von Maike Küppers

Melanie zog den Reißverschluss ihrer Jacke hoch und trat aus dem Haus. Es war ein kalter, jedoch sonniger Novembertag. Die Bäume waren beinahe kahl, nur an manchen hingen noch vereinzelte Blätter. Ein eisiger Wind pfiff durch das Geäst.

Doch Melanie störte das nicht. Sie wollte allein sein, nachdenken. Langsam schlenderte sie los, die Hände tief in den Jackentaschen vergraben, den Blick auf den von Laub übersäten Boden gerichtet.

Er blickte hinter der alten Eiche hervor und sah, wie sie langsam über den Weg ging, Laub beiseite trat. Er musste lächeln. Seine Hand wanderte in seine Hosentasche und umfasste einen kleinen Gegenstand. Vorsichtig lief er ihr hinterher.

Melanie seufzte. Es waren nun mehrere Wochen vergangen, seit Leon sich von ihr getrennt hatte. „Für mich kann es so nicht weitergehen. Du engst mich ein, Melanie.” Sie konnte seine Worte immer noch in ihren Ohren widerhallen hören. Er war ihr Ein und Alles gewesen. Zwei Jahre hatten sie zusammen verbracht und sie hatten sich geliebt; sie liebte ihn immer noch. Mit der Trennung wurde ihr das Herz aus der Brust gerissen… der Schmerz war so unendlich groß…

Die Sonnenstrahlen kitzelten Melanies Nase, am Straßenrand kletterte ein Eichhörnchen flink an einem Baumstamm hinauf. Es war, als wollte die Natur ihr zeigen: „Hey, es ist doch alles gar nicht so schlimm. Lächle doch mal.” Melanie wollte nicht lächeln, sie war gar nicht fähig zu einem aufrichtigen Lächeln.

Er war nicht weit von ihr entfernt, wusste aber nicht, wie er vorgehen sollte, was er tun sollte. Was, wenn sie sich jetzt umdrehte und ihn sah? In dem Augenblick stolperte er und schnappte vor Schreck nach Luft.

Melanie drehte sich um. Sie war der Meinung, hinter sich etwas gehört zu haben. Aber da war niemand. Sie musste es sich wohl eingebildet haben. Schnell versank sie wieder in ihren Gedanken. Es war so überraschend gekommen. Sie hatten doch eine glückliche Zeit gehabt, oder? Sie konnte ihn nicht verstehen. Sie hatte nie ‚geklettet’ und sie hatten auch nie übermäßig viel Zeit miteinander verbracht. Und jetzt…

Er hatte Glück gehabt. In der letzten Sekunde war er hinter einem Baum verschwunden. Es war noch nicht an der Zeit. Er wusste nicht, was er dann tun oder sagen sollte… Er wäre mit der Plötzlichkeit der Situation überfordert. Er musste alles genau planen und überdenken…

Ihre Augen wurden feucht und eine einzelne Träne rann ihre Wange hinab, als sie daran dachte, was in den letzten Wochen alles geschehen war. Sie war Leon insgesamt sechs Mal über den Weg gelaufen. Jedes Mal mit einer Frau an seiner Seite. Stets war sie dann schnell aus seinem Blickfeld verschwunden, doch einmal war es ihr nicht gelungen. Ihre Blicke hatten sich getroffen und für einen Augenblick war scheinbar die Welt stehen geblieben. Dann hatte er traurig weggesehen.

Als Melanie nun das Dorf erreichte, rieb sie sich über die Augen und ging die Straßen etwas zügiger entlang, ließ ihre Augen über die Angebote in den kleinen, urigen Schaufenstern wandern. Nicht viele kamen hierher, um einzukaufen. Die meisten fuhren in die großen Städte in der Umgebung, aber trotzdem gaben die Ladenbesitzer nicht auf, sie machten immer weiter. Vielleicht sollte Melanie sich an ihnen ein Beispiel nehmen. Das Leben ging weiter.

