von Annette Eckenstein

Joshua saß auf der Schaukel neben ihr, als ihre Eltern sich trennten, bis sie mit einem Lächeln sagte, wenn er nicht gleich nach Hause ginge, habe er die nächsten Tage Hausarrest und dann könne er die Zeit nicht neben ihr auf der Schaukel verbringen; dieses Lächeln gab ihm die Gewissheit, sie ohne Sorgen zurücklassen zu können.

Als sie im ersten Studienjahr eines Abends aufwachte, nachdem sie wieder erschöpft von der Suche nach einer Arbeitsstelle über der Zeitung eingeschlafen war, stand er, sich an den Tisch lehnend, bei ihr; jeder Versuch ihrerseits, ein Wort zu sprechen, zerfloss in Tränen. Zwei Tage später hatte sie ein erfolgreiches Bewerbungsgespräch, als sie jedoch in ihre Wohnung kam, um ihm sogleich davon zu erzählen, fand sie nur noch eine Tafel Schokolade, auf der ein Smiley gezeichnet war.

Das Flugzeug landete sanft und sie war froh, eine Gegend zu sehen, die sie kannte. Glücklich konnte sie jedoch nicht sein; sie hatte wenige Jahre in der Ferne mit jemandem verbracht, der ihr kurzzeitig viel bedeutet hatte, der Vater ihres Kindes. Mit diesen Gefühlen brachte sie der einzige Mensch, der sie noch nie enttäuscht hatte, ins neue Haus, half ihr beim Einräumen und Herrichten, bekochte sie und verließ sie nicht, ehe sie anfing zu essen.

Als das Zugunglück geschah, war sie mit dem Auto zur Arbeit unterwegs. Sie war gerade im Begriff sich an ihren Schreibtisch in dem kleinen Grossraumbüro zu setzen, da bekam sie mit, worüber der Nachrichtensprecher berichtete, und sogleich stand sie wieder aufrecht; sie wollte selbst zur Unfallstelle fahren. Als sie die Ausgangstür erreichte, trat Joshua ein; wäre er nicht aufgetaucht, hätten an jenem verregneten Tag nicht nur ihre Tochter und zahlreiche Fahrgäste das Leben verloren. Viele Monate fuhr er sie, wenn sie zu schwach war, um selbst zu fahren, und zu traumatisiert, um den öffentlichen Verkehr zu benutzen.

Still lag sie auf der Liege im Garten vor der Klinik. In ihrem Kopf herrschte ein Durcheinander, das so verworren war, dass sie aufgegeben hatte, es zu entwirren und aus ihren Gliedern war jegliche Kraft entschwunden, es reichte nicht einmal mehr, um seine Hand zu drücken. Dies nahm er aber nicht wahr, denn für ihn war es keine Last, die ihrige zu halten. Jeden Tag mit ihm schöpfte sie neue Kraft; mit dem ersten Schnee kamen längere Spaziergänge und je länger diese wurden, desto schneller verlief ihre Genesung. Als sie mit Koffer und Tasche aus der Tür treten durfte, wartete ein Taxi auf sie; seinen Wagen sah sie noch in der Weite und mit einem Gefühl der Ausgeglichenheit stieg sie ein.

Ein großes Fest für Verwandte und Bekannte hätte es werden sollen. Die meisten Gäste blieben dann auch; doch die farbigen Blumen, die den Saal schmücken sollten, waren durch weiße ersetzt worden. Nachdem sie bereits eine halbe Stunde an der Straße vor ihrem Haus gestanden hatte, auf den Bus wartend, in dem ihre engsten Familienmitglieder gesessen hatten, wollte sie ihren Vater anrufen, ihr Handy war aber auf dem Esstisch liegen geblieben. Bevor sie ins Haus treten konnte, fuhr ein Wagen vor, hielt auf ihrem Parkplatz, den sie nicht benützte, und Joshua stieg aus. Während des ersten Monats aß sie kaum, sagte wenig und ging selten hinaus. Meist verbarg sie sich in ihrem großem Sessel; den zweiten Monat stürzte sie sich in die Arbeit, doch jede Nacht suchte sie an seiner Schulter Halt. Über zwei Monate später wurde ihr Parkplatz wieder verlassen.

Ihr Bett war nicht besonders groß, es hatte ziemlich genau für zwei Personen Platz und Joshua musste sich an die Wand lehnen, damit es lange genug war. Sie fühlte sich wie als Kind mit ihm zusammen auf der Schaukel, sicher durch seine Anwesenheit und seine Nähe. Von Bildern, Gesichtern, Stimmen, Geräuschen und Gefühlen, aus denen ihr Leben zusammengesetzt war, sprach sie und davon, dass sie immer noch einen Augenblick innehielt, bevor sie in ein Verkehrsmittel stieg. Manchmal legte er seine Hand auf ihre Schultern oder ihren Kopf, oder nahm sie in den Arm, weil sie wieder weinte, doch ab und zu sah er sie lächeln. Im Baum vor dem Fenster sangen bereits die ersten Vögel, als sie ihren Kopf sanft in ihr Kissen drückte und die Augen schloss. Er legte sich hin, mit dem Gesicht zu ihr, um ihres zu betrachten. Die letzten Jahre wird er ihr nie mehr den Rücken kehren.


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