von Hans-Joachim Heider

„Deine Freundin besucht uns für zwei Monate”, sagte Melissa ihrem Sohn am Frühstückstisch. Simon wusste, wer gemeint war. „Seine Freundin” war das Mädchen, das über eine Zeitspanne von zwei Jahren in sein Fotoalbum eingeklebt worden war. Sieben Bilder einer knabenhaft anmutenden Fee, die innerhalb dieses Zeitraums kaum körperliche Veränderung gezeigt hatte. Simon war am Ende dieser Zeit ein breitschultriger Junge gewesen, der alle anderen Neunjährigen überragte.

Nach angedeutetem Kopfnicken zog sich Simon mit der Coolness eines frühreifen Jungen in sein Zimmer zurück, wo er auf sein Bett sank. Seit einem halben Jahr war er vom Schulsport befreit, weil sich sein Körper zu rasantem Wachstum entschlossen hatte. Sein Herz hüpfte gelegentlich wie ein übermütiges Fohlen durch seinen Schwimmerbrustkorb, – so auch jetzt, als er mit kontrollierter Atmung seinem Jubel Zügel anlegte. Jeden Atemzug hauchte er mit „Tanja” aus.

Sieben Jahre lang hatte Simon seine Mutter über Tanja ausgefragt. Er wusste fast so viel über sie, wie Melissa selbst. Melissa und Tanja waren sich auf dem Klinikgelände begegnet. – Melissa war schon damals die groß gewachsene, charismatische Frau gewesen, die mit einer einzigen energischen Kopfbewegung einen Saal zum Schweigen bringen konnte, – auch einen Hörsaal voller Frauen. In ihrer Mittagspause, auf dem Weg zur Mensa, war ihr das zarte, feengleiche Mädchen aufgefallen. Tanja war wie ein verirrtes Irrlicht zwischen der Inneren und der Nuklearmedizin geschwebt.

Melissas „Kann ich dir helfen?”, schuf eine Freundschaft, die zwei Jahre lang als ein Meteoritenschauer kindlicher Wünsche glühte. Danach durfte Simon sieben Jahre lang sonntags, am Telefon, ihrer Stimme lauschen. Tanja hatte ein Stipendium für die Harvard Medical School erhalten.

Die Eltern waren bei der Arbeit. Tanja kam montags, kurz nach Sonnenaufgang, mit einem roten Golf angefahren. Ihr schwarzes Haar glänzte, in der Mitte gescheitelt, über dem Wagendach. Sie zerrte eine große Reisetasche von der Rückbank. Simon wagte nicht, zum Wagen zu rennen, um sie zu begrüßen. Er beobachtete angespannt, wie sie sich abmühte, sich langsam aufrichtete und zum Haus hinüberschaute. Simon dachte an Arwen, die schöne Elbin aus „Der Herr der Ringe”. Unsicher tappte er einen Schritt ins Dunkel zurück, denn ihr Blick hatte sein Fenster getroffen. Mit kontrolliertem Atem sicherte Simon die Standfestigkeit seiner Beine. Er schämte sich seiner momentanen Schonung.

Tanja stellte die Tasche auf den Weg, als sie bemerkte, dass sich die Haustür öffnete. Simon schlenderte ihr cool über den Gartenweg entgegen. Sie verharrte unsicher, bis der Freudenschrei „Simon” aus ihrem Mund brach. Er lächelte. Sie flog ihm entgegen. Das lange Haar schwebte hinter dem Kopf. Die geschwungenen Brauen, das dunkle Augenstrahlen, die halb geöffneten Lippen ihres Lächelns erfasste er wie ein Buchhalter der Vergangenheit. Ihre Sandaletten huschten über den Boden, das Kleid wehte wie Frühlingswind zwischen ihren Schenkeln. Mit entkräfteter Stimme rief er: „Tanja!” Dem sportlichen Hüpfen ihrer Brüste konnte Simon keine Coolness entgegensetzen. Sein Herz raste, der Boden rutschte unter seinen Füssen, aber sie fing seinen Sturz auf. Der Junge von beinahe einem Meter neunzig, hing an der schlanken Frau. Ihren dünnen Nasenrücken streifte sein Kinn.

„Was ist?”, flüsterte sie ängstlich.

Simon spürte, wie ihre Kraft in seinen Körper strömte, und schämte sich seiner Schwäche. Seine Nase filterte den warmen Dunst ihres Haars. Er schämte sich seiner Hände, die über ihren Rücken streichelten, um zu prüfen, ob sie wirklich keinen BH trug. Sein Herz schmerzte durch den weichen Druck, mit dem sich ihr Busen unter seine Brust schmiegte.

„Ich habe Herzflimmern”, sagte er fast atemlos. „Ich wachse zu schnell.”

„Du bist ein großer Junge geworden. Ich hätte dich fast nicht wiedererkannt.”

Mit dem rechten Arm drückte sie ihn weiter an sich. Sein Kopf sank auf ihre linke Schulter. Ihre linke Hand huschte durch seinen widerspenstigen Blondschopf. Sie schloss die Augen, um sich an den kindlichen Brodem zu erinnern, den sie zwei Jahre wie eine Glücksdroge aufgesogen hatte. Sein Haar trug Spuren dieses Andenkens. Seine Nase schnappte nach der schweißfeuchten Erinnerung, die ihr erhobener Arm preisgab.

„Ich hätte dich überall erkannt.”

Tanja lachte: „Habe ich mich so wenig verändert?”

„Du bist eine Andere geworden und bist dieselbe. Du bist schöner. Dein Lächeln ist freier. Dein Körper ist sanfter. Deine Stimme ist reifer. Du bist noch immer mein alter Traum”, flüsterte Simon.

„Schmeichler!”, lachte sie. „So darf man nicht mit einer jungen Frau sprechen.”

„Ich darf dir nicht beim Tragen helfen.”

„Ich bin stärker geworden”, sagte sie.

