einem markerschütternden Lärm aus Krachen, panischen Schreien und dem Kreischen verbiegenden Metalls ungebremst in die Seite des teuren Leasingwagens.
Die Fahrerin hatte keinerlei Überlebenschancen und der Unfallfahrer des LKW flüchtete sofort nachdem sein Gefährt zum Halten gekommen war und verschwand unerkannt in der nächsten Seitenstraße.
Heute war Kennish schon viel früher zu Hause, als er gedacht hätte, aber diese ungewohnte Freiheit konnte er nicht richtig genießen. Statt an seiner Aufgabe zu arbeiten, musste er nun untätig im Halbdunkel sitzen und die Gedanken in seinem Kopf kreisten umeinander und verknoteten sich irgendwo in seinen Hirnwindungen zu unlösbaren Rätseln. Er wusste genau, dass es erst Morgen wieder weitergehen konnte, aber schon jetzt fürchtete er den Moment, wenn er die Rose berührte. Es war nur halb so schlimm, sie am Morgen zu entdecken und abends wieder nach Hause zu kommen, aber diese wenigen Sekunden der Berührung quälten ihn so sehr, dass er sie am liebsten unterlassen hätte. Und auch, als er nach unzähligen zähen Stunden, die er starr auf dem harten Holzstuhl gesessen hatte, aufstand, den Laden öffnete und sich ins Bett legte, hoffte er darauf, vielleicht wirklich einen Tag frei zu bekommen. Doch schon beim Aufwachen am nächsten Morgen wusste er, dass seine Hoffnung unerfüllt bleiben würde.
Eigentlich war es noch etwas zu früh, um sich einer solch zwielichtigen Gegend herumzutreiben, aber heute war das egal. Endlich hatte Mark es seinem Chef gezeigt und die Gehaltserhöhung erhalten! Und das musste gefeiert werden. Also tat er genau dasselbe, was er jetzt seit fast einer Woche getan hatte und besuchte seinen Lieblingsort der ganzen Stadt. Die Mädchen waren alle samt jung, hübsch und nicht allzu teuer. Als er nach einem letzten verstohlenen Blick in die schwere Tür eintrat, begrüßte eine von ihnen ihn bereits mit einem freundlichen Lächeln. Jetzt wusste er, dass der Abend vollends anregend und entspannend werden würde.
Es war spät geworden und er hatte heute nicht nur ein neues Mädchen gehabt, sondern dazu auch noch einige Drinks. Absolut zufrieden trat er aus der Tür in die kalte Nacht hinaus und machte einige Schritte vom Bordell weg. Während er bei dem Gedanken daran, jetzt seit genau einer Woche jeden Tag hier gewesen zu sein, leise kichern musste und noch lange bevor er verstanden hätte, dass man ihn jetzt weder vom Bordell noch von der belebten Straße aus sehen konnte, spürte er kaltes Metall an seiner Kehle. Der Schmerz fühlte sich wie brennendes Eis an, als das Messer seinen Hals in nur einem Wimpernschlag zerschnitt. Er versuchte, zu schreien, doch brachte keinen anderen Laut hervor als ein schockierendes und ekelhaftes Röcheln, und das Blubbern seines eigenen Blutes. Er bekam keine Luft mehr und in seiner blanken Panik, in die er natürlich verfiel, und die ihn hätte herumrennen lassen wie ein kopfloses Huhn, wenn er nicht zu Boden gegangen wäre, hörte er nicht die Würgegeräusche hinter sich. Dieses unerträgliche Röcheln und Blubbern war zu viel für den Angreifer, der noch immer im Schatten verborgen war, und so rammte er endlich seinem knienden Opfer das Messer von Hinten so in den Rücken, dass er hoffte, das Herz treffen und dem Ganzen ein Ende setzten zu können. Dann rannte er stumm in die Dunkelheit.
