von Jenny Jacoby
Ein bleierner Dunstschleier verfinstert die Stadt. Dröhnende Motorengeräusche, hektisches Stimmengewirr und der Lärm des anliegenden Flughafens übertönen das unregelmäßige, aufgeregte Pochen seines Herzens. Die schwüle, schadstoffschwangere Luft umnebelt seine Sinne und erschwert ihm das Luftholen.
Scheinbar ziellos irrt er durch die eng bebauten Gassen, gesäumt von den mit blauem Dunst umgebenen Bürogebäuden und den aus dem Boden emporsprießenden, gigantischen Einkaufszentren. Noch genau eine Woche. So undenkbar kurz. Das Chaos der Stadt scheint seine Gedanken zu verschlingen, die konzentrisch immer nur um diese eine Sache kreisen.
Warum kann er nicht schreiben? Was blockiert ihn, seine Schöpferkraft?
Etwas wehmütig denkt er zurück an die Zeit, als die Wörter, wie von selbst aus seinem Stift flossen und auf dem Papier die kunstvollsten Gebilde hinterließen. Nie hätte er damit gerechnet, dass diese Fähigkeit seines Geistes sich einst im Irrgarten seiner Selbst verliert oder gar ganz entschwindet. Gerade jetzt, wo ihm nur eine einzige Woche Zeit bleibt, scheint seine Gabe verloren gegangen zu sein.
Es ist, als hätte er sich in sich selbst verlaufen, hilfesuchend und sich sehnend nach Form, nach Zusammenhang, nach Einheit.
Das synthetische Licht der angehenden Straßenlaternen, die am Rande des Weges warnend emporragen, reißt ihn für einen Moment aus dem Fluss seiner Gedanken. Geblendet von dem grellen Licht, reibt er seine schmerzenden Augen, die sich nur allmählich daran gewöhnen können.
Sein Blick wandert die grauen Hausfassaden entlang, hinauf zum Himmelsgewölbe. Er hält einen Moment inne und blickt angestrengt nach oben.
Die blauen, drohenden Dunstwolken, die über der Stadt liegen, versperren ihm die Sicht und er kann das sich über den Horizont wölbende Firmament nur bruchstückhaft erahnen. Nicht ohne eine Spur von Nostalgie erinnert er sich an seine Kindheit, in der er oft stundenlang in dem Garten seiner Großeltern lag und voller Faszination den Himmel beobachtete. Manchmal formten die vorbeiziehenden Wolken sich zu den groteskesten Figuren, die auf ihn hinab zu blicken schienen.
An den Garten seiner Großeltern grenzte ein Bach, in dem er in den heißen Sommermonaten immer gespielt hat. Als wäre es gestern gewesen, erinnert er sich an das eiskalte Wasser, das seine Knöchel herausfordernd umspielte. Wasser. Wann war er das letzte Mal in einem See schwimmen? Oder hat das letzte Mal einen wilden, reißenden Fluss beobachtet, wie er sich seine Bahnen eigenwillig durch die Landschaft erkämpfte?
Unfähig seine eigene Frage zu beantworten, schweifen seine Gedanken unwillkürlich zu dem Wasserkraftwerk, das er zu Schulzeiten besichtigt hat. Durch riesige Turbinen und Generatoren wird die Energie des abfließenden Wassers für den Menschen nutzbar gemacht. Die natürlichen Vorkommnisse werden auf effektive Weise gebraucht. Ein Satz, den der Mitarbeiter des Wasserkraftwerks, der seine Klasse herumführte, immer wieder aufs Neue anbringen konnte.
Irritiert sieht er sich um. Wie lang mag er wohl gegangen sein? Die Lichter der Stadt liegen längst hinter ihm und das betäubende Getöse ist nur noch in weiter Entfernung zu vernehmen.
Nicht mehr die künstlichen Lichter der Stadt erhellen nun seinen Weg, sondern der Mond, der kugelrund und gesättigt auf ihn hinabscheint.
Auch ein Stern blitzt ihm vom Himmelszelt entgegen. Bewegt er sich etwa? Nein. Unmöglich. Es ist nur ein Flugzeug. Täuschend ähnlich. Wie ein Vogel hat es seine stählernen Flügel über die Erde erhoben, um die Menschen von Ort zu Ort transportieren zu können. Die natürlichen Vorkommnisse werden auf effektive Weise gebraucht.
Augenblicklich kommen verunsichernde Fragen in ihm auf. Er sieht sich um und fragt sich, ob das alles gut ist? …füllet die Erde und machet sie euch untertan…
Erschöpft von seinem langen Weg und seinen ihn durchdringenden Gedanken, lässt er sich auf dem Boden nieder, bedeckt von frisch gesätem Gras.
Er sieht dabei zu, wie der Himmel heller und heller wird und wie die ersten Sonnenstrahlen die Tautröpfchen an den Grashalmen zum Glitzern bringen. Er lauscht dem Zwitschern der Vögel, dem Rauschen des Baches und erstmals durchdringt ihn der Gedanke, dass er ein Teil von allem ist. Er kommt zur Ruhe, zum Menschen, zu sich selbst…
Im Anfang, im Anfang, da war das Wort.
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