Tanja trug zuerst die schwere Tasche und später zwei Koffer ins Haus. Simon führte sie in ihr altes Zimmer im oberen Stock, das für die folgenden zwei Monate ihr Reich sein sollte. Tanja war dankbar, dass Simon ihr nicht helfen konnte, denn so erlebte sie die Rückkehr in ihre Jugend in drei Etappen. Sie hatte sieben Jahre lang die Vergangenheit geträumt. Die Begegnung mit Melissa hatte ihr Leben gefestigt und auf die richtige Bahn gestellt. Tanja war die jüngste Studentin an der Uni gewesen, weil sie zwei Schulklassen übersprungen hatte. Ihr Körper war lange Zeit ihrer geistigen Reifung hinterhergehinkt. Sie war eine Ausgeschlossene unter Studenten, welche eine grobere Lebensweise pflegten. Die Abteilungsärztin Melissa de Brabant war Tanja bereits bei der Einführungsvorlesung aufgefallen. Jeder Medizinstudent kannte sie, jeder wusste, dass sie einen Sohn hat. Sie hielt gelegentlich Vorlesungen, bei denen immer Gedränge herrschte. Durch Melissa war Tanja unwiderruflich in den Olymp hochgezogen worden. Dr. Melissa und Dr. Thilo de Brabant waren ihre Freunde geworden und natürlich Simon, den sie in ihrer Erinnerung wie einen Rubinring der Vorväter polierte. Jetzt, wo sie ihn als jungen Mann wiedergefunden hatte, brannte in Tanjas Brustkorb eine namenlose Sehnsucht.

Tanja schaute sich flüchtig im Vorgarten um, nach den Bäumen und Sträuchern, die groß und üppig waren. Eine Eiche fehlte, die wahrscheinlich zu gewaltig geworden war und das andere Grün erstickt hätte. Das Haus hatte seine Farbe gewechselt, die Klappläden waren dunkelblau. „Simon hat sich noch mehr verändert als die Sträucher”, dachte sie. Der Geruch des Hauses war unverändert, wenn sie Schattierungen von Küchendunst ignorierte.

Tanja atmete befreit, als sie unten an der Holzstiege stand.

„Ist die Treppe steiler geworden?”, rief sie zu Simon hoch, der lächelnd herabschaute.

„Extra für dich gemacht. Letzte Woche war hier noch gar keine Treppe!”

„Scherzkeks!”

Die steile Treppe verdoppelte das Gewicht der Tasche von Stufe zu Stufe. Melissas Atem schwoll an und war am Ende der Treppe Keuchen. Oben hatte sie die atemlose Empfindung von verdünnter Luft. Simon hielt die Tür auf und sie schnaubte in ihr Zimmer, wo die Tasche vors Bett klatschte.

„Die Treppen strengen an”, keuchte sie.

„Ich würde dir gern helfen, aber ich darf nicht.”

Simon umarmte sie. Tanja schnaubte an seinen Hals und schob mit wilder Kraft ihren Busen an seinen Körper. Er streichelte ihren Rücken. Seine Finger folgten ihrem Rückgrad das zwischen starke Muskelstränge eingebettet war.

Sie berührte seinen Hals mit den Lippen. „Deine Umarmung baut mich auf.”

„Ich habe mich immer gefragt, wie es wäre, wenn ich dich umarmen könnte.”

„Ist es so, wie du es dir vorgestellt hast?”, wollte sie wissen.

Er streichelte mit der rechten Hand über ihre linke Brust. „Diese Vollkommenheit kann man sich nicht erträumen.”

Tanja überlegte, wie sie diese Umarmung empfand. Die Kinderhände waren zärtlich gewesen, aber nie erregend – Körperwärme hatte nicht gebrannt – der Wunsch nach mehr war beherrschbar gewesen. „Es ist schön, dich in den Armen zu halten”, hauchte sie aus beruhigten Lungen. Sie ließ ihn stehen und ging zum Wagen, einen Koffer zu holen.

Mit dem letzten Koffer trug Tanja eine Last voller Sehnsucht, die nicht mehr namenlos war. Die zweite Umarmung im Zimmer hatte eine verborgene Schicht aufgekratzt. Sie versuchte sich zu schämen, als sie am Flurspiegel vorbeischlenderte. Ihr Busen verriet Gefühle, die sie sich selbst nicht eingestehen wollte. „Er ist noch ein Junge. Ich darf ihm niemals weh tun”, flüsterte sie sich zu und hatte damit bereits ein Geständnis abgelegt.

Simons Fotoalbum lag auf dem Tisch, als sie ins Zimmer trat. Er zeigte auf das erste Bild, das sein Vater im hinteren Garten gemacht hatte. Sie lag mit Simon in der Hängematte, die von Melissa geschaukelt wurde. Das schwarze Haar floss wie erhitztes Pech über die Hängematte und pendelte träge. Tanja hatte dieses Bild sieben Jahre lang immer wieder betrachtet – jedes Bild. Sie stellte den Koffer in die Ecke und näherte sich Simon, packte dabei die Stuhllehne mit beiden Händen. Morgensonne wärmte ihr Haar und den Busen, der Schatten auf den Blondschopf goss.

„Die Sonne macht dieses Foto lebendig. Mein Haar funkelt. Melissa ist eine starke Frau – schau ihre Arme an.”

„Du kommst zurück nach sieben Jahren. – Für jedes verschlafene Jahr ein Bild.”

Tanja lachte: „Vielleicht bin ich ein Siebenschläfer?”

„Auf den Bildern bist du ein kleines Mädchen.”

„Ich war siebzehn”, widersprach sie.

„Du hattest einen Körper wie ein Junge. Du hattest keinen Busen. Du warst knochig.”

„Du warst ein kleiner Junge. Ein kleiner nackter Junge.”

„Ich war sieben!”, rief Simon. „Dein Höschen konnte nicht alle Nacktheit verbergen. – Aber jetzt bist du eine Frau.”

Indem sie Simon durchs Haar kraulte, versuchte sie ihre Errötung zu verbergen.

„Und wie eine Frau meines Alters, bin ich verlobt.”

Simon starrte zu ihrem Gesicht hoch. Sie lächelte, knuddelte sein Haar und beugte sich über seine rechte Schulter, dass die sonnenerhitzten Hügel Nase und Augen betörten. Simon spürte das Herztrommeln von Eifersucht.

„Er heißt Felton.”

Simon erhob sich. Dabei schob er seine Schulter gegen ihren Busen. Er zuckte gleichgültig mit den Schultern und drehte sich zur Tür.

„Ich muss jetzt auspacken”, sagte sie.

