von Wildis Streng

Eigentlich war es lächerlich. So zu tun, als würden sie sich nicht kennen. Das stimmte einfach nicht. Sie kannte ihn. Mindestens so gut, wie sie die Bäckersfrau kannte, die ihr jeden Morgen um zehn vor Sieben ihr Frühstücks-Croissant verkaufte. Er war nämlich jeden Tag da. Jeden Tag hockte er vor der Drogerie, in diese karierte Decke gehüllt, und starrte den ganzen Tag vor sich hin. Um fünf nach Sieben kam sie immer bei ihm vorbei und warf das Croissant-Wechselgeld in seinen Pappbecher. Er dankte nie. Nicht, dass er das müsste. Nicht wegen der lausigen vierzig Cent. Aber er könnte ja. Also, sie an seiner Stelle würde. Aber er starrte immer nur vor sich hin, immer mit demselben, beinah stupiden Gesichtsausdruck. Ob er verrückt war? Niemals hatte sie bisher auch nur die kleinste Gefühlsregung an ihm erkennen können. Na ja. Bei so einem Leben konnte man ja auch durchdrehen. Obwohl. Bedanken könnte er sich trotzdem. Sie stieg aus der Tram. Es war drei nach Sieben. Gleich müsste sie wieder an ihm vorbei. Sie würde ihm heute nichts geben. Ha. Das hatte er nun davon. Bedanken könnte er sich ja wenigstens. Sie sah ihn schon sitzen. Gleich musste sie an ihm vorbei. Er trug wieder seine schmutzige, graubraune Jacke, die ihm zu klein war. Er tat ihr schon irgendwie Leid. Sie war jetzt auf seiner Höhe. Sie blieb stehen und schaute ihn an. „Guten Morgen”, sagte sie. Er hob den Kopf und lächelte.


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