von Andrea Heubach

Wie jeden Sonntag machten sie einen ausgedehnten Spaziergang. Fast immer liefen sie die gleiche Strecke. Sie mochte am liebsten die sonnigen, nicht allzu warmen Tage. Er fand, jedes Wetter war für einen Spaziergang geeignet. Dieser Sonntag war ein grauer Herbsttag. Die Luft war kühl und feucht und die ersten bunten Blätter segelten getragen vom leichten Wind von den Bäumen. Heute hatte sie keine Lust, spazieren zu gehen, aber sie tat es ihm zuliebe.

Sie trug ihren roten Mantel, den schwarzen Baumwollschal um den Hals gebunden. Bevor sie aus dem Haus gingen, hatte sie ein wenig Make-up aufgelegt. Sie kam sich selbst ein bisschen albern vor, aber sie fühlte sich zunehmend unwohler dabei, ungeschminkt aus dem Haus zu gehen. Sie versuchte, ihre Schlupflider mit ein wenig braunem Lidschatten zu kaschieren. Ihre Lippen, die, wie es ihr vorkam, schmaler geworden waren, hatte sie mit einem Lippenstift in Burgunderrot dekoriert, passend zu ihrem Mantel.

Sieben lange Jahre lebten sie nun schon zusammen. Teilten sich ihr Haus, teilten sich ihr Bett. Sie konnte sich gar nicht mehr vorstellen, wie das Leben ohne ihn wäre. Und sie war sich sicher, auch er konnte sich ein Leben ohne sie nicht vorstellen.

Sie bogen in den kleinen Waldweg rechts neben dem Spielplatz ein. Der Waldboden war feucht und mit Tannennadeln übersäht. Er gab unter ihren Füßen nach. Bereits nach wenigen Metern geriet sie außer Atem. Der Weg führte leicht bergauf. Doch sie versuchte, mit ihm mitzuhalten. Ihr war bewusst, dass sie älter geworden war. Sie wollte es sich aber nicht anmerken lassen. Er schien noch mitten in der Kraft seines Lebens zu stehen, obwohl auch er inzwischen nicht mehr ganz jung war.

Zwei Jogger, ein junges Pärchen im Partnerlook, zogen in beeindruckendem Tempo an ihnen vorbei. Beide trugen dunkelblaue Sportanzüge. Ihre Bewegungen waren nahezu synchron. Ihnen folgte der markante Duft eines männlichen Aftershaves, der für einen Moment den würzigen Waldgeruch verfälschte.

Sie blickte zu ihm hinüber. „Er sieht glücklich aus”, dachte sie. Um etwas zu sagen, fehlte ihr der Atem.

Damals, als Bernd sie verlassen hatte, wegen einer Jüngeren, war sie am Boden zerstört gewesen. Nach dreiunddreißig Jahren Ehe konnte sie mit dem Alleinsein nicht umgehen. Sie wusste nichts mit sich anzufangen. Sah keinen Sinn darin, für sich alleine etwas zu kochen, für sich selbst die Wohnung aufzuräumen. Sie war damals im Begriff, richtiggehend zu verwahrlosen.

Dann sagte eine Stimme in ihr „Lass dich nicht so gehen! Reiß dich zusammen, Eva!” Sie beschloss, dass sie noch einige schöne Jahre vor sich hatte und diese so ausgiebig wie möglich genießen wollte.

Als sie Paul zu ersten Mal sah, war sie sofort von ihm begeistert. Die Chemie zwischen ihnen stimmte. Sie liebte seine markanten Züge und seinen muskulösen Körperbau. Er gab ihr das Gefühl, dass er sie wahrhaftig beschützen könnte.

Als sie ihn ihren Freundinnen vorstellte, war sie sehr enttäuscht von deren Reaktion. Sie hatte erwartet, dass sie sich mit ihr freuen würden. Stattdessen erntete sie Unverständnis. Ihre Freundinnen waren nicht gerade begeistert von Paul. Besonders Susanne äußerte ihre Bedenken angesichts seiner Herkunft und fand ihn, wie sie äußerte „nicht besonders vertrauenerweckend”. Auch er hatte eine Weile ziemlich verwahrlost gelebt und sie befürchtete, so erklärte sie Eva, dass er psychische Schäden davongetragen hätte.

Doch Eva war der Meinung, dass jeder im Leben eine zweite Chance verdient hatte. Auch so ein kleiner Windhund wie Paul. Außerdem glaubte sie, dass Susanne nicht ihre wahren Bedenken äußerte, sondern ganz andere Vorurteile hatte, über die sie nicht reden wollte.

Nach und nach verlor Eva so den Kontakt zu ihren alten Freundinnen. Sie mochten es nicht, dass Paul überall dabei sein sollte und Eva wollte nicht akzeptieren, dass er nicht dabei sein sollte. Manchmal war sie noch ein wenig traurig darüber, aber die Dinge waren wie sie waren und wahre Freundinnen, da war sie sich sicher, hätten mehr Verständnis gezeigt.

Eine junge Frau kam ihnen auf einem gelben Mountainbike entgegen und rauschte an ihnen vorbei. Sie trug enge, schwarze Fahrradkleidung, die ihre muskulösen und noch sommergebräunten Beine freilegte. Ihr langes blondes Haar, das sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte, flatterte im Fahrtwind.

Paul drehte sich um und schaute ihr hinterher. Eva blickte ihn milde lächelnd an und tätschelte seine Schulter. Manchmal wünschte sie, sie wäre auch noch jünger, um mehr mit ihm unternehmen zu können.

Sie bogen in die Kirchstraße ein. Eva liebte die großen Kastanien, die hier standen. Sie verspürte eine große Ehrfurcht vor den alten, mächtigen Bäumen. Manchmal fragte sie sich, die Schicksale wie vieler Generationen Menschen diese Bäume wohl erlebt haben mochten.

Eine Windböe fuhr durch die Straße. Die Äste bogen sich und ein Regen aus bräunlich, rötlich und gelb verfärbten Blättern fiel tanzend zu Boden. Sie spürte wie die kalte Luft durch die Fasern ihrer Kleidung drang. Erleichtert stellte sie fest, dass sie schon über die Hälfte ihres Weges zurückgelegt hatten. Sie tätschelte seinen Rücken. Er drehte den Kopf und begann, ihr die Hand abzulecken.

„Komm wir gehen nach Hause, dann kriegst du lecker Happi Happi.”, sagte sie. Er bellte und wedelte mit dem Schwanz. Manchmal war ihr, als würde er tatsächlich verstehen, was sie sagte.


  1. christian lumma

    Schöne Geschichte mit überraschendem Ende, sehr realitätsnah an der Einsamkeit dran. Hat mir gefallen.

  2. Mirco Schultze

    Hat mir gut gefallen: kurz, stimmungsvoll, überraschende Wendung und vor allem gut geschrieben.

  3. Horak Johannes

    Hat mir sehr gut gefallen!

  4. Wolfgang Karnowsky

    Öfter schicken uns ganz stolz gute, liebe Bekannte (Typ: VHS Schreibwerkstatt oder “Wittener Autoren”) oder auch meine ehemaligen Studenten (Typ: Schreibwerkstatt im Fach Medienpädagogik aus der Sozialarbeit) ihre gedruckten Kurzgeschichten, über die ich oft oder eigentlich immer sehr enttäuscht bin: keine oder unklare oder eben nur die übliche “Pointe”, die sich oft schon aus dem Titel ergibt – trotz Schreibwerkstatt. Das ist hier endlich mal nicht der Fall! Gut gemacht!
    Hier ist ein echte Begabung für das Schreiben am Werk gewesen!



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