Simon verließ ihr Zimmer. Mit jeder Stufe machte er einen Atemzug. Sein Herz raste trotz Atemübung. Er ging in sein Zimmer, um sich aufs Bett zu legen. Er versuchte sich diesen Felton vorzustellen, legte die Mindestanforderungen fest, die er haben musste, um Tanja würdig zu sein. Die in seiner Fantasie erstandene Lichtgestalt erdrückte Simon.

Tanja räumte den Inhalt der Tasche und der Koffern in Schrank und Nachttisch. Ihr hellgrünes Nachthemd legte sie aufs Kopfkissen, die Hausschuhe stellte sie ans Bett. Danach baute sie auf dem kleinen Schreibtisch unter dem Dachfenster ihr Laptop auf, schloss es an. Aus ihrer Jackentasche zog sie das Handy, das sie rechts neben das Laptop legte. Das Fotoalbum, das Simon vergessen hatte, lag auf der anderen Seite des Laptops. Sie blätterte zum nächsten Blatt, wählte die Nummer ihres Verlobten.

„Hallo Felton, ich bin gut angekommen.”

Während sie der Stimme aus dem Handy lauschte, betrachtete sie das Foto. Simons Kopf lag in ihrem Schoß, seine blauen Augen strahlten in ihr Gesicht. Sie saß auf seinem Bett. Das Buch lag auf Simons Brust und sie las die Gute-Nacht-Geschichte vor. „Ist das Buch für ein Kind bekömmlich?”, hatte sie Melissa vorher gefragt. Melissa hatte die Schultern gezuckt und gesagt: „Er liest es sonst allein. Da ist es schon besser, wenn er kontrolliert wird.” „Er ist erst sieben?” Melissa hatte noch einmal die Schultern gezuckt und Simons Zimmer verlassen.

Mechanische Bemerkungen stolperten aus ihrem Mund, bevor sie das Handy zusammenklappte und zurücklegte.

„Schuld und Sühne” von Dostojewski ist keine Kinderlektüre, aber Simon war in vieler Hinsicht kein Kind unter Kindern gewesen. Sie war auch nie ein Kind unter Kindern gewesen. Wahrscheinlich schmiedete diese gleichartige Verschiedenheit den Zusammenhalt. Tanja schloss die Augen, um sich die Zeit zurückzurufen, als der blonde Kopf in ihrem Schoß lag. Sie trug ein Kleinmädchennachthemd mit einer blauen Schlaufe unter dem noch nicht vorhandenen Busen. Damals wuchs ein schwesterliches Gefühl für den kleinen Jungen. Mit dem Geruch aufgefrischter Erinnerung rankte sich die Vergangenheit um eine Empfindung, bei der sie ihren Busen streicheln musste. Tanja versenkte sich in die Zeit, die vollkommenes Glück gewesen war. Wenigstens verlangte ihr Gehirn, diese Vergangenheit so zu sehen. Simons Größe hatte sie überrascht. Melissa hatte nie darüber gesprochen und sie hatte nie nach diesem Wissen verlangt. Die Zärtlichkeit seiner Umarmung floss wie Goldschmelze in ihre Erinnerung. Die Hand, die ihre Brust gestreichelt hat, war keine Kinderhand, weil sich das Kind zu einem jungen Mann gewandelt hatte. Ihre Sehnsucht war angeschwollen wie eine Frau – und hier zügelte sie ihren Gedankensturm.

Tanja hatte den alten Rhythmus nicht verlernt. Sie wollte wieder der unverrückbare Pfeiler dieser Familie sein.

„Kommen deine Eltern zum Mittagessen?”, fragte sie Simon.

„Heute bestimmt!”

Er beobachtete Tanja beim Kochen. Sie hatte ihre Kunst perfektioniert, das erkannte er sofort. Obwohl er damals ein kleiner Junge war, hatte er ihre kochlichen Stärken und Schwächen erspürt. „Eine perfekte Ärztin und Frau, – wie Mutter”, meinte er zu erkennen.

„Kann ich dir helfen?”

Sie ließ ihn Salat putzen und Zwiebeln schneiden. Er war glücklich, dass er teilhaben durfte. Ihre Nähe war ihm Wohltat. Die Geschäftigkeit ihres biegsamen Körpers war ihm geradezu Lust.

„Kennt ihr euch schon lange?”, wollte er beim Zwiebelschneiden wissen.

Er hatte diesen Zeitpunkt bewusst gewählt, weil er fürchtete, dass Tränen seinen Blick netzen.

Tanja schaute in seine Augen, die den Klang seiner Stimme spiegelten. „Er ist eifersüchtig”, dachte sie. „Darf er eifersüchtig sein?”, fragte sie ihren Verstand.

Als hätte sie nicht ins Herz des Jungen geblickt, sagte sie leichthin: „Seit einem Jahr.”

Er strich mit seinen Zwiebelhänden über ihren Pullover. Er wog ihre Brüste wie wohlfeile Zwiebeln. Sie wünschte die Hände auf ihrer gespannten Haut und schämte sich dieses Gedankens. Angestrengt suchte sie eine Strategie, um seine Zärtlichkeit zu überstehen. Tanja wusste nicht, ob er weibliche Erregung erspüren konnte, ob seine Hände noch unbeschwerte Lust verströmten. Knospen, die vor sieben Jahren, als sie neunzehn war, sich auf einer flachen Brust erhoben hatten, standen jetzt auf festen Hügeln. „Weiß er überhaupt, was Liebe ist oder sein kann?”, fragte sie sich.

„Wir wollen heiraten”, flüsterte sie. „Am Samstag wird er mich besuchen. Du kannst ihn kennenlernen.”

„Wird er mir gefallen?”

„Ich hoffe.”

Der Klang des nahenden Wagens beruhigte ihre Nerven. Melissa und Thilo kamen zur Begrüßung des Gastes und zum Mittagessen. Nach den Spaghetti Bolognese zog sich Simon zurück, weil ihn ärztliche Fachgespräche anödeten. Er meinte, sie bereits in jeder Form zu kennen.

