von Gudrun Sperzel-Völk

Mittwoch, 20. November, acht Uhr morgens, 2° unter Null. Es ist neblig und arschkalt. Manfred ist schon klar, dass Max eine neue Winterjacke braucht, aber er hat keine Lust, ausgerechnet jetzt, wo er wieder dieses Ziehen in den Hoden spürt, an seinen Sechsjährigen zu denken. Wie dieser an der Bushaltestelle unter all den Prolls steht und sich frierend blöde Sprüche anhören muss.

Manfred hat überhaupt keine Lust mehr, sich Sorgen um andere zu machen. Jetzt ist er dran. Er macht sich Sorgen um sich und das nicht ohne Grund. Der Arzt hat zwar gesagt, es sei alles in Ordnung, aber es könne nicht schaden, seine Prostata regelmäßig abzutasten. Manfred lacht bitter auf, weil ihm die Ironie des jungen Arztes nicht entgangen ist. Eine glatte Unterstellung ist das. Als ob er ein Hypochonder ist.

Was kann er dafür, dass ihn in den letzten sieben Jahren, seit er eine Familie gegründet hat, immer wieder das eine oder andere lästige Problem heimsucht. Schleimbeutelentzündung, als Nora schwanger war; Gürtelrose, als Nora in den Wehen lag; eine unaufschiebbare Knieoperation, als Nora auf Kur gehen wollte; Verdacht auf Borreliose, als er Max versprochen hatte, mit ihm zelten zu gehen.

Und Nora ist immer nur am Quengeln. Er mache das mit Absicht, er habe nur sich und seine Probleme im Kopf, er liebe sie nicht mehr. Wie er diese Szenen hasst!

Und jetzt verlangt sie von ihm, dass er sich um halb neun bei Aldi anstellen soll, um einen Kinderanorak für 23 Euro zu ergattern. Bei dieser Kälte, um diese Uhrzeit! Er schämt sich richtig für sie. Seine Frau, eine von denen, die immer wissen, wo sie was am billigsten bekommen. Nichts anderes mehr im Kopf, als dumme Sprüche über Preis-Leistungsverhältnisse, letztes Jahr war alles noch um die Hälfte billiger, Inflation, die machen mit uns, was sie wollen!

Und wenn sie hundert Mal Recht hat, so primitiv kann man das einfach nicht ausdrücken. Dummes Gesabber, sonst nichts. Manfred sieht sich jeden Abend interessante Sendungen im Fernsehen an und sitzt sich den Arsch platt, nur damit er auf dem Laufenden bleibt. Sowohl die politische, als auch die wirtschaftliche Lage sind wesentlich komplizierter, als dass sie mit solchen verallgemeinernden Sätzen beschrieben werden können.

Während Manfred sich warm anzieht, muss er wehmütig an die Zeit als Junggeselle denken. Zehn Uhr morgens aufstehen, abends noch ein Bierchen mit ein paar Kumpels trinken, warme Unterwäsche von Muttern zu Weihnachten, und, und, und… Nora hat ihm noch nie warme Unterwäsche geschenkt!

Da ist es wieder, dieses Ziehen im Hodensack. 70% aller Männer haben Prostataprobleme, und er ist natürlich einer von denen. Die anderen 30% bekommen wahrscheinlich warme Unterwäsche von ihren Frauen und müssen sich nicht mitten im Winter um halb neun Uhr morgens bei Aldi anstellen! Und das alles nur, weil er sich geweigert hat, den Job bei dem schwulen Fotografen anzunehmen. Nora versteht das einfach nicht. Nicht, dass er was gegen Schwule hat! Aber er war ein Mann. Hilflos sexuellen Übergriffen am Arbeitsplatz, Gesprächen über verletzte Gefühle (Schwule haben notgedrungen ständig verletzte Gefühle!) ausgeliefert und zum Sammeln von Kuchenrezepten verurteilt! Dann lieber arbeitslos!

Wenn Manfred endlich mal aus dem Haus ist, beginnt für Nora die Zeit der Entspannung. So auch an diesem Morgen. Eine halbe Stunde Joga, eine Tasse Tee und dann ab in ihr Büro unter dem Dach. Wenn sie ihren Artikel mit „Tipps und Tricks für Frauen beim Stehpinkeln” heute fertig bekommt, würde sie morgen mit Max zu Ikea fahren und vielleicht ein paar Weihnachtseinkäufe erledigen. Das schöne Besteck, das sie letzten Monat da gekauft hat, kostet bei WMF glatt das Zehnfache. Sicher, sie braucht es nicht wirklich, aber wenn sie im nächsten Jahr ihren Vierzigsten feiert, dann wird es sich schon gelohnt haben. Und jetzt gibt es gerade so hübsche Stoffe, vielleicht würde sie für Max’ Zimmer neue Vorhänge nähen. Irgendwas wird sie sicher finden.