Sie sieht zerbrechlich aus, dachte er und strich sich eine schwarze Haarsträhne aus der Stirn. Sehnsüchtig musterte er ihre zierliche Figur, ihr gewelltes blondes Haar. Er spürte einen Stich im Herzen, als er im Schaufenster ihr blasses und ausgemergeltes Gesicht sah. Der Blick ihrer Augen müde und stumpf. Er beobachtete sie nun schon länger, folgte ihr. Er wusste nicht, wie er auf sie zugehen sollte. Sie schien so unendlich entfernt und war eindeutig zu perfekt für ihn. Er verdiente sie nicht, aber er wollte nicht ohne sie sein. Sein Atem wurde schneller. Er konnte nicht länger ohne sie sein. Es gab niemand anderen für ihn. Er beschleunigte seine Schritte und überquerte die Straße. Näherte sich ihr… Noch fünf Meter, noch zwei, noch einer…

Melanie hörte schnelle Schritte auf dem Gehsteig und drehte den Kopf zur Seite, um zu sehen, wer es denn so eilig hatte, und erschrak, als sie den Mann sah, der genau auf sie zuhielt. Ihr Atem stockte.

Er ging zielstrebig auf sie zu, sie sah ihn nun an. Er wurde langsamer, kam vor ihr zum Stehen und holte tief Luft. Was sollte er nun sagen? Wo sollte er beginnen? Er streckte die Hand nach ihr aus.

 

Melanies Herz zersprang beinah in ihrer Brust, während sie zu Leon hinaufblickte. „Melanieschatz”, flüsterte er und griff ihre Hand, in der anderen Hand hielt er die Kette, die sie ihm einmal geschenkt hatte. „Ich habe einen Fehler gemacht…” Er hielt inne und blickte ihr dann tief in die Augen. Ein Schauer lief über ihren Rücken. Sie fühlte, dass seine Hände schwitzten. Er war wohl sehr nervös. „Melanie, es war dumm von mir. Ich wollte mehr erleben, wollte freier sein. Ich habe mich mit anderen getroffen, aber da war nichts. Nie etwas. Ich war lediglich mit ihnen unterwegs, aber sie haben mich gelangweilt. Sie waren alle so… anders. Anders als du.” Er lächelte. „Ich bin ein Idiot. Ich habe dich nicht betrogen. Mir ist bewusst geworden, dass du die Einzige für mich bist. Ich möchte mein Leben mit dir verbringen. Verzeih mir. Ich weiß, wie sehr du gelitten hast. Ich hätte das nicht tun dürfen. Es war der größte Fehler meines Lebens.” Er sprach so schnell, dass er fast ins Stottern geriet. Melanie musste schmunzeln, wich seinem Blick aus, damit er es nicht merkte. Er missverstand diese Geste. „Ich… Ich weiß, es ist schwer… Aber ich kann nicht ohne dich sein, ich will nicht ohne dich sein. Natürlich verstehe ich, wenn du ablehnst. Das ist nur verständlich… Ich werde dich auch sofort in Frieden lassen. Aber eins möchte ich noch sagen: Ich liebe dich, Melanie!” Er ließ ihre Hand los, doch im selben Moment blickte Melanie auf. Tränen standen in ihren Augen, aber sie lächelte. Sie schloss die Arme um Leon, spürte seine Wärme und wusste nicht, ob sie laut lachen, schreien oder tanzen sollte. Er erwiderte ihre Umarmung fest. Er wollte sie nie wieder loslassen. Sie spürte seinen Atem an ihrem Hals, ihre Nackenhärchen stellten sich auf und sie seufzte wohlig.

Melanie blickte in das Schaufenster neben sich. Es war das siebte Mal, dass sie Leon mit einer Frau an seiner Seite sah, doch diese würde erstmal nicht mehr durch eine andere ersetzt werden.


  1. Isabell

    Die Geschichte ist sehr gut geschrieben! Toll! Wenn das mal nicht eine zukünftige Schriftstellerin ist 🙂



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