Das Fenster seines Zimmers war geöffnet, dass die Geräusche des Gartens hereinschweben konnten – Vogelrufe, Insektensummen, Wind. Simon las einen Roman, der durch sein schieres Gewicht und noch mehr mit seinem Inhalt, die meisten Leser seines Alters zu Boden gedrückt hätte. Er lag auf dem Bett, mit zwei Kissen unter den Rücken gebaut, damit er das Buch gegen seine angezogenen Schenkel lehnen konnte. Der Tag war ermüdend gewesen. Das Buch entzog sich allmählich seinen Augen, weil Tanja schwerer wog als das gewichtigste Buch. Erinnerung war durch ihre Anwesenheit greifbar geworden. Seine Vergangenheit mit Tanja, die sieben Bilder, war mit der Wärme ihrer Gegenwart vermischt. Körperwärme hatte ihn zwischen der zweiten und vierten Schulklasse in Träume mit Scheherezade, Raskolnikov und Wallenstein gewiegt. Simon sehnte sich nach Körperglut.

Die Sonne leuchtete in eine andere Ecke seines Zimmers. Aus dem Garten säuselte nur noch ermüdeter Wind. Tanja lag neben ihm, als sein Traum zu Ende war. Sie hatte sich an ihn gedrückt und war eingeschlafen. Auch sie hatte einen Traum von Körperwärme. Ihr gleichmäßiger Atem floss über sein geöffnetes Hemd. Sie hatte die rechte Hand unter sein Hemd geschoben und seine Brust gerieben. Seine Hände streiften ihr Haar aus der Stirn.

Er verstand zu wenig von den traumhaften Bewegungen, mit denen sich der Frauenleib heranschlängelte. Ihr Atem rauschte wie Wellenschlag unter sein Hemd, als er ihre Brust streichelte. Die Hügel schwollen ihm entgegen, dass er den Druck der erigierten Brustwarzen spürte. Er schämte sich und konnte nicht aufhören. Klar verständlich hauchte sie „Schatz” und er wurde eifersüchtig, weil die Wahrheit unvorstellbar war. Als Tanja erwachte, schloss er die Augen. Sie war verlegen, wollte sich zurückziehen, aber Simon hielt sie umarmt. Sein geöffneter Blick glühte in ihre Augen. Sie schaute auf ihn herab. Mit schnaubendem Atem massierte sie ihre Hügel in sein offenes Hemd.

„Küsse mich”, kratzte seine trockene Stimme.

Tanja überlegte, wie sie sich befreien könne, da drückte er ihren Kopf und ihre Lippen gegen seinen Mund. Sie meinte, nicht zu wollen, aber ihr Mund öffnete sich seiner Zunge, ihre Zunge bot sich seiner Zunge an. Sie erkannte diesen Kuss, den sie bereits hundertfach geträumt hatte. Sie befreite sich mit den hilflosen Ruderbewegungen einer Ertrinkenden und rannte aus Simons Zimmer. Er betrachtete wütend die offenstehende Tür, durch die sie ihm entflohen war. Er war auf Felton eifersüchtig.

Tanja weinte bei ihrem hastigen Treppenaufstieg. Sie versuchte an Felton zu denken und dachte an Simons Kuss. Ihr Kissen war tränennass, ihr Körper zitterte unter schluchzenden Beben. Bäuchlings hatte sie sich aufs Laken geworfen. Ihre Kleider lagen am Boden verstreut. Die Zimmertür war nicht abgeschlossen.

„Ich will ihm nicht weh tun, aber so werde ich ihm Schmerzen zufügen. Kann ich Felton noch in die Augen schauen? Kann ich Melissa und Thilo in die Augen schauen?” Tanja wünschte, er könne die Qual ihres schlechtes Gewissen erkennen, sehen, wie sie ihr Bett zerwühlt. Nach zwei Stunden schloss sie die Tür. Aus dem Spiegel starrten verweinte Augen mit der Erinnerung an ungestillte Sehnsucht. Sie hatte den Jungen vergöttert, der ihrer Stimme andächtig gefolgt war, als sie ihm das Verbrechen des Raskolnikov und die Liebe der jungen Sonja verständlich machen wollte. „Mit Felton wird der Wahnsinn ein Ende finden”, stöhnte sie.

Morgens stieg Simon die Treppen hoch. Seine Eltern waren vor einer Stunde zur Arbeit gefahren, der Tee war kalt geworden. Simon klopfte und drückte den Türgriff. Tanja hatte abgeschlossen.

„Tanja, Frühstück!”, rief er.

Ihre nackten Füße tappten. Sie drehte den Schlüssel und schaute verschlafen zur Tür heraus.

„Jetzt schon?”

Als sie sich aus dem Türspalt lehnte, klappte der Ausschnitt des lindgrünen Nachthemds wie ein Doppeltor auf und verriet den Glanz von Nachtschweiß. Simons Augen kreisten verwirrt. Sie spürte die unterdückte Lust, mit der er gern die nackten Brüste gestreichelt hätte. Sie schloss zwei Knöpfe des Ausschnitts.

„Kann ich mich so an den Tisch setzen?”

„Meine Eltern sind weg und der Tee wird kalt.”

„Ich werde Felton heiraten. Wir lieben uns.”

Simon betrachtete Tanja mit gleichmütigem Staunen. „Du hast mir das bereits gestern gesagt. Das ist nicht ungewöhnlich, dass sich junge Menschen verlieben.”

Sie kicherte über seine Altklugheit. „Ich weiß.”

„Dürfen wir uns nicht mehr küssen? Sollen wir Felton sagen, dass wir Geschwister sind?”

Tanja lachte herzhaft. Simon schielte auf das freimütige Wippen ihres Busens. Sie saßen sich am Tisch gegenüber. Simon schenkte Tee ein.

„Zucker, Milch?”, fragte er und sie schüttelte verneinend den Kopf, wobei ihr Haar träge um den Kopf schlappte. „Hast du geschwitzt oder geweint?”

„Wieso? Wie kommst du auf die Idee, dass ich geweint habe?”

„Sag einfach, dass du geschwitzt hast, dann stellt sich diese Frage gar nicht.”

„Ich liebe Felton.”

Sie frühstückten schweigend. Heimlich betrachteten sie sich gegenseitig. Trafen sich ihre Augen zufällig, senkten beide den Blick.

Simon räumte das Geschirr weg, als sich Tanja mit den Worten entfernte: „Ich werde mich duschen. – Du solltest dir überlegen, was wir nachher machen können.”

„Darf ich dich abtrocknen”, rief er ihr nach, als sie bereits die Treppe hocheilte.

Er lauschte ihrem Weg ins Zimmer und dem Weg vom Zimmer in die Dusche. Bis in die Küche prasselte der Klang des harten Wasserstrahls. Leise summte eine Mozartarie.