Nass geschwitzt und ziemlich durch den Wind war Kennish am Vorabend gewesen, als er nach Hause gekommen war. Und noch immer jagten ihn die Eindrücke der letzten Nacht. Er wollte das alles nicht mehr, er ertrug kaum den Gedanken, jetzt aufzustehen und wieder eine rote Rose finden zu müssen. Er wusste, dass er es tun musste, aber momentan fehlte ihm einfach die Kraft und so blieb er, obwohl die Dämmerung langsam weiter fortschritt, im Bett liegen und sah aus dem Fenster. Doch nachdem er kurz geblinzelt hatte kam prompt seine Bestrafung. Er wollte die Augen wieder schließen, doch die grässlichen Fratzen verfolgten ihn weiter. Er sah tausende Teufel um sich tanzen und er hörte die Stimmen der gefallenen Engel, die ihn zu sich riefen, dort hin, wo er hingehörte. Schließlich trat einer von ihnen direkt in sein Blickfeld und sprach ihn mit ruhiger, aber bedrohlicher Stimme an: „Ich weiß, dass du Angst hast, Kennish. Du denkst, du verlierst langsam deinen Verstand. Versuche gar nicht erst, es zu leugnen. Wir kennen dich, deine Gedanken sind für uns ein offenes Buch. Aber du kannst und du darfst jetzt nicht mehr aufgeben. Du hast eine Aufgabe bekommen und du wirst sie erfüllen. Denn du weißt, dass sonst etwas auf dich wartet, das schlimmer sein wird als der Tod!” Mit dem Klang dieser Worte waren plötzlich auch alle Bilder um ihn herum verschwunden und Kennish realisierte, dass er sich so sehr an seinem eigenen Gesicht festgekrallt hatte, dass er nun schmerzhafte kleine Wunden davongetragen haben musste. Erschrocken riss er die Augen auf und starrte aus dem Fenster in die trostlose Dämmerung. Nichts erinnerte mehr an die gefallenen Engel, die ihn besucht hatten, aber er wusste, dass sie zu ihm gesprochen hatten und auch, dass die letzte Drohung mehr war als nur ein Satz. Es war die reine Wahrheit. Und so tat er, wie ihm geheißen war und stand endlich auf.
Sie wusste noch genau, wie es gewesen war, als sie damals den Teststreifen mit ins Bad genommen und dann eine halbe Ewigkeit auf das Ergebnis gezittert hatte. Und bis Heute hatte sie nicht den blassesten Schimmer, wer mit ihr verantwortlich für dieses Ding war, das in ziemlich genau zwei Monaten aus ihr heraus kriechen würde. Sie hatte kein Kind gewollt. Aber für eine Abtreibung war es zu spät gewesen. Und wenn sie jetzt wenigstens ein bisschen Glück hatte und einer der Typen, von denen sie die Telefonnummer oder zumindest den Namen noch hatte, der Vater war, dann hatte sie zumindest finanziell fürs Erste ausgesorgt. Sollte es aber einer von denen sein, bei denen sie sich kaum noch an den Vornamen erinnerte, dann würde sie das Kind höchstwahrscheinlich zur Adoption freigeben. Aber bevor diese Entscheidung anstand, konnte sie ihr Leben noch ein wenig genießen. Alkohol war zwar tabu, denn soviel wusste Steffi, dass sie kein behindertes Kind wie dieses englische Busenwunder bekommen wollte, aber ein wenig feiern konnte nicht schaden. Und so stand sie jetzt bauchfrei im Club und genoss die Blicke der anderen. Sicherlich waren auch einige verächtliche darunter, aber sie wusste, dass man auch mit Babybauch sexy sein konnte und selbst, wenn sie in letzter Zeit deutlich weniger Typen abschleppte, so kam sie doch noch auf einen recht ansehnlichen Durchschnitt. Sie griff nach ihrer Cola, die sie einen Moment hinter sich auf dem Tisch abgestellt hatte, und nahm einen herzhaften Schluck daraus. Dann kramte sie in der Handtasche. Sie hatte das Rauchen zwar nicht aufgegeben, aber deutlich eingeschränkt und so war ihr Päckchen jetzt noch fast voll. Doch als sie die Zigarette in der Hand hielt, spürte sie plötzlich ihre Finger nicht mehr und musste tatenlos zusehen, wie ihre Hand von einem heftigen Zittern so lange geschüttelt wurde, bis auch die Zigarette zu Boden ging. Sie griff sich selbst ans Handgelenk und versuchte, sich wieder zu beruhigen, aber das Taubheitsgefühl breitete sich binnen weniger Sekunden auf ihren gesamten Körper aus und hilflos stürzte sie zu Boden. Dann begannen die Krämpfe. Eine immer größer werdende Menschentraube sammelte sich um sie, doch Steffi erkannte die Leute nur noch verschwommen, bis sich ihre Augen ganz in die Höhlen drehten und ihre Atmung komplett aussetzte.
Das war nicht fair gewesen, da war Kennish sich relativ sicher. Die Mutter vielleicht, aber wie konnten sie das arme Kind einfach sterben lassen? Enttäuscht wand er sich vom Fernseher ab. Jetzt wusste er wieder, warum er selbst keinen besaß und nur ab und an vor einem Schaufenster in die Röhren blickte. Schweren Herzens ging er wieder nach Hause, schließlich war es auch schon spät genug und er würde am nächsten Morgen wieder früh aufstehen müssen.
