von Markus Hofmann

„Verdammt, schon wieder der Siebte, der 7. Mai! “, denkt er, brüht sich einen Kamillentee und verbrennt seine Lippe beim zu hastigen Trinken. Herzhaft warmes Lachen. So wärmend, dass der an der Wand hängende Topflappen fast vom Haken gerissen wird. Langsam schwillt seine Lippe an. Sie erinnert ihn an Spritzgebäck und an ihre Lippe. Süß und Dick. An dieses lallende Mädchen mit den dunklen Haaren und an alles in der Vergangenheit gewesene. Nur weil es war ist das Gefühl nicht vergangen – doch der Name fehlt.
Während er ständig über die Gegenwart nachdenkt und über alles im Moment vergangene, lebt sie im Jetzt.
Schon von je her war sein Leben von ständig wechselnden und fliegenden Episodengeschichten geprägt. Schnelle Enden, mühselig überzeugende Handlungen, schlecht zu erfassen. Wie dieses Wimmern, das ihn in dieser sommerlich warmen Nacht, dem 7. August, seinem siebten Geburtstag weckte. Die Katze einen Monat zuvor eingeschläfert konnte es nicht sein und so machte er sich auf die Fährte und stieß die Küchentür auf.
Sein Vater, weinend auf dem Boden, kauernd mit ihrer Bluse in den Händen – die Bluse seiner Frau. Die Erinnerung ist schwammig, aber der Moment brannte sich in sein Gedächtnis, wie der Sonnenbrand in seinem Nacken, vom gestrigen Schaukeln auf dem Spielplatz.
Sein Vater nur im Unterhemd, grub seine schwielenübersäten Hände in den rauen Stoff. „Was soll ich nur machen, sie ist weg…”, fragte er und richtete seinen Blick auf den gerade ein Meter Sieben großen Jungen – „Mal ihr ein Bild!”, stammelte er, während er dieses Häufchen Elend vor sich leise Papa nannte – nächstes Bild: fliegende Zahnbürste.
Er steht in voller Blüte, ist noch jung und doch schon abgestumpft – abgestumpft. So wie diese Abstumpfen, das nach Krankenhaus klingt, nach ungewaschenen Siebziger, nach Krücken, nach frisch rasierten Leibern, verkrusteten Ohren, nach schlaffen Pobacken und voll gesogenen Windeln.
Sie hingegen kennt nur ihr daheim. Das bestrafende, lobende in einem Atemzug. Lyrikbände zum Geburtstag, in denen sie stundenlang schmökert, darin versinkt und zwischen all den Metaphern und Alliterationen stecken bleibt. Ihre Nanny riecht nach Mama und die nach Rouge und Lippenstift riechende Duftspur kreuzt kein Fremder. Sie bekommt die weißen Schleifen ihrer Turnschuhe gebunden, ihre Haare geflochten, die Wassertröpfchen von ihrem Sommerkleid gepustet.
Ihr Gespür ist wie ein stumpf geschnittenes Messer, was versucht tief in die Hartwurst vor ihr einzudringen. Dabei schneidet sie sich manchmal selber in den Daumen oder den Zeigefinger. Kindheitserinnerungen gibt es bei ihr kaum. Ihren gesenkten Kopf, wild gestikulierende Menschen, suchen nach dem Löwen, gerade aus dem Playmobilzoo ausgebrochen.
Dieses Mädchen macht ihn schwindelig und sein Herz rast förmlich und die Liebe keimt in ihm auf!
Wie kommt es dazu, dass er sich an den Geschmack des Cuba Libre und an die fehlende Kohlensäure in ihrem Wasser und die sieben Eiswürfel, die viel zu schnell schmolzen, die sieben Zigarillos, die schon bevor sie angezündet wurden rauchig verbrannt rochen und an ihre feinen Mädchenhände und an das überhörbare Tickern der Wanduhr, die schief an der gepunkteten Tapete hing, erinnern kann.
Dieses Gefühl macht taumelig und strömt durch seinen Körper. Warum saßen sie sich gegenüber und hatten das Gefühl, dass die Zeit ein Schnellzug wäre, ein monströses Ding, welches sich bedacht in Bewegung setzt und später nicht mehr zu bremsen ist.
Sie sang dieses dumme Lied und entschuldigte sich zwischendrin mit gedämpfter Stimme. Genau eine Minute und sieben Sekunden zählte er. Genau Sieben verschiedene Tonlagen nahm er wahr. Genau Sieben mal musste er zaghaft lächeln, mit der Angst abgeführt zu werden, weil er Gefühl zeigte. Genau nach sieben Herzschlägen waren seine Beine schwer und wie
Gummi. Es war ihre Schuld, weil sie ihn verliebt gemacht hatte.
Das Pfefferminzbonbon in seinem Mund wurde einfach nicht kleiner, auch nicht knapper, auch als er es zerbissen hatte und Teile herunterschluckte. Jede neu angebrochene Minute wird er von ihren Gedanken angezogen, wie ein Nachtschwärmer, der nicht anders kann, als immer wieder mit dem Körper gegen die Lampe zu dotzen, um am Ende zu verbrennen – so wie er, an der Liebe zu ihr.


  1. manuel bauer

    wunderbar erfrischend-anderst!
    wunderbar nachdenklich-rätselhaft!
    wunderbar seltsam.

  2. dascha s.

    strange”
    habe mich echt erst gefragt ob das ein Witz sein soll.
    Ich fragte mich wirklich für was das ganze, warum, weshalb, was ist das?
    Doch ich glaube, dass in jedem selbst die Antwort zu finden ist!

    Ich mag diesen Text! Man schließt ihn in sein Herz!



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