Der heiße Strahl spülte Seifenschaum wie eine Schneelawine von der Haut. Mit beiden Händen prüfte sie das samtige Hautgefühl. Glatt floss das Haar über Gesicht und Schultern. Bis zum Ansatz ihres Busens floss das Haar. „Ich weiß nicht, wo die Handtücher liegen”, sagte sie sich. „Er muss mich abtrocknen, ob ich will oder nicht.” Sie trällerte weiter, als hätte sie nicht bemerkt, dass er bereits mit einem hellblauen Tuch im Bad stand. Ihre Hände schienen einem Zwang zu folgen, als sie die Glättung der Haut erneut prüften. Mit dem Wissen, von seinen Augen beobachtet zu werden, fühlte sich ihre Haut noch geschmeidiger an. „Was er denkt, wenn er mich nackt sieht?” Sie stellte auf kalt. Dann drehte sie den Hahn zu. Nur ihm konnte sie sich ohne Scheu zeigen, aber seine natürliche Unbekümmertheit war verkümmert. „Was wird er von mir denken?”, fragte sie unsicher und schob die Duschtür zurück. Er lächelte und kam ihr mit dem ausgebreiteten Duschtuch entgegen. Sein Blick liebkoste sie von den Augen bis zu den Schenkeln.

Seine Stimme war dampfbeschlagen: „Du bist viel zu perfekt. Mir wird schwindlig.”

Mit einem Schritt aus der Dusche hing sie in seinen Armen, vom Duschtuch umhüllt.

„Trockne mich gründlich ab”, befahl sie ihm.

Sie hob den Kopf, damit er ihren Hals trocken konnte, hob die Arme, öffnete die Schenkel. „Was wird er von mir denken?”, fragte sie sich. „Er sieht, wie meine Brüste schwellen, aber er sagt nichts. Kennt er mein Gefühl?” Das kostbare Kristall der Vitrine könnte er kaum mit mehr Gründlichkeit und Vorsicht polieren. Als er das lange Haar, Strähne um Strähne, trocknete, hing sie an seinem Hals.

„Wirst du mich zu eurer Hochzeit einladen?”

Wie einen Schutzmantel schlang er das Badetuch um ihre Nacktheit. Seine Frage war nur unter der Sicherheit des Badetuchs erträglich. Tanja schaute in Simons Gesicht hoch, das sich langsam herabneigte. Der Kuss fing zärtlich an und wurde zu einem Kuss voller Leidenschaft. Das Tuch hatte seinen Halt verloren, als sie sich lösten. Er betrachtete sie so begehrend, dass sie die Reibung seiner Hände auf ihrer Haut spüren wollte. Sie war beherrscht, während Simon Kühle vermutete.

„Er wird die schönste Frau auf der Welt bekommen. Ich hoffe, dass er dich verdient.”

Sie lächelte entspannt und flüsterte: „Schatz, sei bitte nicht traurig.”

Der folgende Kuss begann und endete als glühender Liebeskuss. Beide hörten die Haustür und traten einen erschreckten Schritt zurück. Simon stieg die Treppe hinab, sie huschte in ihr Zimmer. Diesmal kochte Melissa das Mittagessen.

Die nächsten Tage trabten mit den Zügeln der Vernunft. Simon akzeptierte die Tatsache, dass Tanja ihren Felton heiraten wolle. Einen ganzen Tag lang war Tanja mit Melissa zur Uniklinik gegangen. Freitags ging Tanja an Simons Hand auf dem Kirkeler Felsenpfad, aber entgegen der sonst üblichen Richtung. Die Wegweiser zeigten in die andere Richtung. Beim Abstieg des letzten steilen Teils ging Simon voraus und hielt sie auf, wenn sie über Felsen rutschte. Sie ließ sich kreischend in seine Arme sinken.

„Morgen früh wird er mit dem Taxi kommen”, hauchte sie gegen seinen Hals.

Er nickte schweigend, küsste sie und wartete. „Dürfen wir uns morgen noch küssen?”

Sie lachte ihn aus, während er ihr T-Shirt streichelte, bis die Brustspitzen durchdrückten. Die Umarmung schob ihren Busen hoch. Die bleichen Äpfel drohten aus dem Ausschnitt zu springen. Ihre Augen lächelten sich an. Tanja streichelte sein Haar, als er den Kopf neigte, um ihre hochgewölbten Früchte zu küssen. Umschlungen stiegen sie das nächste steile Stück hinab, bis sie vor einer Wegengung standen. Simon ging voraus, drehte sich und wartete auf ihren Sprung. Jauchzend fiel sie den halben Meter in Simons ausgebreitete Arme. Ein Arm spannte um ihren Rücken, die andere Hand drückte den Rock zwischen ihre Schenkel. Ein kleiner Schrei war ihr entrutscht. „So kann er mich besser halten”, erklärte sie die Hand, die zwischen ihre Schenkel drückte. Die Hand verharrte länger, als dies der sichere Stand erklären würde. Ihr Mund öffnete sich zu stummem Staunen, als sich die Hand mit erregendem Druck vom Venushügel zurückzog. Sie musste sich an ihm festhalten, weil ihre Beine schwankten. Der folgende Kuss war inniger Liebesbrand.

„Wo werdet ihr später wohnen?”

Tanja suchte in seinen Worten einen weniger banalen Sinn. Es dauerte einige Zeit, bis sie die Frage verstanden hatte. Ihre Stimme konnte die Enttäuschung nicht verheimlichen. „In den Staaten.”

Wanderer kamen den steilen Weg hoch und umgingen pikiert diese vermeintlich sexuelle Umschlingung. „Man kann ihnen ansehen, was sie denken”, brummte Simon. Tanja überlegte, ob es nicht schön wäre, wenn die Wanderer in ihrem Denken recht hätten.

Sie stiegen den Turm der Kirkeler Burg hoch. Tanja ging vorn, Simon sicherte sie vor dem Fall. Seine Hände glitten ihre glatten Schenkel auf und ab. Als sie an die Sonne traten, umfasste er ihre Taille und schob sie auf die Abschlussplatte.

„Das ist eine tolle Aussicht. – Der Turm ist schön renoviert.”

Während Tanja die Gegend betrachtete und sich an Eindrücke von vor sieben Jahren zu erinnern suchte, liebkoste er ihren Busen, bis die Brüste prall in seinen Händen lagen. Tanja lehnte sich zurück, als er ihre Knospen zur Reife brachte.