Sie seufzt auf, weil ihr auffällt, dass sie soeben Manfred zitiert hat. Aber der muss ja immer an ihr herumnörgeln. Und nicht nur an ihr, an allem und jedem hat er was auszusetzen. Das zieht Energie! Richtig ausgehöhlt war sie schon! Da hat sie sich dann durch sämtliche Therapien gequält, sich selbst gesucht und endlich gefunden. Nur, um mit einem notorischen Verlierer alles zu teilen!

Früher ist alles so herrlich unkompliziert gewesen. Die erste Zeit mit Manfred – wunderschön! Dann kam das Kind, und Manfred entwickelte sich zum Vorzeige-Arschloch! Max ist ihr einziger Trost in dem ganzen Schlamassel; wenn er nicht wäre, hätte sie sich schon längst von Manfred getrennt. In letzter Zeit greift er sich auch noch dauernd an den Sack, ganz egal, wer dabei ist – im Gespräch mit Max’ Lehrerin, oder als Suse auf Besuch war -, er merkt es überhaupt nicht mehr. Peinlich. Sie muss schon wieder seufzen, als sie sich vorstellt, wie Manfred zusammen mit all den Muttis jetzt bei Aldi im Korb wühlt und dabei seinen Prostataselbstabtasttest vorführt.

Endlich nähern sich die Kassierinnen drinnen bei Aldi ihrem Arbeitsplatz. Ein Raunen geht durch die Menschenschlange, die sich mittlerweile vor dem Eingang gebildet hat. Alles eingeschweißte Aldi-Fans. Jeder einzelne von ihnen hat die Angebote im Voraus studiert und weiß, dass diese begrenzt vorhanden sind. Und weil es heute um Kinderanoraks geht, sind sämtliche Mütter aus dem Neubaugebiet da. Mütter, denen Manfred konsequent aus dem Weg geht. Manfred spürt förmlich, wie sie mit den Hufen scharren, wie sie sich bereit machen für den Kampf um die Kinderanoraks für 23 Euro. Er packt den Einkaufswagen fester, im Begriff, sich darauf einzulassen und seinen 10. Platz bis aufs Blut zu verteidigen.

Da, die Tür öffnet sich und schon beginnt der letzte in der Reihe ungeduldig zu schieben, was nichts anderes bewirkt, als dass jeder andere ebenso anfängt zu drängen und die ersten Unmutsäußerungen an den Aldi-Fensterscheiben abprallen. Auch Manfred entwickelt sich zum Hackenschieber, nachdem er seinen rechten Schuh zum zweiten Mal verloren hat.

Bereits im Vorraum löst sich die feine englische Art auf und er muss tatenlos zusehen, wie sich Nummer 15 an ihm vorbeischwindelt, um noch vor ihm an den Wühltisch zu kommen. Nicht mit mir, denkt Manfred und verfolgt nun die junge Frau, die glaubt, sie könne hier einen auf Cowboy machen. Ekelhaft, diese Gier!

Geschickt schiebt er seinen Wagen zwischen den ihren und einen Apfelsaftstapel, reißt den Haltegriff nach links und rammt ihren Wagen, sodass sie geradeaus fahren muss, wo es doch links zu den Kinderjacken geht. Dort grapschen bereits mindestens dreißig Hände nach einer solchen, und Manfred muss resigniert feststellen, dass er zu spät gekommen ist. Da, die hat sich gleich drei Jacken geschnappt! Manfred ist erbost. Ihm wird schlecht, und seine Prostata meldet sich. Da entdeckt er einen Wühltisch, an dem kaum jemand interessiert zu sein scheint. Herren-Vliespullis. Wunderbar! Und so günstig. Er nimmt sich gleich zwei in seiner Größe, und weil hier alles so günstig ist, schnappt er sich auch noch zwei Packungen mit warmer Herrenunterwäsche. Für den Preis hätte er bei Karstadt nicht mal die Hälfte bekommen!

Sehr zufrieden mit sich, stellt er sich nun zusammen mit anderen ebenso zufriedenen Hausfrauen an der Kasse an. Ein kleines schlechtes Gewisselchen schleicht sich an, aber mit so etwas fertig zu werden, gehört zu Manfreds Stärken.

