von Christina Zehetner
Ich begegnete ihm mit Vorsicht. Er war um einiges größer als ich und auch um einiges älter. Er hätte mein Vater sein können. Wir gingen zielstrebig in ein nahe gelegenes Kaffeehaus, niemand beobachtete uns, niemand bemerkte unser Schweigen.
Es war ein sehr trüber Tag, dennoch blitzen die unbrechbaren Strahlen der Sonne hervor und tauten unsere kalten Hände auf. Er bestellte einen kleinen Braunen, ich nahm einen Tee. Zur Beruhigung. Ich habe mich noch nie mit einem Unbekannten einfach so in ein Kaffeehaus gesetzt und hoffte inständig, dass er meine Nervosität nicht bemerken würde. Aber da sagte er auch schon – mit seinem harten Gesicht, das sich während des ganzen Gesprächs nicht verändern würde: „Hab’ keine Angst.”
Ich blickte zu Boden und brachte keinen Ton hervor. Eine unendliche Stille breitete sich aus. Die Menschen um uns schienen voller Leben, voller Gesprächigkeit und Tempo. Alles war voller Dynamik, alles in Bewegung, und ich wie erstarrt.
Die Wolken verdeckten die Sonne und ihr Bann schien gebrochen, ich begann am ganzen Körper zu frieren und wollte schon aufgeben, aufstehen und mich zu Hause verkriechen. Da kam der Kellner, brachte die wärmenden Getränke und meinte im Vorübergehen: „Das Leben ist kurz, da muss man auch die grauen Tage draußen genießen, nicht?”
Bestärkt gab ich mir einen Ruck und fragte: „Wer bist du?” – „Das ist nicht wichtig. Du hast mich aus einem anderen Grund gefunden. Du willst nicht mich erkennen, sondern dich selbst.” Ich blickte ihm zum ersten Mal richtig ins Gesicht und nickte.
„Wir haben aber sehr lange geschwiegen. Stunden, Tage, Jahre sind vergangen ohne Worte, ohne Sprache, ohne Leben. Du bist bereit, Vieles zu verändern, aber mir bleibt wenig Zeit.” – „Wie viel?”, fragte ich besorgt. – „Sieben Minuten.”
Ich wollte schreien, dagegen ankämpfen, verzweifeln, aber er unterbrach mich mit fester und sanfter Stimme zugleich. „Nütze Sie, erzähl’ mir dein Leben.”
Ich verlor meine Angst und begann zu sprechen, frei und sicher erzählte ich von meiner Kindheit, meinen Eltern und Großeltern, von ihren hilfreichen und ihren bedrückenden Lektionen und erst im Erzählen lernte ich zu unterscheiden welche zu welcher Kategorie gehörten. Ich erzählte von meiner Ausbildung, meinen Freunden, meinen Bekanntschaften, von einigen, mit denen ich nie Probleme hatte und von denen, die mir am meisten beigebracht haben. Es schien, als würde ich endlos reden.
Ich sprach von meinem Beruf und von meiner Gegenwart. Von den Erlebnissen, die mich am meisten berührt hatten, und von den bewegendsten Begegnungen. Von dem, was mich erfüllt, von meinen Ängsten und meiner Liebe.
Da merkte ich es. Ich hielt inne und stellte fest, dass die Zeit um war. Er ließ das Geld auf dem Tisch, stand auf und lächelte zum Abschied.
Es war ein erfüllendes Gefühl. Meine Hände waren trotz der grauen Wolken warm geworden; ich bezahlte und stand auf. Ich hatte noch niemandem mein Leben erzählt, nicht in sieben Minuten, nicht in vierzehn Jahren. Ich habe gelernt, dass sieben Minuten wertvoller sein können als viele Jahre, wenn man wissen will, was sein Leben wirklich ausmacht. Das nächste Mal werde ich der ältere Mann sein, der zum Abschied nur lächelt und weiß, dass seine Arbeit getan ist…
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