„Du solltest Felton leeren, wie er mich streicheln muss. Deine Hände werde ich vermissen.”

„Meine Lippen nicht?”

„Lippen, Zunge, Hände, Atem, Zärtlichkeit – ich werde dich sehr vermissen, jetzt, wo ich dich wieder gefunden habe, schmerzt mich bereits der Gedanke an diesen Verlust.”

„Das Leben ist hart wie deine Brustspitzen”, bemerkte er tonlos.

„Das ist ein normales körperliches Phänomen, wenn eine junge Frau von einem jungen Mann gestreichelt wird. Blutstau und Gewebekontraktion.”

„Wie beim jungen Mann?”

Sie lachte errötend, weil sie den Blutstau des jungen Mannes gespürt hatte. Ein Liebeskuss folgte.

„Wir müssen gehen”, flüsterte Tanja.

„Kannst du nicht in Homburg arbeiten?”

Tanja genoss den flehende Klang der Stimme. Sie wollte Vernunft zeigen und dämpfte ihre Stimme zum Klang einer reifen Frau.

„Die Bedingungen sind drüben viel besser. Ich will wissenschaftlich arbeiten. Ich muss bei meinem Mann leben.”

Abwärts ging Simon voraus. Sie stützte beide Hände auf seinen Kopf.

„Es ist schad, dass du uns verlässt.”

„Dass ich euch verlasse, dass ich Thilo und Melissa verlasse, oder dass ich dich verlasse?”

„Ich habe keine Möglichkeit, dich aufzuhalten.”

„Würdest du?”

Simon schwieg vier Stufen lang. „Können wir morgen eine Radtour machen? – Felton soll mitfahren.”

Simon hörte abends das Geflüster seiner Eltern. „Was hast du?”, fragte Melissa ihren Mann und er wisperte: „Unser Sohn ist verliebt.” Melissa hantierte in der Küche mit Geschirr. „Sie ist eben seine Freundin. Er ist glücklich.” Sie gingen nebeneinander über den Flur. „Sie ist eine Frau geworden. Du darfst nicht vergessen, dass er sechzehn ist.” Der Rest des Gesprächs versiegte im ehelichen Schlafzimmer.

Samstagmorgens sahen weder Tanja noch Simon besonders erholt aus. Beide hatten in ihren Betten den Freitag überdacht und mit dem Samstag gehadert. Simon sah ihn als absolut endgültig an, während Tanja auf den Rest der zwei Monate hoffte.

„War die Wanderung so anstrengend?”, fragte Thilo besorgt.

„Heute Nacht war es sehr schwül”, antworteten Tanja und Simon wie aus einem Mund. Sie lächelten sich erstaunt an.

Thilo ging in sein Büro, um mit Stethoskop und Blutdruckmanschette zurückzukommen. „Ich muss dich checken, bevor ich dich aufs Fahrrad lasse.”

Nach der gesundheitlichen Überprüfung des Sohns meinte er: „Es könnte nicht besser sein. – Sicherheitshalber werde ich mitfahren.”

„Tanja ist Ärztin”, widersprach Simon.

„Aber du bist mein Patient.”

Nach dem Frühstück ging Tanja mit Simon in sein Zimmer, wo sie über die früher gelesene Literatur sprachen. Auf dem Tisch lagen Werke von Dostojewski, Turgenjew und Gorki gestapelt. Beide kannten die Seiten, die sie aufschlugen, um vorzulesen. Nach jedem Buch küssten sie sich. Dann ließ sie sich von Simon aufs Bett ziehen. Er hatte die linke Hand zwischen ihren Schenkeln hochgeschoben und streichelte das Höschen.

„Felton wird bald kommen. Er wird am Montag zum Kongress weiterreisen.”

„Wo wird er schlafen?”

Simon bewegte die linke Hand bis Stöhnen ihrem Mund entströmte. Dann schwoll ihr Busen und sie sank auf seinen offenen Mund. Der Kuss lähmte ihre Zunge, das Wohlgefühl zwischen ihren Schenkeln fraß sich in ihren Leib.

„Ich werde in den Staaten wohnen”, schnaubte sie.

„Bleib bei mir.”

„Ich darf nicht.”

„Meinetwegen?”

„Ich will wissenschaftlich arbeiten.”

Gedanken schwirrten wie das Edelsteingeflatter von Kolibris durch ihren Kopf. Ihren gesprochenen Überzeugungen fehlte die Intensität geglaubter Worte. Simon vermochte den sehnenden Unterton nicht zu erlauschen. Ihn enttäuschte Tanjas Selbstbeherrschung, deren Fundament Angst vor dem Weg war, den sie mit verbundenen Augen lieber gehen würde als sehenden Auges den sicheren Weg.

Der Klang der Klingel beendete unerträgliche Qual. Sie sprang vom Bett, betrachtete sich im Spiegel. In jedem Auge funkelte eine Träne, die sie verstohlen wegwischte. Hastig strich sie durchs Haar und eilte in ihr Zimmer hoch, um einen BH anzulegen.

Der Begrüßungskuss hatte nicht die Qualität, an die sich Tanja gewöhnt hatte. Simon beobachtete die Verlobten. Felton übergoss seine Umgebung mit kühler Selbstgefälligkeit. Simon beneidete ihn um seine zukünftige Frau und bedauerte diese Frau wegen ihrer, wie er es empfand, verzweifelten Wahl. Sein Herz hämmerte so wild, dass er sich aufs Bett legen musste. „Ob sie die zwei Monate bleiben wird? – Er ist keine Lichtgestalt.” Simon war sich sicher, dass Felton sie mitnehmen würde. Dieser Samstag und alle folgenden Tage waren bereits verdorben.

Simon beobachtete die fremden Essmanieren mit Widerwillen und weigerte sich an dem fremdländischen Gespräch teilzunehmen. Tanja studierte Simon während des Essens. Simon konnte Shakespeare und Steinbeck lesen, er imitierte verschiedene englische Dialekte – schwieg aber. Das Wissen um seine Eifersucht erfüllte sie mit heißem Stolz und eisiger Trauer. Sie würde ihn verlieren und dieser Verlust wog schwer. Thilo, der Beherrschte, konnte seine Ablehnung nur schlecht hinter witzigen Floskeln verbergen. Als Felton von der geplanten Radtour erfuhr, reagierte er wie der rechtmäßige Eigentümer der schönsten Frau.