Zwanzig CD-Roms für nur Fünf Euro! Da kann man nicht meckern! Und schon zieren sie zusammen mit den Herren Vliespullis und der Herrenunterwäsche Manfreds Einkaufswagen.

Mit haufenweise freigesetzten Endorphinen fährt er nach Hause. Jetzt muss er nur noch Nora klar machen, warum er keine Jacke für Max hat, und wie entsetzlich gierig ihre Hausfrauenkolleginnen sind. Dass er mit (fast) leeren Händen kommt, ist nicht seine Schuld! Verantwortlich dafür sind die Kauflust des primitiven Volkes und die berechnende Haltung der großen Konzernbosse. Hat er immer schon gesagt!

Soll sie ihn ruhig beschuldigen, sie, die sowieso kein gutes Haar an ihm lassen kann.

Nora sitzt an ihrem Schreibtisch und brütet vor sich hin. Sie fühlt sich müde und gibt sich einer vorverlegten prämenstruellen Depression hin. Immer wieder kehren ihre Gedanken zu Manfred zurück. Je deutlicher sie ihn vor sich sieht, umso ärgerlicher wird sie. Hat er nicht damals gesagt, er würde sich fest bei diesem Fotografen anstellen lassen? Und nur weil dieser einen tätowierten Hintern hat, wollte Manfred nichts mehr davon wissen. Dabei waren es nur harmlose Stiefmütterchen, die eine Spur zu neckisch in Richtung Arschfalte wucherten.

Jetzt ist er arbeitslos und permanent zuhause. Kontrolliert und bekrittelt jede ihrer Handlungen. Wenn sie Fleischsalat oder dem Jungen Markenturnschuhe kauft, erklärt er ihr sofort, dass tote Tiere Aggressionsfördernd sind, und sie Teil eines Massenverblödungsprojekts geworden sei. Außerdem wird er gleich in der Tür stehen und sich über den Konsumwahn dieser Gesellschaft aufregen, ihr ihre Hausfrauenkolleginnen vorhalten und was von diktierter Marktwirtschaft quasseln.

Sie nimmt eine Zeichnung von Max und betrachtet sie. Die kleine Dicke, das ist sie, und der große Dünne muss wohl Manfred sein. So, wie sich Kinder eine Familie vorstellen, hat sich Mäxchen zwischen Mama und Papa dargestellt. Alle drei nackt. Es rührt sie irgendwie. Aber noch mal sieben Jahre?!

Sie nimmt eine Stecknadel aus dem Nadelkissen, um die Zeichnung an die Wand neben ihrem Schreibtisch zu pinnen. Als sie die zweite Nadel nimmt, beginnt ein unbehagliches Gefühl in ihr hoch zu kriechen. Die dritte Nadel für links unten bringt sie zum Würgen, und sie schwankt leicht, als sie das Bild mit der Hand glättet. Noch mal sieben Jahre!? Scheiße, nein!! Die vierte Nadel sticht sie genau in Manfreds, von Max kindlich gezeichneten Hodensack.

In diesem Moment hört sie von unten einen Aufschrei, wie von einem weidwunden Tier. Sie eilt zur Tür, die Treppe hinunter, und ruft nach Manfred. Dieser steht in der Küche mit lauter um sich verteilten Plastiktüten und Verpackungsmaterial. Eine lange weiße Angoraunterhose, halb hochgezogen, färbt sich langsam rot, und Manfred, der seine Hände schützend um seine Hoden gelegt hat, flüstert schmerzerfüllt:

„Da muss noch eine Nadel in der Verpackung gewesen sein.”

Langsam geht Nora auf ihn zu und sieht wie betäubt auf Manfreds Hände, aus denen Blut hervorquillt.

„Warte”, sagt sie und geht nach oben. Sie zieht die letzte Stecknadel aus der Zeichnung und streicht mit dem Finger über die Einstichstelle. Dann geht sie runter zu Manfred, um ihm zu helfen. Erstaunen vermischt sich mit einem Hauch von Machtgefühl und einer unbestimmten Ahnung, die langsam in ihr hochsteigt. Befremdend, aber trotzdem heimelig fühlt es sich an, und ein weites Land voller Kakteen und wunderschöner Magnolien tut sich vor Nora auf.

Klebriges warmes Blut an ihren Händen. Manfred weint wie ein Kind, als sie sein Geschlecht schützend umhüllt. Von seinen Hoden hoch, durch seinen Bauch, bis hin zu seinem Herzen spürt er ihre Anziehungskraft, und gibt sich ihr hin.

Noras Augen und Ohren, wie auch alle ihre anderen Sinne, richten sich auf Manfred, und sie beginnt, sich nach sieben langen Jahren endlich wieder für ihn zu interessieren.