Die Nacht war etwas zu kurz gewesen, das sah er sich selbst im Badezimmerspiegel an. Als er endlich soweit war und sich zumindest geistig auf das vorbereitet hatte, was jetzt kommen würde, trat er ins Wohnzimmer und griff entschlossen an die frische rote Rose. Sofort durchzuckte ihn dieser grausame Blitz und Kennish sackte auf die Knie. Er sah einen Mann, dessen Gesicht er kaum erkennen konnte, der aber sehr müde wirkte. Er wollte scheinbar ein wenig Luft schnappen, denn er trat auf einen kleinen Balkon und atmete tief ein und aus. Und genau in dem Moment, in dem er sich wieder umwenden und gehen wollte, da erschienen vor Kennishs Augen zwei Hände und mit einem unvermittelten und harten Stoß beförderten sie den Unbekannten schnell über das Geländer. Kennish wusste, dass der Mann nun tot war, dazu musste er nicht den zerschmetterten Leib auf dem harten Asphalt sehen können.
Die Vision war vorüber und ächzend erhob sich der junge Mann wieder. Sein Schädel dröhnte und die Tränen standen ihm brennend in den Augen. Er schüttelte sich im verzweifelten Versuch, das Gesehene zu vergessen, und weit von sich zu schieben, aber es nutzte ohnehin nichts. Also schlurfte er unter Schmerzen aus dem Raum, zurück ins Bad, um sich noch mal mit kaltem Wasser im Gesicht abzulenken.
Die Arbeit im Krankenhaus war wirklich mehr als anstrengend und schon jetzt freute sich Manuel darauf, irgendwann seine eigene Praxis eröffnen zu können. In zwei Stunden würde er genau drei Tage ununterbrochen auf den Beinen sein und er spürte jede Sekunde bis in die Knochen hinein. Er war erleichtert, seine Schicht endlich geschafft zu haben, und wollte nur noch schnell ein wenig Luft schnappen, bevor er sich mit dem Auto auf den Heimweg machte, um endlich zu ein bisschen Schlaf zu kommen. Einen Schritt machte er auf den kleinen Balkon neben dem Schwesternzimmer und sog den Sauerstoff mit aller Kraft in seine Lungen. Gerade als er sich umdrehen und wieder zurückgehen wollte, spürte er einen derben Stoß. Er hatte nicht bemerkt, dass ihm jemand gefolgt war, aber jetzt geriet er ins Straucheln. Er versuchte noch panisch, sich am Geländer zu halten, aber sein ausgezehrter und übermüdeter Körper war einfach zu schwach. Das Kribbeln im Bauch dauerte nur wenige Augenblicke, dann spürte der junge Arzt nichts mehr, denn sein Körper lag zertrümmert auf dem Krankenhausparkplatz.
Die Tränen auf seinen Wangen waren über Nacht getrocknet. Aber noch immer spürte Kennish die geschwollenen Augen und die verkrusteten Stellen, auf denen die salzige Flüssigkeit getrocknet war. Er wusste, dass es sehr früh sein musste. Das konnte er an den Vögeln, die gerade ihr Lied trällerten, erkennen. Er schlug die Augen auf und die Schönheit des neuen Morgens traf ihn wie ein Schlag. Sein Innerstes wurde bewegt von dem Anblick, der sich ihm bot und er war sich absolut sicher, dass dies einer der schönsten Tage der letzten Wochen werden würde. Und so stand Kennish schon beinahe beschwingt auf und sein erster Weg führte ihn ins Wohnzimmer. Wenn er schon wieder eine Vision haben und so sehr leiden müsste, dann wollte er wenigstens Heute danach noch mal richtig regenerieren und eine entspannende Dusche nehmen können. Ein leichtes Lächeln ob der Schönheit des Morgens lag noch auf seinen Lippen, doch als er ins Halbdunkel des Wohnzimmers trat, fiel jegliche Emotion aus seinem Gesicht. Die Schultern ließ er kraftlos hängen und ohne Ausdruck blickten seine Augen auf die Rose, die wie jeden Tag in der Kristallvase thronte. Tiefschwarz stand sie in voller Blüte und Kennish wusste, was dieses Zeichen bedeutete, ohne die Rose berühren zu müssen. Also ging er mit leerem Kopf und leerem Herzen hinüber ins Badezimmer. Er griff in die unterste Schublade seines Schrankes, zog etwas kleines Schwarzes heraus und setzte sich auf den Toilettendeckel. Er wollte es nicht, aber er musste es tun.
Der Schuss peitschte einsam durch die Stille der Dämmerung. Ein Fenster barst und ein lebloser Leib fiel vornüber, von einem billigen Toilettensitz hinunter, auf den fleckigen Boden. Kennish war endlich erlöst.
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