„Bleibe bei mir. Wir können sonnenbaden.”

„Ich habe diese Radtour bereits versprochen.”

Mit beschützender Stimme knurrte er: „Ich will nicht, dass du dich überanstrengst.”

Kühl entgegnete Tanja: „Du kannst ohne mich sonnenbaden, die Sonne scheint sowieso für dich allein.”

Die Kühle ihrer Worte wirkte wie Frost in männlichem Fundament und war Ansporn, mitzufahren.

Nach diesem Disput begann die nachmittägliche Radtour schwermütig. Felton war Rad fahren nicht gewohnt. Der Anstieg zur Höhe der sogenannten Apfelallee dauerte lange, weil sie die Räder über längere Steigungen schoben. Nach einigen pfeilschnellen Abfahrten standen sie beim Gemäuerrest des Tschifflick-Pavillons, der zu Herzog Karl Augusts Zeit wahrscheinlich eine baumfreie Aussicht ins Tal geboten hatte. Thilo erzählte Felton vom Schloss Karlsberg, der damals größten Schlossanlage Europas, das von französischen Revolutionstruppen abgebrannt worden war.

„Kommt, wir fahren runter!”, rief Simon.

„Au ja”, jauchzte Tanja.

„Hier runter?”, wollte Felton wissen und zeigte mit schlappem Arm ins Tal, das ungefähr achtzig Meter tiefer lag. Der Weg nach unten war kein Weg.

„Es gibt einen bequemeren Weg zum Schwanenweiher”, half Thilo.

Thilo und Felton fuhren den einfachen Weg. Tanja und Simon stürzten sich ins Tal. Nach jeder Sturzfahrt drückten sie die Räder schräg zum Hang, weil die reine Geradeausfahrt nicht beherrschbar gewesen wäre. Tanja jauchzte, wenn sie einem Überschlag entgangen war. Nach fünf Minuten standen sie im Tal. Dann fuhren sie ein Rennen zum Schwanenweiher, der noch drei Kilometer entfernt war. Natürlich waren sie vor den Anderen am Ziel.

„Wir schauen uns noch die Ruine an”, schlug Simon vor.

Simon fuhr voraus, um das Ende des Schwanenweihers, zum Eingangsbogen des niederen Tunnels, wo sie ihre Räder an die Wand lehnten.

„Das ist unheimlich. Wird das Gewölbe nicht einstürzen?”, fragte Tanja besorgt.

Simon ging gebückt ins Gewölbe, Tanja hielt ihn umschlungen. Ihre Brüste rieben seinen Rücken. Sie sog diese letzte Berührung als Erinnerungsvorrat in ihren Körper, dieses letzte Abenteuer ihrer Jugend. Das Gewölbe drückte die Lungen mit Modergeruch. Hinter einer Linksbiegung floss nach zehn Metern der helle Tag in die alten Steine. Am Ende des Gewölbes lag ein Fetzen trockener Boden, der sich über den wässrigen Schlamm des ehemaligen Schwanenweihers wie eine Plattform erhob. Vierzig Meter jenseits des Morasts führte der Weg, auf dem sie gekommen waren.

Tanja schaute zweifelnd auf den Waldweg, der sich zu ihrem Schicksalsweg erhoben hatte. Simons Berührung wärmte ihren Rücken. Er schaute über ihre linke Schulter, küsste ihre Wange, umhüllte ihre Brüste mit Wonne, die durch den BH strömte. Sie schaukelte in der Flut ihrer Gefühle. Sie gestattete einer Hand ein unwiderruflich letztes Mal, zwischen ihren glatten Schenkeln Lust zu entfachen, bevor sie „nein” stöhnte.

Vernunft hatte die Oberhand gewonnen. „Man kann uns von drüben sehen.”

„Du bist so kontrolliert. Du warst so lebendig.”

„Ich werde bald eine verheiratete Frau sei.”

Simon war vom Klang ihrer Stimme enttäuscht. Dann spürte er plötzlich den beobachtenden Blick. Er wendete den Kopf zurück zum Ausgang des Gewölbes. Er erschrak, als er Knopfaugen sah, die ihn anstarrten. Sieben Siebenschläfer hingen rechts und links des Bogens an die Wand gekrallt und starrten herüber. Ein großes Tier, so groß sie ein Eichhörnchen, ein etwas kleineres Tier und fünf Babys. Sie starrten nur.

„Drehe dich vorsichtig um”, flüsterte Simon.

Tanja erschrak heftig. Sie presste sich an Simon. „Was ist das?”, fragte sie.

„Siebenschläfer”, sagte er, bevor er sie küsste.

Er hatte ihr T-Shirt hochgeschoben, sie hob die Arme. Mit dem T-Shirt in der Hand drehte sie Simon den Rücken zu. Zittrig öffnete er die Schließe des BHs und streifte ihn ab. Sie lechzte nach der Wärme seiner Hände. Ihre Brüste verlangten seine Zärtlichkeit. Sie folgte ihm in den Schatten, wo sie ihm half, das Höschen über ihre Schenkel zu streifen. Den Rock zog sie selbst aus. Erstaunt betrachtete sie seinen Penis, als Simon mit herabgelassener Radlerhose vor ihr stand.

„Kann ich dein T-Shirt unterlegen?”, fragte sie und er nickte. „Es wird blutig werden.”

Simon war sprachlos über ihre Schönheit. Tanja drapierte ihr langes Haar über dem trockenen Laub. Dann streckte sie einladend die Arme hoch und er sank auf die Knie. Abwechselnd bot sie seinem Mund die Brustspitzen.

„Nimm mich”, flüsterte sie. „Ich gehöre dir. Ich habe immer dir gehört.”

„Hilf mir”, flüsterte Simon.

Tanja streichelte beruhigend sein Haar. Simon stieß schmerzend die Pforte auf. Sie schrie den kurzen Schrei, den eine Frau nur ein Mal dem Liebhaber schenkt. Ihre Beine umschlangen seine Taille. In ihre rechte Brust hämmerte der Galopp seines Herzens.

„Sie beobachten uns. Die Siebenschläfer beobachten uns”, keuchte Tanja.

„Liebst du mich?”