  1. christian lumma

    Finde ich superinteressant und lebensnah, gut geschrieben und witzig und tragisch… nur die nackte Kinderzeichnung fand ich unlogisch… aber sonst: jou!

  2. Sue

    Schön geschrieben mit extrem überraschendem Ende.

  3. Axel Baumgart

    Hallo Gudrun,

    ich finde Deine Geschichte interessant, auch wenn sie mir persönlich zu „Sack-lastig“ ist. Die Studie des Paares, die unterschiedlichen Blickwinkel und die Gegenüberstellung von Selbst- und Fremdeinschätzung finde ich sehr gelungen.
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    Probleme habe ich mit dem Titel, den ich in keinen Zusammenhang mit der Geschichte bringen kann. Ich muss aber gestehen, mir ist auch keiner eingefallen, der mir besser gefallen hätte. Das Ende erschießt sich mir, ehrlich gesagt nicht.
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    „Von seinen Hoden hoch, durch seinen Bauch, bis hin zu seinem Herzen spürt er ihre Anziehungskraft, und gibt sich ihr hin.
    Noras Augen und Ohren, wie auch alle ihre anderen Sinne, richten sich auf Manfred, und sie beginnt, sich nach sieben langen Jahren endlich wieder für ihn zu interessieren.“
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    Manfred gibt sich ihr hin – Sex? Noras beginnt sich wieder für ihn zu intressieren – Neue alte Liebe, oder pure Macht? Macht basierend auf Sex oder Woodoo? Falls Woodoo, warum noch Sex? Wenn kein Sex, welcher Sache gibt sich Manfred hin? Wenn Sex, welche Bedeutung hat dann das Woodoo? Oder habe ich das mit dem Woodoo komplett mißverstanden?
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    Beste Grüße
    Axel

  4. Sperzel-Völk

    Woodoo und Macht sind die Gründe, warum Nora sich wieder für ihn interessiert, der magnetisierte Manfred gibt sich ihr hin, weil er auf Grund seiner Persönlichkeitsstruktur endlich die Aufmerksamkeit bekommt nach der er lechzt. Magnetisieren im Sinne von Anziehung, sprich magnetisiert = angezogen (die Symbolik mit den warmen Unterhosen sollte eigentlich einen Wink auf sein Bedürfnis sein, aber hab ich wohl nicht überzeugend genug hinbekommen). Danke für deine Aufmerksamkeit! Gudrun

  5. Susann

    Liebe Gudrun,
    meinen Glückwunsch, dass es Ihre Geschichte in die Anthologie geschafft hat. Ich hab sie mehrmals gelesen und über sie nachgedacht, und je öfter ich das tue, desto mehr gefällt sie mir. Nur hadere ich ein wenig mit dem Ende, weil ich denke, ich habe da etwas übersehen – oder ich will da unbedingt etwas hineininterpretieren, was gar nicht so gedacht ist. Ich frage mich nämlich, ob alle von Manfreds Krankenheiten auf Voodoo zurückgehen. Der Kreis ließe sich so gut schließen, aber vielleicht wollten Sie gar nicht darauf hinaus. Ich hatte überlegt, dass sich die Krise zwischen Nora und Manfred ja langsam entwickelt hat, dass erste grimmige Gedanken der Frau aufkamen ( Schwangerschaft, Geburt ), als sich ihr Männe als egozentrisch aufgeführt hat oder als Drückeberger…grimmige Gedanken mit Ziel Ehegespenst heißt kleinere Krankheiten, böswilligere oder das Zerknüllen von Fotos etc. verursachte schlimmere Krankheiten. Und die Wut, das Zücken der Stecknadel, das, was das Ende so überraschend gemacht hat. Aber vielleicht ist das nur meine Phantasie, die hier loslegt. Wünsche Ihnen viel Spaß beim Weiterschreiben und beim Lesen Ihrer Geschichte in der Anthologie.

    Susann

  6. Sperzel-Völk

    @Susann. Ihnen auch alles Gute, denn mit der Phantasie, die Sie an den Tag legen, kann das nur gut enden. Mein Paar ist ein stinknormales Ehepaar, das in alles hinein schlittert, so lange alles aufstaut, bis nach sieben Jahren endlich etwas passiert. Ob das auch tatsächlich Woodoo war, oder einfach nur ein Zufall, ist genauso wenig geklärt. Hauptsache, eine Veränderung ist in Sicht. Einfach nur eine Geschichte. Nix Dramatisches. Tschüss!



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