In Tanjas Leib waren alle Träume zu einem nachtschwarzen Diamanten gepresst.

„Wenn ich nur sagen könnte, wie sehr ich dich liebe.”

„Du warst Jungfrau”, flüsterte Simon.

„Ich hoffe, du auch.” Dann flüsterte sie in sein Ohr: „Dir verdanke ich mein Leben. Ich werde nie einen anderen lieben können.”

„Du darfst keinen anderen lieben.”

Simon reichte Tanja die Hand und zog sie vom Boden hoch. Als er seine nackte Geliebte an sich drückte, erkannte Simon auf der anderen Seite des Weihers Felton, dessen Blick sich in die nackten Körper zu fressen schien. Simon konnte die gesamte Pallette seiner rasenden Gefühle verstehen. Er ignorierte ihn und konzentrierte sich auf seine Geliebte. Er half ihr beim Ankleiden, sie half ihm. Thilo schaute herüber und nickte mit dem Kopf, als er den Blick seines Sohnes erfasste. Simon bot Tanja ein Taschentuch an, das sie zwischen ihre Schenkel klemmte. Simon bückte sich nach dem T-Shirt, das er vom Boden nahm und zusammenfaltete. Der große Blutfleck leuchtete über den Schwanenweiher. Streitende Männerstimmen störten den Liebesfrieden. Tanja schaute auf den Weg hinüber.

„Sie haben uns beobachtet”, flüsterte sie.

„Nur die Siebenschläfer”, flüsterte Simon zurück.

„Machen die das schon lange?”, kreischte Felton.

„Ich glaube nicht. Simon ist ihr erster Mann. – Er ist ihre große Liebe.”

„Sie war Jungfrau. Sie hat sich weggeworfen!” Felton wollte zu dem Liebespaar rennen. Sein Zorn glühte.

„Beherrsche dich!”, zischte Thilo. „Sie ist nicht dein Eigentum. Sie hat dir noch nie gehört!”

Tanja trat, gefolgt von Simon, aus dem versteckten Gewölbe. Felton starrte sie an und verfolgte ihren gemächlichen Gang mit brennenden Augen. Ihre Fahrräder schiebend gingen sie nebeneinander zum Weg.

„Er ist ein Junge und sie ist meine Verlobte!”

„Eine Frau zu retten, macht jeden Jungen zum Mann. Ich bin stolz auf meinen Sohn.”

„Ihr seid Monster.”

Thilo betrachtete die Näherkommenden mit zustimmendem Lächeln.

Als Tanja neben Felton stand, taxierte sie ihn mit neutralem Blick und wusste, dass es nichts zu bedauern gab.

Felton hatte seine Stimme wieder unter Kontrolle. „Ich werde noch heute oder morgen weiterfahren.”

„Ich stelle dir mein Bett zur Verfügung”, antwortete Tanja.

Felton stieg um fünf Uhr morgens in ein Taxi. Er fuhr ohne Abschied davon. Thilo hatte im nächtlichen Ehebett Andeutungen gemacht, die Melissa verstehen sollte aber nicht verstanden hatte. Erst als sie Tanja morgens aus Simons Zimmer treten sah und in ihrem Lächeln eine Liebesnacht erkannte, verstand Melissa, wieso Felton beim Abendessen so verstört gewesen war. Simon folgte ihr. Als er seine Mutter sah, legte er die Arme um Tanja und schloss die Hände über ihrem Bauch.

Ohne auf ihre Beobachtung oder die verliebte Szene einzugehen, ohne Vorwurf, sondern eher mit dankbarer Bewunderung fragte Melissa: „Du fängst in Homburg an?”

Tanja nickte.

„Du kannst bei uns bleiben, bis du eine eigene Wohnung gefunden hast.”

Tanja lachte: „In meinem Alter will ich mich nur ungern an eine fremde Küche gewöhnen – aber ich werde mich nie in ein fremdes Bett legen.”

Simon hauchte einen Kuss auf Tanjas Wangen und lächelte glücklich.

***

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  1. Thomas Zejewski

    Mir gefällt die manchmal vielleicht ein wenig überzeichnete, jedoch auf jeden Fall plastisch-bildhafte Charakterisierung der Figur des Simon zu Anfang. Das er eine besondere Beziehung zu ‘seiner Freundin’ hat wird schon innerhalb von drei Sätzen klar.

    Unter genderspezifischen Gesichtspunkten ist jedoch folgende Aussage ein wenig klischeebelastet:
    “Melissa war schon damals die groß gewachsene, charismatische Frau gewesen, die mit einer einzigen energischen Kopfbewegung einen Saal zum Schweigen bringen konnte, – auch einen Hörsaal voller Frauen.”
    Es ist zwar ein geläufiges topos, das Frauen bei Gesprächen eher in einen Flow-Effekt geraten, jedoch besteht die Frage ob man für eine kleine Pointe ein großes Feld bemüht.

    Dabei fand ich folgenden beschreibenden Satz äußerst erfrischend und ich konnte mir ein breites Grinsen beim Lesen nicht unterdrücken: “Dem sportlichen Hüpfen ihrer Brüste konnte Simon keine Coolness entgegensetzen.”

    Jedoch hat mich der folgende Satz eher an einen Bastei-Lübbe Roman erinnert und ich persönlich würde soetwas nie schreiben: “Sie schrie den kurzen Schrei, den eine Frau nur ein Mal dem Liebhaber schenkt.”

    Die nachfolgende Situation, in der der gehörnte Verlobte mit dem designierten Schwiegervater hinzukommt ist an Komik nicht zu überbieten: Felton, völlig außer sich, schreit: “Machen die das schon lange?” und der Vater sagt (!!!): „Eine Frau zu retten, macht jeden Jungen zum Mann. Ich bin stolz auf meinen Sohn.”

    Diese Situation ist einfach so absurd, das ich sie als Komödie gelesen habe..mich würde interessieren, ob dies auch so vom Autor intendiert war?

    Vom Detail zum Allgemeinen:

    Ich fand diese Geschichte an manchen Stellen ein wenig zu überzeichnet, mit vielleicht einigen zu starken Ausprägungen ins Machohafte, jedoch insgesamt war sie sehr amüsant zu lesen und mit einigen einprägsamen Metaphern ‘garniert’. Deswegen gab es von mir ein differenziertes Ja zu dieser Geschichte.



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